14.07.1995

Für eine radikale Veränderung der internationalen Wirtschaftsordnung

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Für eine radikale Veränderung der internationalen Wirtschaftsordnung

AUCH wenn es paradox erscheint: Es ist dringend notwendig und vielleicht lebenswichtig, den Markt zu schützen und an seiner Selbstzerstörung zu hindern – sonst könnten seine irrwitzigen, unkontrollierten Bewegungen die ganze Menschheit in ein allgemeines Finanzchaos stürzen. Die G 7 äußerte am 17. Juni in Halifax ihre Beunruhigung über diese Möglichkeit. Mehr geschah nicht. Die Gefahr ist jedoch sehr groß, daß die gebotenen tiefgreifenden Veränderungen nicht vorbeugend und friedlich organisiert, sondern eines Tages durch blutige Umwälzungen erzwungen werden.

Von SUSAN GEORGE *

Seit dem Fall der Berliner Mauer – dem eigentlichen Beginn des 21. Jahrhunderts – haben die Vereinten Nationen viel von ihrer Bedeutung verloren. Ihre friedenstiftende Rolle verkommt zur Karikatur, und der Sicherheitsrat vertritt vorrangig die Interessen der Vereinigten Staaten als der einzigen noch verbliebenen Supermacht. Daraus folgt, daß bestimmte Resolutionen wirkungslos verpuffen (beispielsweise zu Ost-Timor und der Westsahara), während andere gar nicht mehr die tatsächlichen Meinungen jener Staaten widerspiegeln, die ihnen zugestimmt haben.

Dies war bei den Resolutionen zum Golfkrieg der Fall. Indien und Simbabwe, die beide auf Kredite des Internationalen Währungsfonds und der Weltbank angewiesen waren, haben zwar Kritik laut werden lassen, den Resolutionen schließlich aber doch zugestimmt. Als der Vertreter des Jemen dagegen stimmte, drohte ihm der amerikanische Diplomat John Kelly: „Das ist für Ihr Land die teuerste Neinstimme, die Sie jemals abgegeben haben.“ Dem Jemen sind unmittelbar danach 70 Millionen Dollar an Hilfen gestrichen worden, während man Ägyptens gutes Betragen damit belohnte, daß dem Land ein Viertel seiner Schulden erlassen wurde.

Es wäre natürlich völlig abwegig zu glauben, daß die Mächtigen dieser Welt ein System reformieren würden, das bestimmte nationale Interessen so gut bedient. Die Länder der Dritten Welt und die ehemaligen Ostblockländer sind ihrerseits so sehr auf internationale Finanzhilfe angewiesen, daß sie von der vorgegebenen Linie nicht abweichen werden. Unter diesen Bedingungen kann die einzige Hoffnung nur darin bestehen, die einflußreichen Länder davon zu überzeugen, daß die Schaffung einer neuen Weltorganisation in ihrem Interesse läge. Aber ihre Zustimmung gewinnen?

In der Vergangenheit hat es Weltkriege gebraucht, damit internationale Organisationen gegründet wurden. Glücklicherweise steht eine solche Katastrophe nicht unmittelbar bevor. Aber eine andere zeichnet sich allmählich am Horizont ab: Die Gefahr besteht nämlich, daß ein umfassendes Finanzchaos ausbricht oder das internationale Finanzsystem zusammenbricht. Vorbote einer solchen Katastrophe könnte die mexikanische Krise um die Jahreswende 94/95 gewesen sein.

In diesem Fall haben die Vereinigten Staaten mit einer noch nie dagewesenen, völlig unerwarteten Geschwindigkeit reagiert. Sie haben rasch ihre europäischen Partner informiert, dann fünfzig Milliarden Dollar aufgebracht, mit dem Ziel, den Sturz des Peso zu stoppen. Ganz anders sah es im September 1994 aus, als Michel Camdessus, der Generaldirektor des Internationalen Währungsfonds (IWF), bei der Fünfzigjahrfeier des Abkommens von Bretton Woods lediglich die Hälfte dieser Summe zusammenbringen konnte, um den osteuropäischen Ländern und einigen völlig überschuldeten Ländern der Dritten Welt zu helfen.

