14.07.1995

Saigons gewalttätiges Wachstum

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Saigons gewalttätiges Wachstum

WIE Hanoi im Norden, das seine historisch gewachsene Bausubstanz durch zügellose Immobilienspekulation zerstört, begeht auch Ho-Chi- Minh-Stadt (das ehemalige Saigon) im Süden nach einer langen Armutsperiode alle Sünden, die so viele Städte Asiens unwirtlich machen. Zwanzig Jahre nach dem Sieg und der Wiedervereinigung stürzt sich ganz Vietnam in ein planloses Wachstum, das die politische Demokratie nicht voranbringt, die sozialen Gräben aber vertieft.

Von unserer Sonderkorrespondentin GERTRUD WINKLE *

Für viele Einwohner Ho-Chi-Minh- Stadts (die von allen, selbst von Parteimitgliedern, nach wie vor Saigon genannt wird) bedeutete der 30. April 1975 nicht so sehr die Wiedervereinigung ihres Landes als vielmehr den Beginn einer langen Periode von Entbehrungen, Enttäuschungen und Verboten. Die Feier am 30. April dieses Jahres, zwanzig Jahre danach, galt vor allem dem Erfolg der 1986 begonnenen Politik des doi moi (der Erneuerung) sowie der Bestätigung des politischen Status quo. Vorbei sind die Jahre der Armut, in die die kommunistische Orthodoxie die Stadt gestürzt hat. In Saigon herrscht wieder die alte Dynamik.

Vom hintersten Winkel Cholons, der Chinesenstadt im Südwesten des Ballungszentrums, bis zur östlichen Ausfahrt auf die Straße Nr. 1, die nach Hanoi führt, macht sich überall wieder ein emsiger Kleinhandel breit: Es wimmelt von ambulanten Suppenküchen, Zigarettenverkäufern, kleinen Restaurants und Straßencafés. Nach der Legalisierung des Privateigentums wurde nach und nach das Ersparte unter den Matratzen hervorgeholt, später kamen größere Auslandsinvestitionen hinzu. Mehrere internationale Hotelketten haben im Zentrum Dependancen eröffnet, um den Geschäftsleuten den Luxus zu bieten, den sie verlangen.

Für die große Mehrzahl der Vietnamesen kann von Luxus keine Rede sein, aber auch sie profitieren vom Wachstum und von der Liberalisierung. In den stets vollen Diskotheken und Karaokeclubs werden Hits der siebziger Jahre und chinesischer Sprechgesang, der in den Studios von Hongkong rhythmisch neu abgemischt wurde, aus ihrem Dornröschenschlaf geweckt. Die Kleider, die in den Boutiquen angeboten werden, sind immer raffinierter und ahmen exakt die westlichen Vorbilder nach. Gierig fallen die Frauen Saigons über die Kosmetika her, auch wenn sie immens teuer sind. „Die Mädchen lackieren sich die Nägel und schminken sich wieder, wie vor 1975. Niemand hat mehr Angst, einen Minirock oder enganliegende Jeans zu tragen“, berichtet ein ehemaliger südvietnamesischer Soldat.

Dieser Konsumhunger macht sich besonders nachdrücklich auf den Straßen bemerkbar. Während Autos noch vor drei Jahren der Nomenklatura vorbehalten waren, nimmt ihre Zahl heute rapide zu. Gleichzeitig rollen fast eine halbe Million Motorräder, meist aus japanischer Produktion, durch die Fünfmillionenstadt. Das traditionelle Transportmittel Fahrrad dagegen wandelt sich allmählich vom Nutzfahrzeug zum Spielzeug: Mountainbikes drängen auf den Markt und erobern die Herzen der Jugendlichen, die auf der Höhe der Zeit sein wollen und gern ihr akrobatisches Können zum besten geben.

Das jährliche Bruttosozialprodukt beläuft sich in Saigon auf 840 Dollar pro Einwohner, das ist fast das Vierfache des Landesdurchschnitts. 71 Prozent der Haushalte haben einen Fernseher, 63 Prozent ein Motorrad, 24 Prozent einen Kühlschrank. Fast die Hälfte der Bevölkerung ist jünger als zwanzig Jahre; offiziellen Angaben zufolge können 83,71 Prozent der Saigoner zwischen sechs und vierzehn Jahren lesen und schreiben (bei der Gesamtbevölkerung beträgt die Rate 88 Prozent). Diese Zahlen, die – verglichen mit Ländern im selben Entwicklungsstadium1 – weit über dem Durchschnitt liegen, werden von ausländischen Investoren immer wieder gern zitiert: Überall werden die vietnamesischen Arbeitskräfte gepriesen, weil sie gebildet, strebsam, leistungsbereit und – natürlich – billig sind.

