14.07.1995

Betroffenheit als Alibi

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Betroffenheit als Alibi

Von

DANIÈLE

SALLENAVE *

NACH den Fernsehnachrichten zu urteilen, wecken drei große Übel das Mitgefühl der Menschen: Kriege, Naturkatastrophen und sozialer Ausschluß. Diese Vereinfachung verweist auf eine räumliche, also eher geographische als politische Vorstellung. Von einem gedachten Zentrum aus, das für uns die reichen und entwickelten Länder darstellen, läßt sich eine Weltkarte der Instabilität mit Hilfe konzentrischer Kreise zeichnen. Ganz außen liegen die Naturkatastrophen – Bangladesch, Indien, Zaire. Dann, etwas näher, die kaum entwirrbaren Religions- und Stammeskriege – Somalia, Algerien, Bosnien. Schließlich, in unseren Gesellschaften, eine spezielle Art des Ungleichgewichts und sozialen Unglücks, die soziale Ausgrenzung.

Natürlich sind die Dinge etwas komplizierter. Die Zonen können sich überschneiden und überdecken. Vor allem die ohnehin schon Benachteiligten trifft das Schicksal mit Vorliebe geballt: Wie durch Zufall sind es oft die Analphabeten, die Ausgeschlossenen, die Arbeits- und Besitzlosen, die von einem grausamen Stammes- oder Eroberungskrieg, von einer Flutwelle oder einem Vulkanausbruch heimgesucht werden.

Doch wie soll man diese Dreiteilung interpretieren? Jean-Paul Sartre sagte: „Es gibt keine Naturkatastrophen.“ Nichts liegt uns derzeit ferner als dieser provokative Satz. Seitdem ökologische Erwägungen das öffentliche Bewußtsein beherrschen, haben Naturkatastrophen wieder eine eigene Würde. Vor ihrer Erhabenheit, so sagt man, werden die Politik, das Soziale, der Zank und Streit der Menschen unwichtig. Die Urgewalt der Erdbeben zeigt uns immer wieder, wie klein und hilflos der Mensch, wie groß und mächtig die Natur ist.

Die Naturkatastrophe ist so zum Urbild allen großen Unheils geworden. Was ist der Krieg mit seinen zerstörten Häusern, Feuersbrünsten, begrabenen Toten, blutüberströmten Gesichtern und weinenden Überlebenden anderes als ein großes Erdbeben? Damit hat man sich der wirklich wichtigen Fragen auf einmal entledigt. Wer kämpft gegen wen? Und was für ein Krieg wird geführt? Ein Befreiungs- oder ein Eroberungskrieg? Ein Unabhängigkeits- oder ein Angriffskrieg? Wer will das noch wissen? Genügt es nicht, das Leid und Unglück, das der Krieg bereitet, zu sehen? Ein Krieg ist wie der andere, wer heute mordet, wird morgen ermordet, Tutsi und Hutu tauschen ihre Rollen zu Nutz und Frommen der humanitären Hilfe und des allgemeinen Mitgefühls. Für dieses öffentliche Mitgefühl kann es gar nicht genug Opfer geben, und die wahren Schuldigen sind nicht die, die den Krieg beginnen (denn sie waren gestern die Opfer und werden es morgen vielleicht wieder sein), sondern die, die beim Anblick eines Trümmerfelds und eines Kindes, dessen Augen von Fliegen übersät sind, ungerührt bleiben.

Sartres Satz ist ins Gegenteil umgeschlagen: Im Grunde gibt es nur noch Naturkatastrophen. Selbst in unseren Städten, in denen das menschliche Leid in einer anderen Form herrscht, die den Namen „Ausgrenzung“ trägt. Denn welchen Unterschied gibt es auf der Richter-Skala menschlicher Anteilnahme schon zwischen einem Stadtstreicher, der in den verschneiten Straßen von Paris oder New York unter Zeitungspapier schläft, und dem alten Mann, der unter dem Feuer von Heckenschützen zwei Wasserkanister durch Sarajevo schleppt, oder jenem, der in den Trümmern von Grosny versucht, Lumpen an seinen Füßen festzubinden, um sich vor der Kälte zu schützen?

Unsere ganze Vorstellungswelt ist auf Abwege geraten. „Ausgrenzung“ wird eine Art Gattungsbegriff, der nicht problematisiert zu werden braucht, obwohl er ja die unterschiedlichsten Phänomene abdeckt: Arbeitslosigkeit, Krankheit, Verlust der Staatsangehörigkeit, Vertreibung, disziplinarische Maßnahmen gegen Jacques Gaillot, den Bischof von Evreux. Doch diese Verallgemeinerung, die ohne begriffliche Schärfe alles über einen Kamm schert, wurde nur durch eine grammatische Verschiebung möglich. Denn Ausschluß (exclusion) bezeichnet heute weniger die Handlung des Ausschließens als die Tatsache des Ausgeschlossenseins. Dieser Übergang zum Passiv, der sich erst vor kurzem vollzogen hat, ist höchst bedeutsam: Man sucht nicht mehr nach den Ursachen, sondern betrachtet betroffen die Auswirkungen. Politik wird durch Moral, Verantwortung durch Schuldgefühle ersetzt. Handelnde oder Nutznießer eines Systems, das die Ausgrenzung erlaubt, fördert oder notwendig nach sich zieht, gibt es nicht mehr, nur noch Zuschauer, Zeugen, denen die Ausgrenzung Gewissensnöte bereitet und von denen man, in alter christlicher Tradition, nur verlangt, daß sie ihre Gleichgültigkeit ablegen.

