14.07.1995

Zwischen Gangstertum und Populismus

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Zwischen Gangstertum und Populismus

VENEZUELA, der Ölstaat, der ehedem um seinen Reichtum und seine politische Stabilität beneidet wurde, stagniert wirtschaftlich seit nunmehr sechs Jahren und durchläuft eine Krise nach der anderen: eine Hungerrevolte, die gewaltsam niedergeschlagen wurde; zwei Putschversuche des Militärs; die Absetzung des Staatschefs, der der Korruption beschuldigt wird; Banken, die Konkurs gehen, usw.

Rafael Caldera, der derzeitige Präsident, ist das erste südamerikanische Staatsoberhaupt, das sich weigert, den Weisungen des Internationalen Währungsfonds zu folgen. Er legt sich mit der Finanzwelt an und muß gleichzeitig mit einer sozialen Unrast zu Rande kommen, die täglich gewaltsamere Formen annimmt.

Von unserem Sonderkorrespondenten IGNACIO RAMONET

Ein vornehmes Wohnviertel von Caracas: Drei vermummte und bewaffnete Gestalten brechen brutal in eine Villa ein, in der eine Familie mit ihren Gästen gemütlich beim Abendessen sitzt. Sie raffen sämtliche Wertgegenstände zusammen, verwüsten das Haus, fallen über die Zeichen des Reichtums her. Dann vergewaltigen sie der Reihe nach alle Frauen, von den kleinen Mädchen bis zu den Großmüttern. Am Ende vergewaltigen sie noch die beiden Familienväter.

Als darüber im Radio und Fernsehen berichtet wird, ist jeder starr vor Schreck. Wieder einmal hat die endlose Horror-Saga von der Unsicherheit Venezuelas neue Nahrung bekommen. „Diesmal haben die Opfer sozusagen noch Glück im Unglück gehabt“, meint der Soziologe Tulio Hernández. „Es ist ein wahres Wunder, daß sie nicht ermordet worden sind. Denn das Land befindet sich in einer Art Bürgerkrieg. Es gibt hier in einer Woche mehr Tote als in Bosnien. Und die Gewalt ist mittlerweile dermaßen eskaliert, daß die Gangster es nicht mehr beim Diebstahl belassen. Sie suchen die Erniedrigung, sie wollen Schmerz zufügen und töten. Jeden Monat werden Dutzende von Jugendlichen von ihresgleichen umgebracht, die eigentlich nur ihre Basketballschuhe klauen wollen. Für ein paar Schuhe zu sterben ist längst tragische Alltäglichkeit.“

In Caracas herrscht eine regelrechte Paranoia. Sie wird geschürt durch die Medien, die sehr detailliert über die Überfälle berichten, vor allem über die blutigsten, die meist am Wochenende geschehen (regelmäßig zwanzig bis fünfzig Tote). Dabei wird die Zunahme der Gewaltverbrechen mit der in den anderen lateinamerikanischen Städten verglichen, die wegen ihrer Unsicherheit berüchtigt sind: Rio de Janeiro, Bogotá und Cali.1

„Die Gewalt schafft heutzutage eine unglaubliche Atmosphäre der Rachsucht, man kennt kein Mitleid mehr“, sagen die Soziologinnen Carmen Scotto und Anabel Castillo. „Man schlägt aus Lust am Schlagen, und man tötet aus Lust am Töten. Das Leben hat keinen Wert mehr. Man geht aufeinander los, trunken vor Grausamkeit. Es gibt einen Haß, der ans Delirium grenzt, einen Haß, in dem der Grad der Zersetzung deutlich wird, die diese Gesellschaft, die keine Werte mehr kennt, auszeichnet. Die Beispiele für diesen Haß sind Legion. Kürzlich schleiften jugendliche Angreifer einen Siebzehnjährigen um 3 Uhr morgens über eine Strecke von 800 Metern über den Boden; sie schlugen ihn, brachen ihm Kiefer und beide Handgelenke, stachen ihm in die Venen und schossen ihm schließlich eine Kugel in den Kopf. Den Toten ließen sie mitten auf einer großen Straße liegen.“2

Lange Zeit war eine solche Form der Gewalt auf die Armenviertel begrenzt und trat regelmäßig nur in den ranchos, den Caracas umgebenden Slums, auf. Entsprechend gerieten weder die Medien noch die gutsituierten Kreise der Gesellschaft allzu sehr in Unruhe. Doch seit etwa zwei Jahren, meint eine Journalistin, „greift die Gewalt auch auf die vornehmen Viertel über, keiner bleibt mehr davon verschont“.