Korruption und Umweltverschmutzung

ALLE Bedingungen scheinen also erfüllt zu sein, damit der Aufschwung in Saigon weitergehen kann. Regelmäßig druckt die lokale Presse positive Statistiken ab, die von den westlichen Medien übernommen werden. Doch die Wirklichkeit ist komplizierter.

Neun Jahre nach der Einführung des doi moi verschärfen sich die Gegensätze zwischen einer noch immer gültigen politischen Orthodoxie und dem weiteren Ausbau der Marktwirtschaft.2 Die Führungskräfte der Wirtschaft brauchen gewisse Handlungsfreiheiten, doch der Staat hat Schwierigkeiten, sich endgültig von seinem extrem zentralistischen Verwaltungssystem zu lösen. Die guten Absichten, die man in Hanoi bekundet, werden systematisch von Funktionären der mittleren Ebene durchkreuzt, die im Staat lediglich eine Struktur feudalistischen Typs sehen. Die Korruption in den Ämtern hält an und nimmt sogar noch zu, da die Beamten Schmiergeld nehmen müssen, um halbwegs angemessen leben zu können. „Im Gegensatz zu anderen asiatischen Ländern betrifft die Korruption nicht die wirklich hohen Posten“, meint ein Geschäftsmann. „Die Minister sind sauber, aber auf der mittleren Stufe der Hierarchie werden die Abläufe blockiert und Geschenke von 500 bis 10 000 Dollar entgegengenommen.“

Die wachsende Zahl ausländischer Unternehmen hat stark dazu beigetragen, das Problem zu verschärfen. Welches Unternehmen einen Zuschlag erhält, hängt nicht allein von dessen technischen Kapazitäten ab, sondern auch davon, wieviel es in das Räderwerk zu investieren bereit ist, in dem die Entscheidungen gefällt werden. Da viele Vietnamesen ihren Arbeitsplatz oft schon mehr als einmal verloren haben, versuchen alle heute einzustreichen, was sie morgen vielleicht nicht mehr bekommen können. Habsucht ist zu einer durchgängigen Gepflogenheit geworden und macht sich in einer ganzen Reihe kleiner Alltagsgaunereien bemerkbar. Die Preise variieren nicht nur von Laden zu Laden, sondern auch von Kunde zu Kunde. Und gegen die Ungerechtigkeiten der Regierung leisten nur die sittsamsten Vietnamesen Widerstand, während die übrigen lieber Betrug begehen. In einigen neuen Wohnvierteln Saigons wird das Stromnetz illegal angezapft, um die Rechnung niedrig zu halten, und ein schwer einzuschätzender Teil des städtischen Verbrauchs taucht in den offiziellen Berechnungen nie auf. So gibt es also tatsächlich ein Wachstum, aber Ho- Chi-Minh-Stadt schlägt dabei den klassischen Weg der polypenartig wuchernden Städte Asiens ein, deren „Wirtschaftswunder“ man allenthalben rühmt, ohne näher auf den Preis zu achten, der dafür gezahlt wird.

Die Umweltverschmutzung hat dramatische Dimensionen angenommen. Die rege Bautätigkeit, die seit geraumer Zeit in ganz Saigon herrscht, hat zur Folge, daß die Staubdichte in den Straßen bei 0,64 Milligramm pro Kubikmeter liegt – das Doppelte von dem, was nach internationalen Normen als tolerierbar gilt. Eine noch größere Gefahr stellen die toxischen Gase dar: 60 Prozent davon verursacht der Straßenverkehr, 30 Prozent die Industrie, eine Proportion, die verständlich wird, wenn man das hohe Durchschnittsalter der Fahrzeuge berücksichtigt. Die meisten Autobusse und LKWs, deren Durchfahrt durchs Stadtzentrum gesetzlich nicht klar geregelt ist, haben eine Schadstoffemission, die sechsmal (an manchen Kreuzungen achtmal) so hoch ist als der bei uns übliche Grenzwert.

