14.07.1995

Gewalttätiges Amerika

zurück

Gewalttätiges Amerika

AUF dem ganzen amerikanischen Kontinent ist die Gewalt zu einem dramatischen Problem geworden. Ihre Opfer sind in erster Linie Kinder und Jugendliche, vor allem aus den ärmsten und am stärksten benachteiligten Schichten. Die Ursachen für dieses Phänomen wechseln von Norden nach Süden der Hemisphäre: Kriege, politische Konflikte, Wirtschaftskrisen, Elend. In einigen Ländern – namentlich in Kolumbien – hängen diese Faktoren mit der Verfestigung einer eng mit dem Drogenhandel verflochtenen Machtstruktur zusammen, die eine Schwächung des Justizapparats, einen Verfall der Werte und Korruption auf allen Ebenen der Gesellschaft zur Folge hat.1

In den Vereinigten Staaten gehört die unkomplizierte Waffenbeschaffung zu den ausschlaggebenden Faktoren der Gewalt.2 Eine Untersuchung von 1990 hat ergeben, daß im Monat der Befragung 650 000 Schüler der höheren Schulen einen Revolver bei sich trugen, und man schätzt, daß jedes Jahr 600 000 Personen dem Gebrauch von Schußwaffen zum Opfer fallen.3

Auch die großen audiovisuellen Medien tragen insofern ihren Teil Verantwortung, als sie den Kindern Beispiele der Gewalt vor Augen führen, die ihnen selbst gar nicht in den Sinn gekommen wären. Kürzlich wurde in Detroit der junge Jacob González wegen gemeinschaftlichen Mordes an Elisabeth Alvárez verurteilt: Die schwangere Frau, eine Mutter von drei Kindern, hatte sich geweigert, dem zehnjährigen Knirps und seinem vierzehnjährigen Komplizen ihr Geld herauszugeben. Dazu vernommen, sagte Jacob: „Das war ein Spiel, wir wollten die Frau nicht töten...“4

Morde sind die extremste Äußerung der Gewalt. Ihre Zahl nimmt rapide zu. In Kolumbien beispielsweise ist die Rate derartiger Todesfälle von 22 pro 100 000 Einwohner im Jahre 1970 auf 73 pro 100 000 Einwohner 1990 gestiegen. Buenos Aires weist bei den von Jugendlichen begangenen Verbrechen einen Zuwachs von 114 Prozent zwischen 1980 und 1985 auf. In Rio de Janeiro wurden 1990 doppelt so viele Menschen umgebracht (6 011), wie es Verkehrstote gab (3 391). In den USA sind zwischen 1970 und 1991 fast 50 000 Kinder durch Schußwaffen getötet worden; das entspricht ungefähr der Zahl der im Vietnamkrieg gefallenen Amerikaner. Auch die Täter sind zunehmend Jugendliche. In Baltimore etwa entfielen 1993 die Hälfte aller Festnahmen wegen Mordverdachts sowie 40 Prozent der Opfer auf die Altersgruppe zwischen 13 und 24 Jahren. Eine Tendenz, die Marion Wright Edelman, Präsidentin des Children's Defense Fund, kürzlich auf die Formel brachte: „Das Drama der Kinder, die Kinder bekommen, ist durch das der Kinder, die Kinder töten, verdrängt worden.“5

Die „Straßenkinder“, besonders zahlreich in Brasilien, Kolumbien, Venezuela und Guatemala, sind Opfer einer „gesellschaftlichen Säuberung“ durch Todesschwadrone. Diese „Selbstjustiz“ ist die Antwort von Bürgergruppen (vor allem von Geschäftsleuten, die Todesschwadrone ausschicken) auf die Unfähigkeit von Polizei und Justiz, die Kriminalität der Kinder und Jugendlichen in den Griff zu bekommen. Genau wie in Brasilien oder in Kolumbien werden auch in Guatemala die Erzieher zu indirekten Opfern der Morde an Kindern: Auch sie geraten in die Schußlinie der Sicherheitskräfte, weil sie – mit Beweisen in der Hand – das ungesetzliche Vorgehen der Polizei gegen ihre Schützlinge an die Öffentlichkeit bringen.6

Auch für die politische Gewalt zahlen die Kinder einen hohen Tribut. In den Jahren der argentinischen Militärdiktatur (1973–1983) haben 8 000 Kinder einen oder beide Elternteile verloren, 400 sind „verschwunden“. In den drei Jahrzehnten Krieg, die Guatemala verheert haben, wurden Schätzungen zufolge zwischen 100 000 und 250 000 Kinder zu Halb- oder Vollwaisen.