Neue Erschütterungen in Sicht

DIE Geschichte unseres Jahrhunderts zeigt, daß das völlige Scheitern eines Systems die unabdingbare Voraussetzung zur Schaffung eines anderen ist. Wenn man also ein neues System für nötig hält – kann man sich dann nur noch das Chaos herbeiwünschen? Diese Frage ist keineswegs leichtfertig gestellt, denn die neuen Erschütterungen kündigen sich bereits an. Man denke zum Beispiel an Rußland und Indonesien, die beide hoch verschuldet sind. Aber wie C. Fred Bergsten, der Direktor des Institute for International Economics, festgestellt hat, nimmt die Zahl jener Devisenmärkte zu, „die zu groß sind, um Schiffbruch zu erleiden“1.

Das Problem ist nur, daß sie eben doch Schiffbruch erleiden können und daß niemand ein Rezept hat, es zu verhindern. In anderen Bereichen reifen andere Krisen heran, und es gibt absolut keinen Grund zu hoffen, man könne sie jenseits internationaler Zusammenarbeit in den Griff bekommen. Ein Wirtschaftssicherheitsrat wäre unbedingt notwendig, aber nichts deutet darauf hin, daß es ihn ohne ein vorheriges finanzielles Tschernobyl geben wird; und selbst dann wäre die Gründung einer solchen Institution noch nicht garantiert.

In den letzten zwanzig Jahren hat sich das System der freien Marktwirtschaft über den Globus ausgebreitet. Die G 7 – und vor allem die Vereinigten Staaten –, die aus dem Bretton-Woods-Abkommen hervorgegangenen Institutionen wie Weltbank und IWF und das Allgemeine Zoll- und Handelsabkommen (Gatt) verfolgen nur ein Ziel: Sie wollen die neokonservativen Wirtschaftsprinzipien durchsetzen, die mitunter fälschlich als neoliberale bezeichnet werden. Was sie wollen, sind:

– ein unreglementierter Handel,

– maximale Integration der einzelnen Volkswirtschaften in den von der internationalen Konkurrenz geprägten Welthandel (wobei es oft zu wettbewerbsbedingten Abwertungen kommt),

– Flexibilität der Beschäftigten (was häufig mit Lohnsenkungen, mit schlechteren Arbeitsbedingungen und dem Verlust sozialer Errungenschaften verbunden ist),

– Privatisierungen und eine drastische Reduzierung des Staatseinflusses.

Diese Entwicklung ist durch massive Kreditaufnahmen, durch die daraus folgende Schuldenkrise der achtziger Jahre und durch die „Strukturanpassungen“, die die Bretton-Woods-Institutionen den von ihnen abhängigen Volkswirtschaften verordnet haben, stark beschleunigt worden. Die Bedingungen für Kredite von manchmal nur einigen Dutzend Millionen Dollar können so detailliert sein, daß sie Dutzende Seiten Text umfassen.2 Es ist schon oft darauf hingewiesen worden, daß die Charta der Vereinten Nationen mit der Formulierung „Wir, die Völker der Vereinten Nationen...“ beginnt und dann alle Macht den Regierungen überträgt.3 Fünfzig Jahre danach haben diese Regierungen viel von der ihnen übertragenen Macht abgegeben, denn Entscheidungen werden von den Bretton-Woods-Institutionen und vom Gatt (und in Zukunft von der neuen Welthandelsorganisation WTO) getroffen, die von den Völkern gar nicht und von den Regierungen nur sehr wenig kontrolliert werden.

Die Weltbank bestimmt nicht nur die volkswirtschaftlichen Entscheidungen, sondern legt darüber hinaus – unter dem Etikett des „guten Regierens“ – auch andere Bedingungen fest. Sie verlangt von den Regierungen, dem Bürger gegenüber Rechenschaft abzulegen, die Menschenrechte zu respektieren und in regelmäßigen Abständen Wahlen durchzuführen, damit ihre Legitimität erwiesen sei. Wer könnte etwas gegen diese Prinzipien sagen? Sie sind dennoch keineswegs frei von Widersprüchen. Zum einen hat die Politik der Strukturanpassungen die staatlichen Möglichkeiten beträchtlich reduziert, den Erwartungen der Bevölkerung gerecht zu werden. Zum anderen mißachtet die Bank selbst jene Prinzipien, die sie anderen predigt. Bestimmte Projekte der Weltbank haben zu massiven Menschenrechtsverletzungen geführt.

