14.07.1995

Digitale Trickfilme sollen Richter in den USA überzeugen

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Digitale Trickfilme sollen Richter in den USA überzeugen

MIT Macht sind die Computerbilder in die Gerichtssäle der USA eingezogen. Strafverteidiger und Staatsanwälte begnügen sich nicht mehr mit Reden, um die Geschworenen zu überzeugen, zu rühren oder zu betören: sie führen ihnen mit Computertechnik hergestellte Trickfilme vor. Unfälle, Überfälle, Morde – worum es auch gehen mag, das neue Mittel macht Furore. Amerika ist im Begriff, eine Bildschirmjustiz zu erfinden, bei der Unschuldige und Schuldverdächtige einander mit Megabytes und graphischer Software zu Leibe rücken.

Von YVES EUDES *

Das Flugzeug setzt zum Abflug an. Alles ist normal, die Besatzung tauscht routinemäßige Informationen mit dem Kontrollturm aus. Doch kaum hat die Maschine abgehoben, neigt sie sich zur Seite und dreht in Schräglage nach links ab. Der Pilot ruft um Hilfe. Mit neutraler Stimme gibt der Flugleiter ihm Instruktionen, aber an Bord bricht Panik aus. Die Maschine verliert an Höhe und rast auf den Boden zu. Ein letzter Schrei des Piloten, furchtbares Getöse, dann nichts mehr... Dies sind keine Ausschnitte aus einem Katastrophenfilm, sondern ist ein Computertrickfilm, der 1993 während einer Gerichtsverhandlung im Bundesstaat New York vorgeführt wurde, wo die Familie des Piloten gegen den Flugzeughersteller prozessierte. Die Bilder enthielten nichts Neues, sie waren lediglich dazu bestimmt, die Prozeßbeteiligten in die dramatische Stimmung des Unglücks zu versetzen. Für den Ton hatte der Filmemacher die Aufzeichnung der Funkgespräche zwischen Maschine und Tower benutzt. In diesem Fall entschied der Richter, daß die Vermischung künstlicher Bilder und authentischer Tondokumente die Geschworenen verwirren könnte. Also ließ er die Vorführung zu, aber unter Weglassung des Tons: eine halbherzige Maßnahme, an der die Verunsicherung deutlich wird, mit der die Juristen auf den stürmischen Einzug der neuen Technologien reagieren.

„TV-Anklage“

DIE wn2Ausstattung amerikanischer Gerichtssäle mit audiovisuellem Gerät ist nicht neu. Doch in jüngster Zeit hat diese Technik ein Ausmaß angenommen, das die Funktionsweise der Rechtsprechung verändert. So werden beispielsweise zahlreiche Prozesse von Anfang bis Ende gefilmt, teils von Fernsehsendern1, teils auf Anordnung der Gerichte, die diese Art der Archivierung für zuverlässiger halten als schriftliche Protokolle. Darüber hinaus akzeptieren die Richter inzwischen vor Prozeßbeginn gefilmte Aussagen und Zeugeneinlassungen (was Gegenüberstellungen und Zusatzbefragungen ausschließt). Auch TV-Schaltkonferenzen sind gang und gäbe: 32 Bundesstaaten lassen zu, daß Zeugen oder Sachverständige sich von einer anderen Stadt aus über Kamera und Mikrophon direkt an das tagende Gericht wenden. Manche Staaten, namentlich Texas und Florida, praktizieren sogar die „TV-Anklage“: Dank eines internen Schaltsystems, das Gericht und Gefängnis verbindet, bekommen festgenommene Personen die Anordnung ihrer Untersuchungshaft in die Zelle eingespielt, das heißt ohne direkten Kontakt zum Richter oder zu einem Anwalt ihrer Wahl.

Daß nun vor Gericht auch Trickfilme auftauchen, scheint also einer ganz natürlichen Entwicklung zu entsprechen. Und doch ist dadurch eine entscheidende Schwelle überschritten worden: Es handelt sich nicht mehr um gefilmte Wirklichkeit, sondern um fiktive Inszenierungen, die sich auf ungewisse Zeugenaussagen, Expertengutachten und auf datentechnische Schlußfolgerungen stützen. Die mit Software hergestellten Bilderserien wurden erstmals vor etwa 15 Jahren in Zivilprozessen eingesetzt, bei denen nach amerikanischem Recht der Urteilsspruch – genau wie in der Strafjustiz – von einer Jury aus Volksvertretern gefällt wird. Die Geschworenen müssen sich also in Akten mit höchst komplizierter Materie einarbeiten: Beschädigung von Kunstwerken, Fabrikationsfehler an Industrieprodukten, Luftfahrtkatastrophen etc. In Fällen, bei denen es um große Summen ging, haben Kläger und Beklagte darum die Gewohnheit angenommen, ihre Erklärungen in Form von Zeichnungen, später von Zeichentrickfilmen abzugeben, die für Nichtfachleute leichter verständlich sind.