Die mit den Problemen jugendlicher Gewalt konfrontierten Behörden wenden dreierlei Strategien an: repressive, paternalistische und solche, die auf aktiver Partizipation beruhen. Das repressive Vorgehen bekämpft, besonders bei der Anwendung neuer Strafmechanismen und der Verlängerung der Haftdauer, die Symptome, nicht aber die Ursachen. Im paternalistischen Modell werden die jungen Leute aufgefordert, an Programmen teilzunehmen, deren Ziele, Ausmaße und Modalitäten von Behörden oder regierungsunabhängigen Institutionen definiert worden sind. Die Erfahrung zeigt indes, daß die Jugendlichen sich kaum mit Programmen identifizieren, an deren Konzeption sie nicht aktiv beteiligt worden sind, oder daß sie sich für das, was sie tun, dann nicht verantwortlich fühlen.

Die Strategie der Partizipation beruht auf der kontinuierlichen Mitarbeit der Betroffenen an der Entwicklung eines gemeinsamen Programms. In Cali (Kolumbien) beispielsweise wurde im Mai 1993 ein „Pakt der gesellschaftlichen Koexistenz“ zwischen Behördenvertretern und vier Jugendbanden der Stadt geschlossen. Dieses Bündnis ging von dem Prinzip aus, daß die Mitglieder der Banden als gleichwertige Partner bei der Suche nach Lösungen anerkannt werden mußten.

Die Jugendlichen aus Cali erklärten sich bereit, ihre Waffen zu übergeben, ihre illegalen Tätigkeiten einzustellen, Konflikte durch Gespräche zu lösen und Aktionen zur Förderung von Frieden und Fortschritt in ihren Gemeinden einzuleiten. Umgekehrt verpflichteten sich die Vertreter der Stadt, zinslose Kredite zu gewähren, Ausbildungsprogramme anzubieten, Arbeitsstellen zu vermitteln und juristischen Beistand zu leisten. Es hätte nicht viel gefehlt, und der Pakt wäre am Tod mehrerer von wildgewordenen Polizisten erschossener Bandenmitglieder zerbrochen. Der bittere Kommentar des Bürgermeisters von Cali, Rodrigo Guerrero: „In unserer Stadt ist es mittlerweile leichter, für den Frieden zu sterben, als für ihn zu kämpfen.“

Ähnliche Initiativen wie in Cali sind in Medellin (Kolumbien) und in Costa Rica zustande gekommen. In Brasilien arbeiten derzeit mehrere Organisationen mit den Straßenkindern. Dabei hat die Unicef die Schlüsselrolle übernommen, den Regierungsvertretern die tragische Situation dieser Jugend klarzumachen.

Es gibt kein Allheilmittel, um das Problem der Gewalt zu lösen, nur ein breit angelegtes Vorgehen auf allen Ebenen: erhöhte Mittel für den Kampf gegen die Armut, Reform der Schul-, Rechts- und Gefängnissysteme, Reglementierung des Schußwaffenbesitzes, Untersuchung und Kontrolle der Medienverantwortung. Wenn nicht umfangreiche Maßnahmen ergriffen werden, wird die Gewalt weiter um sich greifen und wie eine soziale Epidemie den ganzen amerikanischen Kontinent erfassen.

CÉSAR A. CHELALA

Argentinischer Arzt, Berater der UNO in New York.

1 Siehe Hubert Prolongeau, „Le Mexique confronté à la puissance des narcotrafiquants“, Le Monde diplomatique, August 1994.

2 Siehe Jamil Salmi, „L'Amérique malade des armes à feu, Le Monde diplomatique, April 1992; sowie Ingrid Carlander, „Ils ont 15 ans ... et ils tuent“, Le Monde diplomatique, August 1993.

3 Vgl. Youth Risk Behaviour Survey 1990, Center for Disease Control, Atlanta 1991.

4 Vgl. The New York Times, 16. Mai 1994.

5 Vgl. 1994 Children's Defense Fund Report, Washington DC.

6 Siehe Amnesty International, Guatemala: Extrajudicial Executions and Human Rights Violations Against Street Children, London 1990.

Le Monde diplomatique vom 14.07.1995, von Cesar A. Chelala