Innerhalb einer Woche wurden Ende Mai mehrere bekannte Persönlichkeiten – darunter der berühmte Baseballspieler Gustavo Polidor, ein Chirurg und ein Anwalt – im Beisein ihrer Familien vor ihrer Haustür von Gangstern ermordet, die das Auto klauen wollten. Die Wirkung dieser Morde war enorm. Bei der Mittelklasse und den Wohlhabenden entsteht mehr und mehr der Eindruck, in einem Belagerungszustand zu leben. Dieser Eindruck wird durch die städtebaulichen Gegebenheiten von Caracas noch verstärkt: das Stadtzentrum mit seinen besseren Vierteln befindet sich in einem Tal; drum herum erheben sich Hügel, die bis zu den benachbarten Bergen dicht mit den ranchos der Armen bedeckt sind. Dort leben 72 Prozent der Bevölkerung. So fühlt ein Bewohner der vornehmen Viertel, der sich von bewaffneten Wachdiensten schützen läßt, wie die Armen regelrecht auf ihn hinuntersehen, ihn gleichsam als Beute erspähen.

Die Hölle der Gefängnisse

AM 27. Februar 1989 explodierte die Gewalt: Die Bewohner der ranchos schwärmten in die Stadt aus und verwüsteten alles, was ihnen in die Quere kam. Im Verlaufe dieser Hungerrevolte, die von der Armee brutal niedergeschlagen wurde, kamen vierhundert Menschen ums Leben. Seither wächst die Angst der Reichen unaufhörlich.

Die Presse gibt ihren Lesern (den Wohlhabenden) immer wieder Tips, wie man sich vor Verbrechen schützen kann: Regelmäßige Rubriken beschäftigen sich mit Selbstverteidigung und dem Umgang mit Waffen. Private Schießübungsplätze wachsen wie Pilze aus dem Boden. Nach Schätzungen sind etwa 10 Prozent der Bevölkerung von Caracas bewaffnet.

Nirgendwo ist man mehr sicher. Seit Beginn des Jahres wurden fast fünfzig Busfahrer der Hauptstadt ermordet. Im Landesinnern lauern „Piraten der Straße“ auf Lastwagen, stehlen die Ladung und bringen die Fahrer um. Die militärisch aufgerüsteten Gefängnisse sind überbelegt und gelten als wahre Hölle. Im letzten Jahr kamen etwa 600 Häftlinge darin um.3

Dieses Klima der Gewalt ist der Hauptvorwurf gegen die Regierung des christlich-sozialen Präsidenten Rafael Caldera. Caldera, von der eigenen Partei, der Copei, im Stich gelassen, genießt die Unterstützung der Bewegung für den Sozialismus (MAS) und der kleinen Kommunistischen Partei, mit deren Hilfe er die Wahlen im Dezember 1993 knapp gewinnen konnte. Sein Regierungsantritt erfolgte in sehr bewegten Zeiten, da sein sozialdemokratischer Vorgänger, Carlos Andrés Pérez, wegen Veruntreuung von Geldern angeklagt und vom Obersten Gerichtshof abgesetzt worden war.4

Präsident Caldera übernahm ein hochverschuldetes Land (35 Milliarden Dollar), das nach den Volksaufständen im Februar 1989 zwei Militärputsche miterlebt hat und in sozialen, politischen, wirtschaftlichen wie moralischen Krisen aller Art steckt. Obwohl Calderas Aufrichtigkeit und Integrität weiterhin anerkannt und geachtet sind – was in einem von Korruption zerfressenen Land immerhin einiges bedeutet –, scheinen seine Tage als Präsident gezählt zu sein.

Bereits kurz nach seinem Regierungsantritt im Februar 1994 war er mit einer Währungskrise von außergewöhnlichem Ausmaß konfrontiert. Der Zusammenbruch einer der mächtigsten privaten Banken – El Banco Latino – zog den Sturz eines Dutzends anderer Geldinstitute nach sich, was wiederum als Kettenreaktion den Konkurs von etwa sechzig Tochterunternehmen zur Folge hatte. Im ganzen Land mußten Hunderte Zweigstellen schließen: Von einem Tag zum anderen standen Tausende Angestellte und Lohnempfänger auf der Straße. Gleichzeitig zerfiel die nationale Währung, der Bolivar (1 Dollar ist nach dem offiziellen Kurs 170, nach dem Schwarzkurs 230 Bolivar wert).

