Was geschieht mit den „First Nations“?
KURZ vor der baldigen Volksabstimmung über die Unabhängigkeit von Quebec ist das Verhältnis zwischen den Weißen und den Ureinwohnern Kanadas – den „First Nations“ – immer noch von Spannungen gezeichnet, insbesondere in den städtischen Agglomerationen. Die Indigenen der Provinz wehren sich entschieden gegen die Pläne zur Aufteilung Kanadas, die ohne ihre Zustimmung geschmiedet werden. Die Provinz Quebec tut sich schwer, den anderen Kulturen die Rechte einzuräumen, die sie sich selbst einst erkämpfte.
Von unserem Sonderkorrespondenten Philippe Bovet *
Bis zum Juli 1990 kannte man das dreißig Kilometer westlich von Montreal liegende Dorf Oka allenfalls wegen des Käses und der Pasteten aus dem Trappistenkloster. Die 1 800-Seelen- Gemeinde beschloß jedoch zu diesem Zeitpunkt, ihren Golfplatz zu vergrößern und dazu kurzerhand einige Mohawk- Indianer zu enteignen, die am Rand des Dorfes lebten. Um ihren angestammten Rechten Gehör zu verschaffen, blockierten die Indianer daraufhin die Durchgangsstraße „Route 344“ sowie die Mercier-Brücke, eine der Hauptverbindungen nach Montreal, und legten damit die Stadt lahm. Der Konflikt dauerte 78 Tage, und zu seiner Beilegung wurden 3 000 Soldaten der kanadischen Armee eingesetzt. In Oka selbst kam es zu einer bewaffneten Auseinandersetzung, die auf seiten der Polizei einen Toten forderte.
Obwohl mittlerweile der Plan, den Golfplatz von Oka zu vergrößern, fallengelassen wurde, sind die Mohawk noch immer dem Volkszorn ausgesetzt. Sie leben im Grenzgebiet der kanadischen Provinzen Ontario und Quebec sowie des US-Bundesstaates New York, einer der wohlhabendsten Regionen von ganz Nordamerika1, und zögern nicht, von den Lücken im Steuersystem zu profitieren. Diesseits der Grenze kaufen sie Güter ein und verkaufen sie jenseits. Vor allem Zigaretten wurden zu fast der Hälfte des Preises in den USA eingekauft und in Kanada weiterverkauft, bis sich Ottawa im Februar 1994 zu einer radikalen Steuersenkung für Tabakwaren entschloß und so den Schmuggel wirtschaftlich uninteressant machte.
Paul Charest, Professor für Ethnologie an der Universität Laval von Quebec, beschreibt die Situation so: „Noch nie ist ein von Weißen und Ureinwohnern unterzeichneter Vertrag von den Weißen eingehalten worden. Für einige Mohawk stellt die Grenze zwischen den Vereinigten Staaten und Kanada also eine reine Angelegenheit der Weißen dar; sie betreiben ihren Handel und kümmern sich nicht weiter darum.“
Man kennt sie schlecht, die indigenen Völker Kanadas (siehe Karte Seite 8). Nicht selten werden sie auf die Rolle als Sozialhilfeempfänger reduziert. Oft werden sie als „Alkoholiker“, „Faulpelze“ und „Ausbeuter“ beschimpft, die auf Kosten des Staates leben. Es heißt, die Ureinwohner würden weder Steuern noch Gebühren bezahlen. Falsch! Es heißt, in den Reservaten würden sie weder Miete noch Strom bezahlen. Auch falsch!2 Paul Charest fügt hinzu: „Solange die Indigenen den Weißen geholfen haben, das Land zu entdecken, wurden sie als Freunde behandelt. Heute – wo sie vor den Toren der Metropolen stehen – werden sie als Störfaktor angesehen. Lieber idealisiert man sie als edle Wilde, die weit im hohen Norden als Jäger und Fischer leben.“
