14.07.1995

Wenn der Wahlkampf zur Gralssuche wird

zurück

Wenn der Wahlkampf zur Gralssuche wird

STEIL und steinig ist der Weg, der zum Élyséepalast führt. In den Beschreibungen der Mühen, die die Präsidentschaftskandidaten auf sich nehmen müssen, wird gerne aus dem metaphorischen Arsenal der mittelalterlichen Heldenepen geschöpft. Diese Verteidiger ihres Lagers sind von Vasallen umgeben, haben sich in Prüfungen gestählt, veranstalten feierliche Hochämter und treten zu Duellen an – so der von den Medien gesponnene mythische Bericht über deren riten- und prüfungsreiche Reise. Im Falle der Niederlage droht ihnen das Fegefeuer, der Sieg wird sie in den Rang eines republikanischen Monarchen erheben. Republikanisch? Zwei Jahrhunderte nach der Französischen Revolution scheinen die Journalisten immer noch der Sehnsucht nach dem Ancien régime nachzuhängen.

Von EMMANUEL SOUCHIER und YVES JEANNERET *

Die Französische Revolution, die die Idee der modernen Demokratie hervorbrachte, konnte sich nur in einer einzigartigen historischen Situation ereignen. Der Historiker Michelet hat dies am deutlichsten erkannt. Er wolle eine Geschichte der Völker und nicht nur der Könige schreiben, erklärt er im Vorwort zu seiner „Geschichte der Französischen Revolution“. Wie groß wäre sein Erstaunen heute, wenn er sähe, wie der Dämon einer aus Helden und Königen bestehenden Geschichte erneut aus den Medien entsteht.1

In der Presse, im Rundfunk und im Fernsehen ist die französische Geschichte wieder aristokratisch geworden. In der Darstellung der Medien wird sie zum Heldenepos, das die zirkulär angeordnete Zeit der Vorgeschichte reproduziert. Der Glaube spielt darin die Hauptrolle, und die Religion regiert über die Syntax.

Die jüngste Kampagne der Präsidentschaftswahlen war für die Journalisten Anlaß, das Metapherngewebe zu entwickeln. Ihre Berichte nahmen die Form der ritterlichen Fahrt an. Nicht zufällig liegt das Ziel der „elysischen Reise“ im „Gefilde der Seligen“, dem Élyséepalast – und somit geradewegs im Paradies. Die Erlangung der „höchsten Macht“ gleicht der königlichen Macht, die darin besteht, „eine paradiesische Würde zu bekleiden“. Wäre dies nur eine „Sage“, könnte man die Geschichte ja als Scherz abtun; nachdem die Medien sie aber so hartnäckig als Folie ihrer Interpretationen herangezogen haben, gewinnt sie die Bedeutung eines Emblems.

„Jacques Chirac und Lionel Jospin durchmessen die Weite des gesamten Landes“, der eine hat „alle Rosenfeste mitgefeiert, ist auf Straßen und Plätzen umhergezogen, hat seine Mitstreiter feierlich zum Kampf aufgerufen“, der andere ist ein „Stachanow der Tafelrunden und der Bankettvorträge“. Der Journalist ist stets beim Troß dabei, er mußte „dem Anwärter nachfolgen“, von dessen „Durchquerung der Wüste“ und dem „Abstieg zur Hölle“ berichten, um schließlich festzustellen, daß er wieder „in die menschliche Zivilisation zurückgekehrt“ ist. So zeichnet er die narrative Strecke des Politikers „vom versprochenen Sieg zu den vorbestimmten Wanderungen“ nach, den ausgeschilderten Weg jener engelgleichen „Apostel“, die „durch Frankreich ziehen, um die Wahrheit zu predigen...“. Welcher Art sind diese „Fahrten“ und diese „Begegnungen“? Und auf wen soll der Kandidat unterwegs treffen? Raymond Lulle beschreibt 1276 in seinem „Livre de l'ordre de chevalerie“ („Buch über den Ritterorden“) die Irrfahrt als notwendiges Element ritterlicher Erziehung und präzisiert, „der Kaiser muß Ritter und Lehnsherr über alle Ritter sein“. Nach diesem Muster der „umherfahrenden Ritter“ ziehen die Politiker, die das „höchste Amt“ anstreben, durchs Land. Ihre Jagd nach dem Präsidentenamt ist wie in den mittelalterlichen Epen von täglichen „Abenteuern“ geprägt. Es ist eine langwierige Pilgerschaft, bei der die Strecke bis zur Initiation für jeden einzelnen abgesteckt ist: „Der Weg ist gewunden, nur ein schmaler, steiniger Pfad führt zum Élysée.“ Vom „endlosen Ritus der runden Tische“, der die Tafelrunde des König Artus nachahmt, zu den „Aufrufen“, die an die Kreuzzüge erinnern, von den „republikanischen Abendessen“, die das biblische Abendmahl zitieren, zu den „Rededuellen“, die an die Kämpfe der Ritter auf der Suche nach dem Gral denken lassen, haben sich die Gemeinsamkeiten kaum verändert.