Caldera, der eine starke Staatsintervention im wirtschaftlichen Sektor vertritt, entschied sich dafür, die Banken zuerst zu stützen, bevor er sie vom Staat aufkaufen ließ. Diese massive finanzielle Hilfe (die zum Teil durch ehemalige Anteilseigner, die sich in die Vereinigten Staaten abgesetzt hatten, beiseite geschafft wurde) hat das in Zirkulation befindliche Währungsvolumen beträchtlich aufgebläht und die Inflation angeheizt.

Gleichzeitig hört man weiter in den Kasernen die Schritte schwerer Stiefel, und das Gerücht über einen bevorstehenden golpe (Putsch) verdichtet sich. Zudem verfügte Caldera die Freilassung von Oberst Hugo Chávez, der hinter dem versuchten Staatsstreich im Jahre 1992 gestanden hatte; Chávez steht nun an der Spitze der „Bolivarianischen Bewegung für die nationale Befreiung“ und ist zu einer Art Volksheld in den ranchos geworden.5

Da Präsident Caldera in der Nationalversammlung (die von zwei Parteien beherrscht wird: der christdemokratischen Copei und der sozialdemokratischen Demokratischen Aktion) nicht über die Mehrheit verfügte, beschloß er im Juni 1994 die Aufhebung mehrerer Artikel der Verfassung. Deshalb verdächtigen ihn manche, einen „legalen Staatsstreich“ vorzubereiten, ähnlich wie Alberto Fujimori in Peru. „Wer mich beschuldigt, dies ins Auge zu fassen“, sagt er uns, „der kennt mich schlecht. Mein Leben lang habe ich gegen autoritäre Regime gekämpft; von 1969 bis 1974 war ich bereits Präsident und habe nun daraus das Fazit gezogen. Im Alter von 69 Jahren habe ich mich entschlossen, noch einmal auf das politische Schlachtfeld zurückzukehren, weil ich eine Demokratie schützen und verteidigen wollte, die unter dem Gewicht der Korruption zu versinken drohte. Das war und ist mein einziges Ziel. Allerdings will ein Journalist vor kurzem mittels einer Meinungsumfrage herausgefunden haben, daß etwa siebzig Prozent der Leute einen „Staatsstreich à la Fujimori“ begrüßen würden...“

Der Kern der Krise ist die wirtschaftliche Rezession. Die Wirtschaft beruht im wesentlichen auf dem Erdöl (Venezuela ist Gründungsmitglied der Opec), denn siebzig Prozent der Exporterträge kommen aus dem Öl. So hat das Land durch den Preisverfall nach der Ölkrise 1983 einen starken Schlag erlitten. Wie andere große Ölstaaten – Mexiko, Nigeria, Algerien –, die ihre wirtschaftliche Entwicklung nach der Ölpreissteigerung von 1973 auf den Exporterträgen aufgebaut hatten, wurde auch Venezuela vom Preissturz überrascht. In größter Eile mußten alle staatlichen Programme revidiert werden. Von einem Tag zum anderen war das Land zu einer Umorientierung gezwungen, die einen Schock auslöste. Der aufgeblähte Staatssektor war plötzlich wie gelähmt, und das Gerüst eines ziemlich großzügigen Wohlfahrtsstaates wurde seit 1989 unter Carlos Andrés Pérez allmählich abgebaut. Dies brachte Unzufriedenheit in der Bevölkerung und schwere Unruhen mit sich, nicht zuletzt deshalb, weil die an die Armen gerichtete Parole, den Gürtel enger zu schnallen, von zahlreichen Regierungsmitgliedern selbst offensichtlich nicht ernst genommen wurden (alle drei letzten Staatspräsidenten werden wegen Unterschlagung von Geldern und Korruption gerichtlich belangt).

„Durch den Verkauf von Erdöl hat Venezuela von 1973 bis 1983 rund 240 Milliarden Dollar eingenommen, das heißt etwa das Zehnfache dessen, was der Marshallplan vorsah“, sagt der Schriftsteller Arturo Uslar Pietri6, der allgemein als moralische Autorität gilt. „Zum größten Teil ist dieses Geld verschleudert worden. Bestenfalls wurde es noch schnell unter chaotischsten Bedingungen in öffentliche Projekte gesteckt. Ein fürchterliches Tohuwabohu. Nach dem Zusammenbruch der Pérez-Regierung steht uns heute die nächste Enttäuschung bevor. Rafael Caldera ist ein korrekter Präsident, in dieser Hinsicht hat es einen ungeheuren moralischen Wandel gegeben. Doch nicht zuletzt wegen seines Populismus dreht sich die Inflationsspirale weiter. In den letzten zwölf Monaten hatten wir eine Inflationsrate von 71 Prozent. Es ist zuviel Geld im Umlauf. Die Preise werden weiter steigen. Denn mit der staatlichen Kontrolle der Wechselkurse und Preise wird nichts erreicht. Im Gegenteil.“