Ein Leben lang Enteignungen und Vertreibungen
IM Reservat Betsiamites, 700 Kilometer weiter nördlich, leben 2 300 Stammesangehörige der Montagnais am Ufer des Sankt-Lorenz-Stroms. Auf der einen Seite das Brausen des 30 Kilometer breiten Flusses, auf der anderen die Geheimnisse eines tiefen Waldes – durchpflügt von Strommasten. „Wir haben ein Leben voller Enteignungen hinter uns“, erklärt Marcelline Kanapé, die Vorsitzende des Stammesrates – des Band Council3 – von Betsiamites, „denn die Staudämme, die Verwüstungen der Bergbauindustrie, der saure Regen, der Kahlschlag der Papierindustrie – das alles hat unsere tausendjährige Kultur im Innersten getroffen.“
Dennoch ist es für die Stammesratsvorsitzende erstaunlich, daß die nationale Elektrizitätsgesellschaft Hydro- Québec4 noch auf den Gedanken kommt, das Nachwachsen der Vegetation unter den Hochspannungsleitungen mit dem Versprühen von Chemikalien aus dem Flugzeug bremsen zu wollen. Die Menschen im Reservat, das eine Gesamtfläche von 255 Quadratkilometern umfaßt, leben noch immer als Sammler und Jäger. Die chemischen Produkte würden ungehindert in ihre Nahrungskette eintreten. Doch was zählen die Befürchtungen einiger indigener Jäger und Sammler angesichts der Argumente der Techniker und Ingenieure, die vom großen Geschäft mit dem Stromexport in die USA träumen? Die Nationalstraße 138 führt längs der nördlichen Seite des Sankt-Lorenz-Stroms und endet in Havre-Saint-Pierre, einer Hafen- und Bergbaustadt 400 Kilometer stromabwärts von Betsiamites. Danach gibt es nur noch zwei Straßenabschnitte, die nicht miteinander verbunden sind und immer wieder von dichtem Wald unterbrochen werden. Sie erstrecken sich nach Labrador, mal hier hundert Kilometer, mal dort fünfzig Kilometer weit. Ein Zwei-Milliarden- Dollar-Projekt5 soll diese Schotterstraßen zusammenfügen, um Montreal direkt mit Labrador zu verbinden. Die Befürworter einer solchen Idee verfolgen dabei eindeutig touristische Interessen. Die Innu haben sich aber zum Ziel gesetzt, solche Pläne zum Scheitern zu bringen; sie stellen sich eine Zukunft vor, in der das Automobil nicht die beherrschende Stellung einnimmt. „Die moderne Welt ist völlig verwestlicht“, erklärt Lyla Andrew, die damit beauftragt ist, sich um die sozialen Angelegenheiten der Innu-Gemeinschaft6 von Sheshatshit zu kümmern. „Ein Weißer kann sich in allen Hauptstädten dieser Welt heimisch fühlen. Nicht aber ein Innu; seine Heimat sind seine Wälder.“
Dieses Ureinwohnervolk wehrt sich regelmäßig gegen die Tiefflüge bis zu dreißig Metern über dem Boden, die vom militärischen Stützpunkt Goose Bay aus starten. Nato-Düsenjäger der deutschen, britischen und niederländischen Luftwaffe üben auf Innu-Land. Jedes Jahr fliegen die Jets bis zu 10 000 Einsätze, jeder Tiefflug dauert zwischen 60 und 90 Minuten. „Die Weißen und die Innu reden völlig aneinander vorbei. Für die Nato ist Labrador bloß ein unermeßlich großes, spärlich besiedeltes Übungsterrain. Aus ihrer Sicht richtet sie keine langfristigen Umweltschäden an, denn die Weißen, die auf dem Luftwaffenstützpunkt arbeiten, bleiben immer nur einige Jahre dort, bevor sie weiterziehen“, ergänzt Lyla Andrew.