Ausbeutung, Zwang, Unterdrückung, soziale Ungleichheit und Ungerechtigkeit – aber wovon reden Sie überhaupt? Genügt es nicht, vom ermatteten Blick eines Obdachlosen abzulesen, daß er ausgeschlossen ist? Aufgepaßt, ihr, die ihr noch drin seid! Die Natur, diese „bleiche Mutter“, kann jeden Moment zuschlagen. Die radikalen Ökologen haben gewonnen: es gibt nur noch Umweltprobleme.

Das ganze Feld sozialer Beziehungen wird mehr und mehr desozialisiert. Alles gerät in den Sog dieser unseligen Entwicklung, die das Gefühl über die Politik, das Leiden über den Kampf, die Natur über die Geschichte siegen läßt. Die unbegrenzte Erweiterung des Begriffs „Naturkatastrophe“ hat den großen Vorteil, uns ein lebenslanges moralisches Einkommen zu sichern, sie erschließt uns eine unversiegbare Quelle des Seelenheils: von Schuldigen, die gleichgültig an der ausgestreckten Hand eines Bettlers vorbeigehen, können wir jederzeit, an jeder Straßenecke und bei jedem Sonderbericht, zu Gerechten werden.

Im alten, aktiven, Sinn konnte die Ausgrenzung auch anders genannt werden: Ausbeutung, Knechtschaft, Absonderung. Nachdem sie zu einem passiven Begriff geworden ist, schützt sie jetzt vor jeder Ursachenforschung, die nach Macht- und Produktionsverhältnissen fragt. Der „Ausschluß“ aus der Gesellschaft ist daher nicht mehr Gegenstand politischer Reflexion, sondern ein Thema für katholische oder psychoanalytische Seminare. „Ausgrenzung“, die zum „sozialen Bruch“ führt: Wie die Erdspalte nach einem Beben zieht sich eine Zickzacklinie durch das soziale System.

Lassen wir uns von diesem harmonischen Konzert guter Absichten, das von der harten Wirklichkeit der gesellschaftlichen Verhältnisse täglich Lügen gestraft wird, nicht einlullen. Trotz des Drucks zugunsten dieser neuen Ökologiebewegung sollten wir den Mut haben, dem Mitleid, diesem Alibi für politische Gleichgültigkeit, zu mißtrauen. Möge die Einheit erneut zersplittern, möge die falsche moralische Versöhnung von der politischen Analyse und dem politischen Kampf verdrängt werden. Das Mitleid führt nicht zum Handeln; es verstellt sogar den Weg dorthin. Denn das Handeln braucht keine Tränen, sondern einen festen Willen; es braucht nicht das Leiden an der Ungerechtigkeit, sondern den Entschluß, sie zu beseitigen.

Nein, es gibt keine Naturkatastrophen. Nein, der Mensch ist nicht unentrinnbar einem blinden Schicksal ausgeliefert. Hören wir endlich auf, an die Wahrheiten des Evangeliums zu glauben: es stimmt nicht, daß die Welt den Schwachen gehört, es stimmt nicht, daß die Welt allein durch Barmherzigkeit erlöst wird.

Hüten wir uns, daß unser bequemes Mitleid mit den Schwachen und unsere Weigerung, ihr Schicksal, das auch das unsere ist, zu ändern, nicht eines Tages einem Tyrann, einem Vulgärnietzscheaner, den willkommenen Anlaß bietet, uns alle an die Macht des Stärkeren zu erinnern. Der Mensch lebt in einer Gesellschaft und nicht, wie das Tier, in einer „Umwelt“. Der Mensch lebt nicht in einer Welt von Katastrophen, sondern in Gesellschaften und in der Geschichte, deren politisch verantwortlicher Akteur er ist. „Nicht versöhnt“ – diese Devise sollte man wieder auf die Tagesordnung setzen.

dt. Christiane Kayser

1 Im Mai 1994, während einer Zusammenkunft, die die „Liste für Sarajevo“ in Paris veranstaltet hatte, erläuterten Kandidaten für die Europawahlen ihre Position. Einer von ihnen, Brice Lalonde, erklärte: „Die Ökologiepartei ist mit ihrer Bewegung ganz und gar solidarisch, denn der Krieg ist die schlimmste Form der Umweltverschmutzung.“

2 Titel eines Films des französischen Regisseurs Jean-Marie Straub aus dem Jahr 1965.

* Schriftstellerin. Autorin, unter anderem von „Le Principe de ruine“, Paris 1994, und „Les Trois Minutes du diable“, Paris 1994. Auf deutsch liegen vor: „Die Türen von Gubbio“, Beck & Glückler 1989, „Ein kalter Frühling“, Bremen 1989, Phantom Liebe, München 1990.

Le Monde diplomatique vom 14.07.1995, von Daniele Sallenave