„Eine Kontrolle der Wechselkurse ist unerläßlich“, sagt dagegen Caldera. „Trotz des Drucks, den der Internationale Währungsfonds auf mich ausübt, werde ich sie nicht aufheben. Denn diese Kontrolle ist das Instrument, mit dem ich dem Dahinschmelzen unserer Devisenreserven und der Kapitalflucht entgegenwirken kann. Und auch an der Preiskontrolle bei Produkten des lebensnotwendigen Bedarfs bin ich entschlossen festzuhalten, um die Kaufkraft des kleinen Mannes zu sichern. Ich halte mich lieber an die Arbeiter und an soziale Gerechtigkeit als an makroökonomische Richtwerte. Und ich wehre mich gegen den neuen wirtschaftlichen Totalitarismus, der von den Anhängern eines Einheitsdenkens verfochten wird, die allen Ländern dieselben Normen auferlegen wollen, um die Interessen der großen Finanzmärkte zu befriedigen.“

Auf dem Gipfel eines Berges im Viertel El Paraiso („das Paradies“) befindet sich der prächtige Wohnsitz von Carlos Andrés Pérez: sein „Gefängnis“. Pérez meint, daß Caldera „scheitern muß“. Im üblichen brillanten Redefluß kommentiert der Ex-Präsident pessimistisch die politische Entwicklung. Er beteuert seine Unschuld („die Geschichte wird mich freisprechen“) und scheint überzeugt davon, daß auch die Richter das noch einsehen werden.7 Die wirtschaftliche Situation beschreibt er in düsteren Farben: „Das Haushaltsdefizit ist einfach zu hoch. Das Wachstum ist im letzten Jahr bereits negativ gewesen und wird in diesem Jahr noch weiter zurückgehen. Man müßte den Benzinpreis anheben, der nach wie vor einer der niedrigsten der Welt ist. Doch dazu hat Caldera nicht den Mut, denn er fürchtet eine soziale Explosion. Bereits 20 Prozent der Bevölkerung sind arbeitslos; 48 Prozent sind Schwarzarbeiter. 78 Prozent der Familien verfügen nicht mehr über das Existenzminimum, 40 Prozent leben im Elend. Es fehlt nur noch ein einziger falscher Schritt, und die Revolte bricht aus. Das Land befindet sich am Rande des Bürgerkriegs. Davon zeugt nicht zuletzt die außerordentliche Zunahme der Kriminalität.“8

Draußen ist die Luft fast glasklar. Der Abend ist außerordentlich mild. Vom Tal her steigt gedämpft der Lärm der Stadt herauf. Auch in dieser Nacht werden wieder fünfzehn Menschen ermordet.

dt. Marianne Karbe

1 Cali in Kolumbien gilt als die lateinamerikanische Stadt mit der höchsten Gewaltverbrechensrate: Von 100 000 Einwohnern werden jährlich 131,1 ermordet (in Venezuela 118,35; in Chile 2,2). El Nacional, Caracas, 5. 6. 1995.

2 siehe „La violencia en Venezuela“, Monte Avila Editores, Caracas 1994.

3 El Pais, Madrid, 25. 12. 1994.

4 siehe Luis Ricardo Davila, L'imaginaire politique vénézuélien, Paris 1995; Ignacio Ramonet, „Derniers carnavals“, Le Monde diplomatique, 11/1992.

5 Im Dezember 1994 wurde Oberst Hugo Chávez mit allen Ehren von Fidel Castro in Havanna empfangen. Venezolanische Diplomatenkreise waren leicht irritiert.

6 Man lese dazu die Erzählung von Arturo Uslar Pietri: „Le Visage de la mort“, Le Monde diplomatique, 2/1995.

7 Um sich eine Vorstellung von den Vorwürfen zu machen, die gegen Pérez erhoben werden, und davon, welche Argumente zu seiner Verteidigung vorgebracht werden, lese man: Carlos Andrés Pérez, „Escritos sin pasión y sin odio“, Caracas 1994; „El auto de detención al ex-presidente de Venezuela Carlos Andrés Pérez“, Caracas 1994; und „Carlos Andrés Pérez ante la corte de justicia“, Caracas 1995.

8 Diese Zahlen, die Pérez zitiert, entsprechen den Zahlen, die die Gewerkschaft der Arbeiter Venezuelas (CTV), die größte Gewerkschaft des Landes, veröffentlicht hat.

Le Monde diplomatique vom 14.07.1995, von Ignacio Ramonet