Überall in Kanada ist das Zusammenleben von Weißen und Indigenen von Konflikten gekennzeichnet. Doch in Quebec7 ist die Situation um einiges paradoxer: Die kulturelle und sprachliche Eigenart dieser Provinz wurde 1969 anerkannt. Doch gleichzeitig tut sich die Regierung in Quebec schwer, den anderen Kulturen auf ihrem Gebiet die gleichen Rechte einzuräumen. Dabei besteht Kanada aus drei verschiedenen Bevölkerungsgruppen: die im ganzen Land verstreut lebenden Indigenen, die vor allem in Quebec ansässigen Frankokanadier und die Nichtindigenen und Nichtfrankophonen in den übrigen Provinzen. „Unter diesen drei Flaggen segelt das kanadische Schiff“, erklärt Rémi Savard, Ethnologe an der Universität von Montreal. „Die dritte Flagge versucht immer größere Befugnisse der Zentralregierung durchzusetzen, wohingegen die jahrhundertelange Unzufriedenheit der beiden anderen Flaggen angesichts des schrumpfenden politischen Freiraumes, den ihnen die kanadischen Institutionen noch lassen, immer mehr zur Verzweiflung wird.“8
Auf die Frage, warum Quebec keine Minderheitenpolitik entwickelt hat, antwortet Rémi Savard: „Daß die beiden kleinen Flaggen, die mit dem politischen Kleinmut des Landes unzufrieden sind, sich gegenseitig das gleiche Territorium streitig machen, hat dazu geführt, daß sie sich nicht zusammentun, sondern sich oft gegenseitig als Konkurrenten ansehen. Ein solcher Verdrängungskampf ist nur in Quebec möglich. Diese Schwierigkeiten nagen an den Grundfesten der kanadischen Institutionen. Man kann diese Krankheit als Unfähigkeit diagnostizieren, sich politische Strukturen vorzustellen, die dem Pluralismus Raum schaffen.“ Und um es ganz klar zu machen, fügt er hinzu: „In einem Land, das ohnehin von Pluralismus keine Vorstellung hat, ist Quebec der empfindlichste Teil.“9
In der Oktoberausgabe 1993 äußerte die amerikanische Monatszeitschrift National Geographic einige Zweifel zur Politik von Hydro-Québec gegenüber der indoamerikanischen Gruppe Cri: „Alles geschieht in einer so entlegenen und dünn besiedelten Gegend, daß Hydro-Québec sich kaum genötigt sieht, die Indigenen zu konsultieren. Das Unternehmen glaubt, daß die Cri das Staudammprojekt als Triumph der Technologie ansieht und nicht als Bedrohung ihrer Lebensweise.“ Die Reaktion von Christos Sirros, dem damaligen Minister für indianische Angelegenheiten der Provinz Quebec, war eindeutig: „Die Cri muß aufhören, das Image von Quebec zu schädigen.“10
Zwei Jahre zuvor hatte der englischsprachige Leitartikler Peter Newman über die Forderungen von Quebec an den Bundesstaat geschrieben: „Wie wäre es, wenn wir die Frankophonen finanziell entschädigten und von ihnen dafür verlangten, daß sie auf ihre spezifische Quebecer Kultur einschließlich Sprache, Essen und Freizeit verzichten?!11 Mit dem gleichen Vergnügen, die Perspektiven auf den Kopf zu stellen, spöttelte der Cri-Chef Romeo Saganash kürzlich: „Der Premierminister von Quebec, Jacques Parizeau, ist nach Europa gereist, um seine Projekte voranzutreiben. Wir könnten es ihm gleichtun.“12
Der Inuit Winston White ist auf Baffin Island (Nord-West Territorien) geboren. Als er ins schulpflichtige Alter kam, wurde er 2 200 Kilometer weiter südlich, in Neufundland, in ein Internat gesteckt. Die Strecke dorthin mußte er mit dem Boot zurücklegen. „Ich bin jeweils nur im Sommer nach Hause zurückgekehrt. Ich fühlte mich zwischen zwei Kulturen hin und her gerissen, ich gehörte nicht zu derjenigen der Weißen, verstand aber auch meine eigene nicht mehr.“ Mit 53 Jahren vervollständigt er nun seine Sprachkenntnisse des Inuktituk, der Sprache der Inuit. Als Moderator präsentiert er auf dem Kanal von Radio Canada Nord Programme in englischer Sprache. Bald ist er nun aber so weit, daß er auch in seiner Muttersprache durch Sendungen führen kann. Der berufliche Werdegang von Winston White entspricht der Entstehung von Nunavut, das am 1. April 1999 das dritte Territorium von Kanada werden wird.13 An diesem Tag wird ein Gebiet von 2 200 000 Quadratkilometern von den Nord-West- Territorien abgetrennt und unter die Verwaltung der indigenen Bevölkerung gestellt. Auf inuktituk heißt Nunavut „unsere Erde“.14
