Vom Mythos zur Geschichte
DIE Frage der Indigenen – die im offiziellen Sprachgebrauch des Landes „First Nations“ oder eben „Premières Nations“ genannt werden – stört die Vorstellung, daß Kanada aus „zwei Gründungsvölkern“ bestehen soll: Franzosen und Engländern. Die Frankophonen, die als einzige diese These massiv vertreten, machen geltend, daß die Indigenen nur 56 000 der 7,2 Millionen Einwohner der „Belle Province“ stellen. Sie seien aber weit davon entfernt, eine schikanierte Minderheit zu sein, vielmehr bildeten sie einen Landadel, der in den Genuß von vielen Sonderrechten, insbesondere Steuerbegünstigungen, käme, so der Quebecer Journalist François Dallaire.1 Und dies lediglich, weil ihre Vorfahren vor den anderen Einwanderern amerikanischen Boden betreten haben.
Diese „politisch unkorrekte“ Haltung kann Olive Patricia Dickason nicht teilen: In ihrem Buch zeigt sie auf, wie die Europäer einen Mythos des „edlen Wilden“2 aufgebaut haben, dem jeglicher Bezug zur Realität abginge und der nur die eurozentrische kulturelle Sicht widerspiegle. Marcel Fournier greift eine weitgehend stiefmütterlich behandelte Frage auf: Im Jahrhundert nach der Eroberung3 floß ein kontinuierlicher Strom französischer Auswanderer nach Quebec, was die starke Verankerung der französischen Traditionen in der Provinz erklärt. Dieses Phänomen hat aber das Entstehen von starken nationalistischen Tendenzen nicht verhindert. Vor zwei Jahren hat Gilles Gougeon Interviews mit sieben Universitätsangehörigen von Quebec zu dieser komplexen Frage geführt.4 Eine empfehlenswerte Lektüre, um zu begreifen, was bei der nächsten Volksabstimmung alles auf dem Spiel steht.
B. C.
1 François Dallaire, „Mon sauvage au Canada“, L'Harmattan, Paris 1995, 156 Seiten, 85 Francs.
2 Olive Patricia Dickason, „Le Mythe du sauvage“, Philippe Lebaud, Paris 1995, 300 Seiten, 138 Francs.
3 Marcel Fournier, „Les Français au Québec“, 1765–1865, Les éditions du Septentrion, Sillery (Quebec), 390 Seiten, 30 Dollar.
4 Gilles Gougeon, „Histoire du nationalisme québécois. Entrevues avec sept spécialistes“, VLB éditeur, Montreal 1993.