Der ritterliche Bewerber

DIE durchschrittene Zeit und Strecke sind Garant für das Ziel, den Erwerb der Reife: „Je mühsamer die Fahrt und je zahlreicher und widriger die Hindernisse, desto stärker verändert sich der Eingeweihte im Laufe dieser Initiationsreise.“ Dieser Wandel der Persönlichkeit ist eines der wichtigsten Elemente im Präsidentschaftswahlkampf, er kristallisierte sich zuletzt in Lionel Jospins Slogan: „Der Präsident des wirklichen Wandels“. „Die Erfahrung verändert den Menschen“, „durch Prüfungen und Verrat“ und die „Erfahrung der Einsamkeit“ ist der „Politiker“ zum „Staatsmann“ geworden. Das Ergebnis dieser Initiationsreise wird denn auch von den Medien als „Häutung“, „Metamorphose“ oder „Transfiguration“ bezeichnet.

Pilgerfahrt und Abenteuer begründen die ritterliche Substanz des Kandidaten für seine „Präsidentenschaft“, und man gewinnt „den vagen Eindruck, daß allein der längste Weg zur Vervollkommnung führt“. Es ist daher wichtig, daß der Kandidat leidet, daß seine Reise lang und beschwerlich und er nicht das Muttersöhnchen war, mit dem niemand sich identifizieren kann: „Nur der physisch und moralisch gestärkte Mann wird über seine Mitbürger herrschen können.“ Aus dieser Sicht war Edouard Balladurs Niederlage unvermeidlich, und die beiden „Meister“, ein Begriff, der in aller Munde war, da er die mittelalterliche, die spielerische und die sportliche Komponente enthielt, konnten nur Jospin und Chirac sein.

Der Wahlkampf ist berufliche und damit spirituelle Initiation zugleich. Jeder formuliert das auf seine Weise: Der Wahlkampf „hat mich bereichert“ (Chirac), „Diese Kampagne hat mich erfüllt“ (Hue), „Im Laufe des Wahlkampfs habe ich mich fortentwickelt, ich bin gereift und verändert...“ (Jospin). Zwar spielen Auseinandersetzungen zwischen Stämmen und Parteien auch eine gewisse Rolle, doch ist der Präsidentschaftswahlkampf vor allem eine „Begegnung zwischen einem Mann und dem französischen Volk“. Und selbst Jospin greift das Thema der persönlichen Entwicklung auf, um eine mittelalterliche Metapher zu entfalten: „Ich habe die Rüstung gesprengt“, ruft er seinen Zuschauern in einem Fernsehinterview martialisch zu.

Läuft der Präsidentschaftswahlkampf somit tatsächlich nach dem Vorbild der Gralssuche ab? Die Allgegenwart des mittelalterlich-ritterlichen Vokabulars scheint dafür zu sprechen. Le Pen erklärte lauthals: „Ich bin der weiße Ritter.“ Von de Villiers sagte man, daß er zu „einem Kreuzzug“ aufgebrochen sei, und leicht spöttisch flüsterte man ihm zu: „Nein, das Turnier ist noch nicht von vornherein verloren.“

Welche sind aber die Lehnsgebiete dieser Ritter der Politik? Die französischen Medien haben die imaginären Reiche dieser Kronvasallen mit Namen wie „Chiraquie“, „Balladurie“ oder „Socialie“ belegt und eine Landkarte mit den „Giscardischen Ländereien“ und dem „Pasquaschen Lehen“ erstellt. Chirac und Le Pen haben auf ihren Ländereien ein Schloß errichtet, während sie auf den Einzug in den Élyséepalast (das Schloß schlechthin) warteten.

Die Ausstattung stimmt also, und wir können nun den Versammlungen beiwohnen, jenen „magischen Augenblicken, da der König sein Volk aus der Nähe entdeckt“, und auch den feierlichen Handlungen: Balladur wird von Anne d'Ornano zum Ritter geschlagen, Baroin unterstreicht aus diesem Anlaß den „Adel“ Edouard Balladurs, bevor alle gemeinsam auf Schloß Bagatelle „die Dame Einheit preisen“. Höhepunkt des Schauspiels ist die Ernennung; ob die Präsidentenwahl nicht „das Äquivalent zur Krönungszeremonie in Reims“ ist?