Nun erlebt die digitale Bilderwelt, am Schnittpunkt von Kunst und Technologie, seit einigen Jahren eine Explosion ohnegleichen. Computerspezialisten und Graphiker sind mittlerweile in der Lage, hochwertige Zeichentrickfilme herzustellen, die jedes beliebige Szenario vollkommen realistisch wiedergeben. Solche Produktionen sind weiterhin teuer (zwischen 10 000 und 200 000 Dollar), aber heute für manche Angeklagte bezahlbar. Zunächst wurden sie im Zusammenhang mit Verkehrsunfällen eingesetzt oder um Schlüsse von Gerichtsmedizinern verständlich zu machen. Doch Verteidiger und Staatsanwälte begriffen rasch, welchen Vorteil sie aus diesem neuen Mittel ziehen konnten, nicht mehr zu didaktischen Zwecken, sondern um unbewiesene Hypothesen darzulegen. Die Zeichentrickfilme sind regelrechte Plädoyers in Bildersprache, die Gefühl und Phantasie anregen. Die Personendarstellung wird bewußt rudimentär gehalten, aber die Umgebungen, die Gegenstände, die Fahrzeuge sind absolut realistisch. Vor allem die Perfektion der Bewegungen und Perspektiven läßt das Ganze täuschend wirklich erscheinen. Man kann ein und dieselbe Szene, so oft man will, unter jedem Blickwinkel betrachten, aus der Ferne, in Großaufnahme oder aus subjektiver Sicht.

Die Richter versuchen vorsichtig zu bleiben, doch insgesamt lassen sie sich von der Welle mitreißen. Ihnen kommt es im wesentlichen darauf an, daß sich die Geschworenen des Unterschieds zwischen „Rekonstruktion eines erwiesenen Sachverhalts“ und „Illustrationen einer Hypothese“ bewußt sind und daß die Gestalter der Filme ihre Arbeitsmethoden im Detail erklären. An Problemen allerdings fehlt es nicht. So etwa 1992 in Kalifornien, als die Gerichtstrickfilme im Prozeß gegen Jim Mitchell, den „Pornokönig“ von San Francisco, der unter Anklage stand, seinen Bruder umgebracht zu haben, erstmals in einer Strafsache auftauchten. Der Staatsanwalt ließ mit Hilfe eines Ballistikexperten einen Computerfilm realisieren, der Mitchells Schuld zu beweisen schien, woraufhin dieser verurteilt wurde. In der Revision stellte sich heraus, daß das Drehbuch auf der Grundlage falscher Zeugenaussagen entstanden war. Diese unglückselige Erfahrung hat die Zeichentrickfilme nicht daran gehindert, in den Gerichtssälen Fuß zu fassen. Noch im selben Jahr traten in dem Prozeß gegen James Hood, wo es um komplizierte Fragen von Rache und Notwehr ging, Verteidiger und Staatsanwälte mit Computerbildern gegeneinander an, indem sie den Geschworenen verschiedene Versionen einer Schießerei vorführten.

Der Markt juristischer Zeichentrickfilme expandiert heftig. Es gibt bereits ein ganzes Dutzend Unternehmen, die sich auf solche Erzeugnisse spezialisiert haben und aktive Werbung in Anwaltskanzleien und Staatsanwaltsbüros des ganzen Landes treiben. Die mächtige Anwaltsvereinigung American Bar Association (ABA) hat ihrerseits beschlossen, das Phänomen zu unterstützen. Roberta Raino, die Präsidentin von ABA, meldet sich regelmäßig in den Medien zu Wort, um ihren Kollegen die Verwendung von Zeichentrickfilmen zu empfehlen. Die anderen juristischen Berufe stehen dem nicht nach.2

Tatsächlich scheint sich der ganze Justizapparat auf das Spiel einzulassen. So haben zum Beispiel sämtliche Strafjustizbehörden des Staates New York ein digitales Bild in ihren Karteien. Der orthodoxe Rabbi Schlomo Helbrans, der wegen Kindesentführung in Haft einsaß, hatte gleichwohl seinen religiösen Prinzipien treu bleiben wollen. So weigerte er sich, sich den Bart und die Haare abschneiden zu lassen. Nun verlangen die Behörden aber, daß jeder Häftling mit bartlosem Gesicht und kurzen Haaren fotografiert wird. Nach einigem Hin und Her erklärten die Behörden ihr Einverständnis, daß von Spezialisten ein virtuelles Bild angefertigt wurde, welches den Rabbi – auf der Grundlage einer Fotoaufnahme seines bärtigen Gesichts und mit Hilfe von Messungen der Kopfform – ohne Bart und ohne Locken zeigt.