Im Zuge solcher Projekte wurden Millionen von Menschen aus ihren angestammten Siedlungsgebieten vertrieben – für den Anthropologen Thayer Scudder „das Schlimmste, was man Menschen antun kann, wenn man sie nicht töten will“. Die Weltbank macht ihre eigenen Gesetze, mußte sie in den fünfzig Jahren ihre Existenz aber nie legitimieren. Aus vielfältigen Gründen hat es ihre Führung bisher noch nicht geschafft, zufriedenstellende Kontrollmechanismen zu etablieren.4

Weltbank und Gatt haben erfolgreich dafür gearbeitet, die Welt in den Dienst multinationaler Unternehmen zu stellen, deren Macht über die Weltwirtschaft unaufhörlich wächst. Mittlerweile macht der Handel zwischen diesen Unternehmen ein Drittel des gesamten Welthandels aus. Ihre Direktinvestitionen in den Industrieländern und in einigen wenigen Entwicklungsländern belaufen sich auf etwa 2 000 Milliarden Dollar. Die Investitionen in den Entwicklungsländern belaufen sich auf 410 Milliarden Dollar, mit denen etwa zwölf Millionen Arbeitsplätze geschaffen worden sind, die Hälfte davon in China. Jeder Arbeitsplatz entspricht also einer Investition von gut 34 000 Dollar. Bei diesem Tempo wären mehrere Jahrhunderte und Tausende von Milliarden Dollar notwendig, um auch nur einer kleinen Minderheit der Arbeitssuchenden in der Dritten Welt einen Arbeitsplatz zu sichern – während gleichzeitig die multinationalen Konzerne die dortigen Kleinunternehmen vernichten, die dieser Konkurrenz nicht standhalten können.

Es existiert keine internationale Instanz, die diese Unternehmen kontrollieren könnte. Es verhält sich im Gegenteil so, daß die Bretton-Woods-Institutionen ihnen die Gewähr bieten, völlig unbehelligt zu agieren. Der Versuch der UNO, einen Verhaltenskodex zu beschließen, scheiterte. Mit einer seiner ersten Amtshandlungen hat der jetzige UNO-Generalsekretär die Tätigkeit des UN-Zentrums für Multinationale Unternehmen eingestellt, das viele Informationen lieferte und nun nur noch im Rahmen der UN-Konferenz für Handel und Entwicklung (UNCTAD) weiterarbeiten kann.

Das gegenwärtige System hat die innergesellschaftlichen Gegensätze sowohl in den armen als auch in den reichen Ländern enorm verschärft, hat den Graben zwischen den entwickelten und den unterentwickelten Regionen der Welt weiter vertieft, hat eine riesige Arbeitslosigkeit hervorgerufen und dafür gesorgt, daß die große Mehrheit der Weltbevölkerung in Unsicherheit leben muß. Das reiche Fünftel der Weltbevölkerung besitzt 85 Prozent des Sozialprodukts der ganzen Welt (1965 waren es „nur“ 70 Prozent), während das arme Fünftel nur über 1,4 Prozent verfügen konnte.5

In den Vereinigten Staaten hat sich nach den Angaben des Arbeitsministeriums zwischen 1979 und 1993 das ohnehin schon nicht ausreichende Einkommen des ärmsten Fünftels der Bevölkerung um 17 Prozent verringert. Gleichzeitig konnte das reichste Fünftel seine Einkünfte um 18 Prozent erhöhen.6 Weltweit gibt es 358 Milliardäre (in Dollar), deren Gesamtvermögen sich auf 760 Milliarden Dollar beläuft und damit dem Einkommen von fast zwei Milliarden Menschen entspricht, deren durchschnittliche Jahreseinkünfte bei 390 Dollar liegen.7