Mit seinen Zeremonien und Kämpfen hält das mittelalterliche Turnier das vollständige Rüstzeug für unseren tapferen Ritter der Politik bereit: Ob „Streitäxte“, „Pfeile“, „Dolche“ oder „Streitkolben“ – alles wird aufgeboten. Zum „Lanzenstechen“ und zu „Zweikämpfen“ stehen „Janitscharen“ und „Adjutanten“ „zum Kampf bereit“, „um mit den Säbeln zu rasseln“ und „sich zu schlagen“.

Doch gibt es bei alledem einen beachtlichen Unterschied zwischen Jacques Chirac und Lionel Jospin. Während sich der eine ein Wappen erwählt, verzichtet der andere (hat man das überhaupt zur Kenntnis genommen?) auf das historische Emblem seines Stammes (die Rose in der Faust) und zieht ihm einen Wahlspruch vor („Klarheit“). Sein Widersacher setzt dagegen auf das Bild eines heraldischen Apfelbaums, der dem Baum des Lebens bei der Gralssuche gleicht. Dieser Baum, den Eva aus dem Garten Eden mitbrachte, ist „Zeichen dafür, daß die Zeit kommt, da wir dort wieder eintreten werden“. Chirac schenkt den Franzosen den Schlüssel zum Paradies.

Bühne, Ausstattung, Schauspieler und Requisiten sind zur Stelle, nun geht es um die Regeln. Juppé fordert, gleich den „Sitten, die eines Ritters würdig sind“, einen „Kodex des guten Verhaltens“, und jene „Bewerber, die sich auf dem Kampfplatz behaupten“, werden zu „höfischen“ Rittern. Die Wochenzeitschrift L'Évènement du jeudi greift die christliche Legende auf und stellt „den guten Ritter“ Jacques Chirac dank seiner Initialen mit Jesus Christus in eine Ahnenreihe. Zweifellos eine grandiose Übertreibung der Medien, aber wie bezeichnend!

Die religiöse Thematik war im gesamten Wahlkampf allgegenwärtig. Auch wenn sie synkretistisch angelegt war, bezog sie sich im wesentlichen auf das Christentum. In der Tageszeitung Libération verspricht Bernard Pons „jenen Balladur-Anhängern das Fegefeuer, deren Äußerungen nicht so ganz katholisch waren“. Im Wochenmagazin Le Point sind Umfrageergebnisse sakrosankt. Cheminade wurde beim Radiosender „France Inter“ zum „Propheten“, und im Fernsehen erfuhr man bei „France 2“, daß die sozialen Auseinandersetzungen für Hue ein wahrer Segen waren, der sich laut Le Figaro „zu Füßen des Kommissars (Navarro) begab, um seinen Wahlkampfsegen zu erhalten...“.

Wie die Hohe Schrift des Heiligen Gral im 13. Jahrhundert den bretonischen Sagenkreis um König Artus zusammenfaßt, schaffen die Berichte über den Präsidentschaftswahlkampf eine neue, in der Tradition verwurzelte Mythologie der Gegenwart. Aus diesem mittelalterlich-religiösen Schema können die Politiker nicht ausbrechen. Dazu zwei Anmerkungen.

Die Erhebung zum Königtum

DIE erste betrifft die Akzeptanz, auf die dieses politische Heldenepos bei den Bürgern stößt. Eine Bevölkerung, der es an bedeutungsvollen Riten mangelt, findet sich in einer Sage wieder, dessen ruhmvollen Abschluß sie bereits kennt: die Erhebung des „guten Ritters“ zum König, einer Art Gottähnlichkeit. So kann sie ihrer ungewissen und illusionslosen Zukunft eine strahlende, feste, auf den Glauben bauende Gewißheit entgegensetzen. In dieser Hinsicht ist ihre politische Beteiligung vor allem religiöser Natur.

Die zweite Anmerkung betrifft Lionel Jospin, der „die Rüstung“ des von den Medien geschaffenen politischen Dogmas „gesprengt hat“, indem er die mittelalterliche Metaphernwelt zertrümmerte. Er weist das Wappen zurück und setzt ihm einen politischen Wahlspruch entgegen, er lehnt das ritterliche Vokabular ab und ersetzt den Monarchen durch den „Bürger-Präsident“. Die größte Schwierigkeit eines solchen republikanischen Vorgehens liegt aber im Objekt, dem dieser Widerstand gilt, dem religiösen Frankreich. Lionel Jospin wird zum Opfer seiner eigenen Reden. Er muß explizit erklären, daß er sich von der metaphernbefrachteten Sprache befreit, um sich einen Weg durch das Unisono der Medien zu bahnen, die ausschließlich für narrative Traditionen Auge und Ohr haben. Wenn er diese Anstrengung nicht unternimmt, wird man ihn nicht hören, denn sein Bild fügt sich nicht in das bekannte epische Modell. Ganz anders die französische Rechte: Sie läßt sich vom mittelalterlichen Register und der Dynamik der „Suche“ anregen, und mit jener natürlichen Anmut, die dem Adel gebührt, steigt sie in die galanten Schuhe aristokratischer Denkensart.