Doch der Hauptmotor dieser Entwicklung ist zweifellos das Fernsehen. Die Sender, die die großen Prozesse übertragen, sind ganz erpicht auf Zeichentrickfilme, weil diese einen besonderen Reiz haben und die dramatische Intensität des Prozeßgeschehens steigern. Das breite Publikum hat sich ihnen endgültig verschrieben, nachdem im Januar letzten Jahres Canal TV die Verhandlung gegen einen Mann namens Lucas wiedergab. Lucas war angeklagt, seine Mutter eine Treppe hinuntergestoßen und sie dadurch getötet zu haben. Durch einen Zeichentrickfilm hatte er den „Beweis“ dafür beigebracht, daß es sich in Wirklichkeit um einen Unfall handelte. Ruhmsüchtige Anwälte und Richter wissen sehr wohl, daß ihr Prozeß bessere Chancen auf eine Fernsehübertragung hat, wenn Trickfilme gezeigt werden.

Entschließen sich weder die Verteidigung noch die Anklagebehörde, Computerillustrationen in Auftrag zu geben, kann das Fernsehen solche selber anfertigen lassen. So war es im Fall O. J. Simpson: Der Sender Fox ließ einen Film realisieren, in dem jede Sekunde des Doppelmordes an Nicole Simpson und Ronald Goldman rekonstruiert wurde. Der Mörder hat kein richtiges Gesicht, aber das Szenario ist wie geschaffen, den einstigen Star indirekt zu belasten. Fox hat zwar nur drei Minuten ausgestrahlt, aber das ganze Dokument ist eine halbe Stunde lang und vor Gericht benutzbar. Die Staatsanwälte haben zwar bekundet, sie bräuchten ihn nicht, um den Angeklagten zu verurteilen, dennoch könnten diese Bilder irgendwann einmal in der Verhandlung auftauchen. Für alle Fälle hat der Vorsitzende Richter schon einmal 200 000 Dollar springen lassen und den Sitzungssaal mit einem ultraperfektionierten Multimedia- System ausgerüstet.

In Amerika scheint die digitale Bilderwelt bereits in die juristischen Gepflogenheiten aufgenommen zu sein, und angesichts der rasenden Geschwindigkeit des technischen Fortschritts kann man sich alle möglichen Entwicklungen vorstellen. Die Computerspezialisten sehen voraus, daß die Herstellungskosten für Zeichentrickfilme beständig sinken werden, und manche träumen schon vom Jahr 2000, wenn sie ihren Kunden für ein paar hundert Dollar Spezialeffekte mit der Qualität von „Jurassic Park“ werden anbieten können. In der Zwischenzeit kämpfen Juristen für die Schaffung eines finanziellen Beihilfesystems, das den weniger betuchten Angeklagten die Möglichkeit gäbe, sich eine digitale Bildbearbeitung zu leisten, um mit gleichen Waffen gegen den Staatsanwalt antreten zu können. Die führenden Köpfe der American Bar Association gehen noch weiter: Sie erwägen sogar die Möglichkeit, in den Gerichtssälen die technischen Voraussetzungen für virtual reality zu schaffen. Die Geschworenen wären mit Bildschirmhelmen auf dem Kopf, Sensoren und digitalen Handschuhen im Zentrum des Geschehens: auf dem Pilotensitz im Augenblick des Absturzes oder mitten in einer Schießerei. Wenn sie damit nicht souverän umgeht, droht die Justiz des 20. Jahrhunderts eine lustige zu werden.

dt. Grete Osterwald

1 Vgl. Yves Eudes, „États-Unis: un nouveau spectacle, les procès télévisés“, Le Monde diplomatique, August 1992

2 ABA besitzt in Chicago ein eigenes Datenverarbeitungszentrum, das „Legal Technology Resource Center“, zur Ausbildung von Anwälten, die sich mit den neuen Techniken vertraut machen möchten. Staatsanwälte und Richter werden von universitätsnahen Organisationen geschult; die bekannteste ist das „National Center for State Courts“ in Williamsburg, Virginia

* Journalist

Le Monde diplomatique vom 14.07.1995, von Yves Eudes