Der Markt, der keine Regeln kennt, bedroht gegenwärtig ganze Nationen, so stark diese auch sein mögen. Ein ehemaliger Verantwortlicher aus der französischen Finanzverwaltung stellt fest, daß es einer Katastrophe gleichgekommen wäre, wenn die Banque de France in den siebziger Jahren „nur 5 Prozent ihrer Reserven verloren hätte“. Im Juli 1993 hat sie in zwei Tagen ihre gesamten Reserven – 300 Milliarden Francs – verloren und mußte Kredite aufnehmen, um die Angriffe auf die französische Währung abwehren zu können.8

Zwei einfache Zielscheiben stellen Italien und Spanien dar. Die Staatsverschuldung der USA erreicht ungeahnte Höhen. Da der Schuldendienst einen immer größeren Teil des Nationaleinkommens verschlingt, könnten die Vereinigten Staaten versucht sein, die Notenpresse in Gang zu setzen, und damit eine weltweite Inflationswelle auslösen. Der internationale Devisenhandel, dessen Tagesumsatz 1 000 Milliarden Dollar beträgt, übertrifft gegenwärtig die Produktivinvestitionen und die Finanzierung des Welthandels. Nach dem Ende des mexikanischen „Wunders“ nimmt der mexikanische Markt nur noch halb so viele amerikanische Produkte auf wie vorher. Zwar sind auch die Arbeitskosten um die Hälfte gesunken, aber die Nordamerikanische Freihandelszone (Nafta) wird nicht die erwarteten Gewinne ermöglichen. Die illegale Einwanderung hat sofort wieder zugenommen. Die Sparmaßnahmen der mexikanischen Regierung treffen eine Bevölkerung, die schon bei den vorangegangenen Strukturanpassungsprogrammen die Hälfte ihres Einkommens verloren hat. Dies alles könnte soziale Unruhen auslösen. Dann werden die von den USA bereitgestellten 50 Milliarden Dollar nicht ausreichen, um das Chaos abzuwenden. Für Europa stellt Nordafrika eine vergleichbare Gefahr dar. Überall auf der Welt existieren solche Gefahrenzonen, zu denen man übrigens durchaus auch die innerstädtischen Ghettos der reichen Ländern rechnen könnte.

Zerstörung der Gesellschaft

NUR eine Weltorganisation, die über reale Machtbefugnisse verfügt, kann dieser Zerstörung von Gesellschaftsstrukturen etwas entgegensetzen, denn die einzelnen Staaten sind dazu nicht mehr in der Lage. Die Schaffung einer solchen Organisation ist außerdem notwendig, weil die aus dem 19. Jahrhundert stammenden Regeln in unserer Zeit nicht mehr funktionieren, auch wenn man in den Bretton-Woods-Institutionen das Gegenteil glauben will. Adam Smith und David Ricardo hätten über die Idee gestaunt, daß britisches Geld eines Tages in Taiwan oder Venezuela investiert werden könnte. Die berühmte Theorie des komparativen Vorteils funktioniert nur, wenn das Kapital nationales Kapital bleibt. Wenn es diesen Rahmen erst einmal verlassen hat, dann wird der komparative zum absoluten Vorteil, denn das Kapital sucht sich die kostengünstigsten Arbeitskräfte, die billigsten Rohstoffe und den Produktionsstandort mit den wenigsten Reglementierungen, und das kann im Prinzip jeder Ort sein.

Der Weltmarkt, der keiner juristischen oder politischen Kontrolle unterliegt, besitzt eine scheinbare Legitimität, deren ideologische Voraussetzungen nur selten untersucht und ebenso selten klar formuliert werden. So hat er den Anschein eines Naturphänomens. Wenn man die politischen Bedingungen für neue internationale Institutionen verdeutlichen will, dann muß man sich mit den Vorstellungen auseinandersetzen, auf denen das gegenwärtige System beruht. In diesem Zusammenhang gewinnen die Thesen, die Karl Polanyi 1944 in seinem Buch „The Great Transformation“9 formulierte, ihre fundamentale Bedeutung.