Bleibt die unvermeidliche Ambivalenz, die in der steten Interaktion zwischen Politik und Medien begründet ist. Lionel Jospin kann sich nicht so einfach von jenem metaphorischen Stoff befreien, den die Medien gewebt haben. Diese Sprache spricht mit seiner Stimme und ist doch nicht die seine. Die Infragestellung der Metapher muß den Weg über jene nehmen, die sie vorrangig ausgeschlachtet, weiterentwickelt und verbreitet haben. So kommt dem Journalisten, der aktiv und an zentraler Stelle den kollektiv aufgenommenen Diskurs erzeugt, eine sehr hohe Verantwortung zu. Auch er ist Garant für die Modalitäten, nach denen sich die auf die Gesellschaft bezogenen Symbole verändern.

Wir stehen derzeit an einem Wendepunkt der republikanischen Geschichte. Zwei Wege stehen zur Wahl. Der erste konserviert das mittelalterliche Schema, das die Französische Revolution nicht wirklich tiefgreifend abschaffen konnte, und begnügt sich damit, lediglich die repräsentativen emblematischen Figuren zu entfernen. Der zweite hebt die Ergebnisse der bürgerlichen Revolution von 1789 hervor. Indem die Sozialdemokratie eine „Demokratie der Bürger“ vorschlägt, setzt sie der Trauer über den König und die Monarchie ein Ende. Es ist dies ein symbolischer Übergang von der Herrschaft des Vater-Kindes, das die absolute Macht – die geltende Meinung – besitzt, zur Geschichte eines erwachsenen Volkes. Damit muß der Übergang von einer „Meinungs-Demokratie“ zu einer „Bürger-Demokratie“ vollzogen werden. Aber liegt darin wirklich das Ziel der Sozialdemokratie?

Ein Bild zu zerstören ist immer mit Gefahren verbunden. Sich Symbolen zu widersetzen, die mit dem Präsidentenamt verknüpft wurden (Gott, König, Vater), bedeutet zwangsläufig, dieses zu entweihen. Die „Demokratie der Bürger“ hat ein anderes Verhältnis zur Wahl. Wählen bedeutet heute, göttliche Macht zu beanspruchen, da man den Auserwählten selbst bestimmt. Wer dieses Bild zerstört, zerstört den Kindheitstraum von Allmacht und widersetzt sich Fragmenten aus Träumen und Phantasmen, die die Heldendichtungen hervorbrachten.

Am Ende der Fernsehdiskussion vom 2. Mai zitiert Lionel Jospin Lord Byron, und nimmt dabei eine bezeichnende Veränderung vor: „Wir sind an einem Zeitpunkt angelangt, da das Schicksal die Pferde wechseln will.“ Wenn die Waffen der Politik vorrangig rhetorischer Art sind, in welcher Tonlage, mit welchem epischen Bezug ist dann die Rede über die Sache der Bürger zu halten? Welche Erzählstruktur ist einer „Demokratie der Bürger“ angemessen?

Die Medien haben die Elemente einer legitimistischen Geschichte zusammengetragen, die sie vorgeblich oder vermeintlich nur beobachten. Serge July, Geschäftsführer der Libération, trieb dieses Amalgam auf ein bislang nie gekanntes Niveau, als er am Tag nach der Wahl erklärte: „Jacques Chirac hat etwas von einem Musketier. Als er in den sechziger Jahren in die Politik ging, wollte er Kardinal werden, und ich glaube, er ist es letztlich auch geworden.“ Alain Duhamel begrüßt dagegen dessen „Kühnheit und Wagemut“ und schlägt Kapital aus der Lehre unserer Fabel: „Sieger sind vor allem charakterfeste Gestalten, die sich mit langem Atem auf die Präsidentschaftswahl vorbereiten oder deren Wesen und Temperament ultrapolitisch sind.“

Ausnahmewesen, Ultras aus Armee und Kirche... Die Politologen genießen offenbar den diskreten Charme des Ancien régime. Sollte es aber Aufgabe der Journalisten sein, der Geschichte hinterherzuschreiben?

dt. Erika Mursa

1 Siehe „Leçons d'histoire“, Manière de voir, Nr. 26, Mai 1995.

* Forschungsgruppe „Kommunikationspraktiken“ an der École nationale supérieure des télécommunications, Paris.

Le Monde diplomatique vom 14.07.1995, von E. Suchier und Y. Jeanneret