Zum ersten Mal wird in Kanada eine Region mehrheitlich vor allem die ansässige indigene Bevölkerung vertreten.15 „Die Bundesregierung wird in der Öffentlichkeit ein paar Punkte zulegen“, vermutet André Légaré in einer Studie über die Inuit, „denn das Scheitern der vorangegangenen Konferenzen (zwischen der Regierung von Ottawa, den Provinzen und den eingeborenen Stammesvorsitzenden), aber auch die Auseinandersetzung mit den Mohawk von Oka haben mehrere kanadische Spitzenpolitiker überzeugt, daß sie ihre Beziehungen zu den ,First Nations‘ verbessern müssen.“16 Die Diskussionen, die schließlich zur Schaffung von Nunavut führten, haben achtzehn Jahre gedauert... John Amagoalik, einer der Hauptunterhändler der Inuit, gibt zu, „selbst wenn wir weder mit ihren Methoden noch mit dem Einsatz von Waffen einverstanden waren, so verdanken wir es doch den Mohawk, daß Kanada aufgewacht ist“. Zur Quebec-Frage meint John Amagoalik: „Sollte die Mehrheit des Südens von Quebec ohne Zustimmung der indigenen Bevölkerung im Norden einseitig die Unabhängigkeit erklären, könnte es zu Problemen kommen.“ Und Ghislain Picard, der Grand Chief der Assembly of First Nations von Quebec und Labrador – einer Organisation, die auf der Ebene der Provinz die Interessen der Indigenen vertritt –, fügt im gleichen Tenor hinzu: „Die indigenen Völker werden alle Versuche, Quebec von Kanada abzutrennen, energisch bekämpfen.“
dt. Maria Helena Nyberg
1 60 Prozent der kanadischen Bevölkerung lebt entlang der Wirtschaftsachse des Sankt-Lorenz- Stroms. Diese „Korridor“ genannte Wirtschaftszone führt von Montreal nach Toronto und weiter nach Windsor (das kanadische Gegenstück zu Detroit). Nach Schätzungen soll sie ungefähr 55 Prozent des Bruttosozialproduktes des Landes erzeugen.
2 Auszug aus dem Magazin Rencontre, eine Dreimonatszeitschrift, die vom Büro für indianische Angelegenheiten der Provinz Quebec herausgegeben wird. Im Frühling 1994 widmete die Zeitschrift sechs Seiten einem Ratespiel namens „Richtig oder Falsch“ über die Ureinwohner, bei dem acht aus alltäglichen Gesprächen aufgeschnappte Behauptungen und acht falsche Antworten abgedruckt worden waren.
3 Mit „band“ oder „bande“ – wie die Frankophonen Nordamerikas sagen – wird eine indigene Gemeinschaft bezeichnet.
4 Hydro-Québec gehört zu 100 Prozent der Provinz Quebec. Das Großunternehmen hat die Pläne zum Bau der Staudämme von James Bay ausgearbeitet, weltweit eines der größten Wasserkraftprojekte.
5 Im Juni 1995 war der kanadische Dollar 75 Pfennig wert.
6 Die Innu, auch Montagnais-Naskapi genannt, sind die Indigenen Labradors und Nord-Quebecs und nicht mit den Inuit zu verwechseln. Die Gemeinschaft von Sheshashit, 50 Kilometer nördlich von Goose Bay, zählt offiziell 887 Stammesmitglieder.
7 Kanada hat eine Gesamtbevölkerung von 26,9 Millionen Einwohnern, davon leben 7,2 Millionen in Quebec.
8 Culture, Magazin der kanadischen Ethnologengesellschaft, 1992, Vol. XII.
9 ebd.
10 Le Devoir, Montreal, 3. November 1993.
11 Maclean's, Toronto, 16. September 1991.
12 Globe and Mail, Toronto, 3. Februar 1995.
13 Der Bundesstaat Kanada besteht aus zehn Provinzen und zwei Territorien (Yukon und die Nord- West-Territorien).
14 Siehe Ignacio Ramonet, „Sculpter l'identité Inuit.“ Le Monde diplomatique, Juli 1989.
15 Siehe Fulvio Caccia, „Vers la balkanisation tranquille du Canada“, Le Monde diplomatique, Oktober 1992.
16 „Projet Nunavut. Bilan des revendications des Inuits des Territoires du Nord-Ouest“, Études Inuites, Vol. 17, Nr. 2, 1993, Universität Laval in Quebec.
* Journalist, Paris