Polanyi hat deutlich gezeigt, wie die industrielle Revolution zum ersten Mal die Natur, die Arbeit (damit den Menschen) und das Geld zu „Waren“ gemacht hat. Natürlich hatte es auch schon vorher Märkte und Händler gegeben, aber niemals hatte es vor der Periode zwischen 1830 und 1850 ein System miteinander verbundener Märkte gegeben, die potentiell Einfluß auf alle Aspekte der menschlichen Existenz haben können.

Ebenfalls hat Polanyi vorhergesehen, wie der sich selbst überlassene Markt die Gesellschaft zerstören würde. Im England des 19. Jahrhunderts war man sich dieser Gefahr bewußt und hat entsprechende Schutzmaßnahmen ergriffen. Alle anderen kapitalistischen Staaten folgten diesem Beispiel. Zeitgleich mit der Ausweitung der Märkte wurden tatsächlich immer mehr Bestimmungen, Zölle und Gesetze festgelegt oder erlassen. Mit diesen Gesetzen wurde die Kinderarbeit, die Arbeitssicherheit, aber auch die Durchführung von Bankgeschäften geregelt.

Heute funktioniert das System der ineinander verzahnten Märkte im internationalen Maßstab. Und das, was Polanyi einst am englischen Beispiel beobachtet hatte, geschieht heute in der ganzen Welt, nämlich die Zerstörung der Gesellschaft in riesigem Umfang. Wenn wir den Markt, der solche vielfältigen Dienste leistet, schützen wollen, dann müssen wir ihn paradoxerweise kontrollieren und ihn daran hindern, sich selbst und uns gleich mit zu vernichten.

Dieser Aufgabe ist das Triumvirat aus Weltbank, IWF und Welthandelsorganisation nicht gewachsen, denn sie kämpfen für noch mehr Deregulierung, für die Zunahme der Privatisierungen, für die zwangsweise Einbeziehung jeder Gruppe, der Natur und der Arbeit in die Mechanismen des Weltmarktes. Nach ihren Kriterien sind sie überaus erfolgreich, denn das von ihnen gepriesene System scheint sich ja überall durchzusetzen. Lawrence Summers, ehemals leitender Wirtschaftsexperte der Weltbank und jetziger Unterstaatssekretär im Finanzministerium, hat erklärt: „Man vergißt oft, daß die Gesetze der Wirtschaft denen der Technik entsprechen: Es gibt nur eine bestimmte Anzahl davon, und die ist überall anwendbar.“10

Weil jene Kräfte fehlen, die dem dominierenden Modell ein neues Projekt entgegenzusetzen vermöchten, sollte man nicht hoffen, die Vereinten Nationen seien durch ein System ersetzbar, das eine Lösung für die gegenwärtigen und zukünftigen Gefahren anböte. Es gibt dennoch einige Faktoren, die auf eine Veränderung hindeuten: Dazu gehören zum Beispiel die wachsende Unzufriedenheit der Menschen, die Unfähigkeit der Politiker, darauf eine Antwort zu finden, die von Spekulanten unternommenen Angriffe auf schwache Währungen und auch die Panikreaktionen der Investoren. Hinzu kommen noch zwei andere Elemente, die die Regierenden zum Handeln zwingen könnten: die Zerstörung der Umwelt und die Zunahme bewaffneter Konflikte.

Natürlich wird sich die Umweltzerstörung nicht in einer Explosion entladen wie im Falle der mexikanischen Krise. Aber Phänomene wie das Ausbleiben der Fischströme, die Abholzung der Wälder, der Rückgang der Artenvielfalt, die Ausdünnung der Ozonschicht, die Bodenerosion, der Wassermangel, die in der Nahrung enthaltenen Gefahren und die Belastungen durch Umweltgifte lassen sich auf lange Sicht nicht verheimlichen. Die Hälfte der Fläche der Vereinigten Staaten wird von „gefährdeten Ökosystemen“11 gebildet. Die größten Versicherungsgesellschaften sind durch Klimaänderungen sehr beunruhigt, da diese, wie sie nicht ohne Grund glauben, die Ursache für tropische Stürme, Überschwemmungen und andere Katastrophen sind, die für die Unternehmen sehr kostspielig werden können.

Die Umweltproblematik ist dem Markt völlig fremd. Die Preise auf dem Markt spiegeln die Verluste an natürlichem Kapital nicht wider. Der Export von Holz oder Fisch etwa wird lediglich als Einkommen berechnet, die Kosten der Zerstörung hingegen werden nicht in Betracht gezogen.

Der Markt berücksichtigt ebensowenig die sogenannten externen Effekte wie die Ausbreitung von Krankheiten und die Fruchtbarkeitsverluste. Das System der Preise kann uns nur im nachhinein Erklärungen über die gesellschaftlichen und umweltbedingten Kosten von Industrieabfällen liefern. Wer könnte schon den Verlust in Zahlen angeben, wenn das Mittelmeer stürbe?12

Die Zunahme bewaffneter Konflikte

DIE bestehenden Institutionen sind nicht im geringsten in der Lage, auf diese Herausforderungen eine angemessene Antwort zu geben. Man müßte ein ganz anderes System für den internationalen Kapital- und Technologietransfer schaffen, denn die Armen werden die Umwelt nicht schützen, wenn sie dadurch Einschränkungen in Kauf nehmen müssen, die ihr eigenes Überleben gefährden. Selbst wenn sie wissen, daß sie damit ihre Ressourcen abgraben und die eigene Zukunft aufs Spiel setzen, werden sie Bäume fällen und intensiv Landwirtschaft betreiben, um hier und heute etwas zu essen zu haben.

Die neue Weltorganisation müßte die Macht haben, Steuern zu erheben; es dürfte nicht sein, daß sie auf Beitragszahlungen ihrer Mitglieder angewiesen ist. Bewaffnete Konflikte – das gilt zumindest für diejenigen in der Dritten Welt – sind zu einem großen Teil die Folge von Armut, zunehmender Ungleichheit und der Umweltzerstörung, denen die Regierungen hilflos gegenüberstehen.13

In etwa siebzig Ländern werden zur Zeit gewalttätige politische und soziale Auseinandersetzungen geführt. Es gibt rund siebenundvierzig Millionen Flüchtlinge und Vertriebene (gegenüber fünfunddreißig Millionen im Jahr 1990). Die Unsicherheit in den Ländern und unter den Völkern dieser Welt nimmt zu, und mit ihr wachsen die politischen und sozialen Gefahren.

Eine wichtige Rolle bei der Verschlechterung der Situation spielt die Schuldenkrise. Dan Smith hat in seiner Studie über den „Bumerang-Effekt der Verschuldung“ nachgewiesen, daß die Länder der Dritten Welt, die diesbezüglich die größte Last zu tragen haben – ganz egal, ob es um die Höhe der Schulden oder um die Belastung durch die Schuldentilgung geht –, am ehesten in Kriege verwickelt werden: für den ersten Fall trifft dies auf zwei Drittel zu, für den zweiten Fall auf die Hälfte der Länder.

Dan Smith schreibt: „Langandauernde Kriege sind noch stärker mit dem Phänomen der Verschuldung verknüpft: Von vierundzwanzig der siebenundzwanzig Staaten, die seit mehr als zehn Jahren in kriegerische Auseinandersetzungen verwickelt sind, liegen Zahlen über ihre Schuldensituation vor. Diesen Zahlen zufolge sind achtzehn, das heißt drei Viertel von ihnen, stark verschuldet.“14

Schuldenproblematik, Umweltzerstörung und bewaffnete Auseinandersetzungen bedingen sich wechselseitig. Deshalb ist es notwendig, eine neue internationale Organisation zu schaffen, die diese Faktoren in einem globalen Rahmen, in ihrem Gesamtzusammenhang angehen könnte. Die Entscheidungen der Bretton-Woods-Institutionen müssen für die Bürger und für die internationale Gemeinschaft nachvollziehbar werden. Die internationale Gemeinschaft müßte über Möglichkeiten verfügen, diese Institutionen zur Rechenschaft zu ziehen.

Die multinationalen Unternehmen müßten einen Verhaltenskodex respektieren und müßten zur Finanzierung der neuen internationalen Organisation und der an bestimmte Bedingungen geknüpften Transferleistungen, die den ärmsten Menschen in den entwickelten und unterentwickelten Ländern zugute kommen würden, ihren angemessenen Beitrag leisten.

Auch die Handelsbanken und der Devisentransfer müssen besteuert werden. Dies ist im UN-Programm für Entwicklung vorgesehen; die dort vorgeschlagene Steuer in Höhe von 0,05 Prozent würde jedes Jahr 150 Milliarden Dollar einbringen. Ein Sicherheitsrat für Wirtschaft und Umwelt würde den einzelnen Ländern zur Seite stehen, um den Gebrauch und die Zerstörung des natürlichen Kapitals zu überwachen und um dieses natürliche Kapital zu schützen. Zusätzlich sollte ein Büro zur Förderung des Einsatzes erneuerbarer Energien eingerichtet werden.

Diese Zielvorstellungen verfolgen keine Veränderung um der Veränderung willen, etwa weil das Bretton-Woods- System fünfzig Jahre alt ist: Die Veränderung ist notwendig, weil heute als erwiesen gelten kann, daß das gegenwärtige System nicht funktioniert. Im übrigen wird sich ohnehin alles ändern, die Frage ist nur, ob es friedlich und vernünftig geschehen wird – oder überstürzt und unter Kriegslärm.

dt. Christian Voigt

1 Zitiert nach Peter Passel, „How to Plan for the Next Great Bailout“, in: International Herald Tribune, 11./12. Februar 1995.

2 Vgl. hierzu insbesondere: Susan George, „Jusqu'au cou: enquête sur la dette du tiers-monde“, und: Susan George und Fabrizio Sabelli, „Kredit und Dogma – Ideologie und Macht der Weltbank“, Hamburg 1995.

3 Vgl. zum Beispiel: Erskine Childers und Brian Urquhart, „Renewing the United Nations System“, Development Dialogue, Nr. 1, Uppsala 1994.

4 Vgl. Susan George und Fabrizio Sabelli, a.a.O.

5 Siehe das Jahrbuch der PNUD, „Rapport sur le developpement humain“, vor allem die Jahresausgabe 1994.

6 Die Zahlen sind dem Wall Street Journal entnommen und wiederabgedruckt in: Courrier International, 2. Februar 1995. In seinem Buch „The Politics of Rich and Poor“ zeigt Kevin Philipps, daß ein Prozent der reichsten Familien während der Regierungszeit von Ronald Reagan ihr duchschnittliches Jahreseinkommen um fast 50 Prozent von 270 000 auf 404 000 Dollar steigern konnten.

7 Die Zeitschrift Forbes veröffentlicht jedes Jahr im Juli eine Liste der Milliardäre.

8 Vgl. den Beitrag von André de Lattre in der Sondernummer der Revue économique et financière (Juli 1994, Paris) zur Fünfzigjahrfeier des Bretton- Woods-Abkommens.

9 Erste amerikanische Ausgabe 1944. Deutsche Ausgabe, Wien 1977.

10 In einer Rede, die im November 1991 vom australischen Radio gesendet wurde. Vgl. Susan George und Fabrizio Sabelli, a.a.O.

11 William K. Stevens, „Study Finds Scores of Ailing U.S. Ecosystems“, International Herald Tribune, 16. Februar 1995.

12 Die Titelseite des New Scientist (4. Februar 1995) mit der Frage: „Das Mittelmeer: dreckig, gefährlich und zum Tode verurteilt?“, gefolgt von dem Artikel von Fred Pearce „Dead in the Water“ rechtfertigt diese Befürchtungen.

13 Vgl. Nina Graeger und Dan Smith, „Environment, Poverty, Conflict“, PRIO Report, Nr. 2, 1994, The Peace Research Institute, Oslo, und Thomas Dixon u.a., „Environmental Change and Violent Conflict“, in: Scientific American, Februar 1993.

14 Dan Smith ist der Autor des 6. Kapitels in dem Buch von Susan George, „L'Effet boomerang: choc en retour de la dette du tiers-monde“, Paris.

* Kodirektorin des Transnational Institute, Amsterdam. Zusammen mit Fabrizio Sabelli verfaßte sie „Crédits sans frontières“, Paris 1994.

Le Monde diplomatique vom 14.07.1995, von Susan George