Die Verschmutzung der Kanäle – nicht mehr als offene Abwasserkanäle, an deren Ufern Hunderttausende von Armen leben – wird von den Experten als nicht sanierbar erachtet. Der Fluß Sai Gon und sein Nebenfluß Dong Nai – die Trinkwasserquelle der Stadt – sind regelmäßig Opfer großer Umweltvergehen. 1994 gab es zwei Unfälle, bei denen 200 Tonnen Heizöl und 1 700 Tonnen Dieselöl in die Wasserläufe nahe der Stadt flossen. Die Stadtverwaltung arbeitet an einem Plan zur Erneuerung des Trinkwassernetzes, an das bislang nur 250 000 Personen angeschlossen sind. Doch die ganze Stadt ist sanierungsbedürftig, und bis heute wurde das Thema auf höchster Ebene nur angetippt. Wie die lokale Presse schreibt, will man im Laufe der nächsten Monate erste Maßnahmen ergreifen, die von Frankreich und der asiatischen Bank für Entwicklung vorfinanziert werden.

Ho-Chi-Minh-Stadt leidet stark unter dem Fehlen jeglicher städtebaulichen Planung. In amtlichen Verlautbarungen wird zwar betont, daß man Irrtümer wie in Bangkok vermeiden müsse, aber einen langfristigen Entwurf scheint es nicht zu geben. Aus Anlaß des Jahrestags am 30. April wurden die Fahrbahnmarkierungen der Hauptverkehrsadern erneuert, und im Zentrum wurde eine Fläche von 300 000 Quadratmetern gepflastert. Doch was bedeuten diese Investitionen in Höhe von 2,7 Millionen Dollar, wenn man die Stadt ansonsten sich selbst überläßt?

Täglich wird Saigon, das in der Kolonialzeit für nur ein Zehntel seiner heutigen Einwohnerzahl konzipiert worden war, etwas mehr vom Verkehr erstickt. Wohnviertel schießen in Zentrumsnähe wie Pilze aus dem Boden. In den drei Meter breiten Gäßchen verlaufen die verzwirbelten Strom- und Telefonkabel dicht vor den kleinen Balkonen, unter Mißachtung der elementarsten Sicherheitsvorschriften. Und jedem Eigentümer, der nur einigermaßen mit den örtlichen Behörden zu „verhandeln“ weiß, steht es frei, sein Haus um zwei, drei oder auch vier Etagen aufzustocken, ohne daß die Frage nach der Bevölkerungsdichte auch nur gestellt würde.

Das in der Vergangenheit so gepriesene architektonische Erbe Saigons wird durch die zügellose und unkoordinierte Bautätigkeit gefährdet. Der Wunsch, modern zu sein, und das allgemeine Investitionsfieber drohen das Gleichgewicht der Stadt zu zerstören, da man darüber vergißt, mit den existierenden Strukturen behutsam umzugehen. Ein Spezialist schreibt: „Einige Kolonialhäuser zeugen von der intellektuellen Aufbruchstimmung der zwanziger und dreißiger Jahre und vom Einfluß des deutschen ,Bauhauses‘. Doch der Reichtum Saigons beruht vor allem auf seiner Überschaubarkeit, auf den schnurgerade angelegten Boulevards im französischen Stil, den Einfamilienhausgegenden des 3. Bezirks, der ausgewogenen Bebauung im Innenstadtbereich.“ Eine wichtige Rolle spielen auch politische Kompetenzstreitigkeiten. Das Militär, insbesondere die Marine, ist immer noch Eigentümer großer Grundstücksflächen und weigert sich, sie den städtischen Behörden zu überlassen. Bei solchen Machtkonflikten zwischen den verschiedenen Staatsorganen bleibt vom Gedanken des Gemeinwohls nicht viel übrig.

Dies alles ist um so beunruhigender, als die Bevölkerungsdichte alarmierende Ausmaße annimmt: Nur ein Fünftel der 5,5 Millionen Einwohner Saigons lebt in Vororten, der Rest im 300 Quadratkilometer großen Stadtgebiet. Die mittlere Bevölkerungsdichte liegt hier bei 23 200 Einwohnern pro Quadratkilometer, in einigen Gebieten sind es sogar 80 000. Im Jahr 1975 standen pro Kopf im Durchschnitt 7 Quadratmeter zur Verfügung, 1993 nur noch 5,8. Und die Regierung schätzt, daß in nächster Zeit zwischen 1,5 und 2 Millionen Quadratmeter Wohnraum pro Jahr geschaffen werden müssen, wenn man den Bedürfnissen der Bevölkerung gerecht werden will.

Die Stadtverwaltung hat offiziell 67 000 Elendsquartiere gezählt. Dort leben all die, die das Wachstum links liegengelassen hat. Die sozialen Gräben werden tiefer. Es gibt kaum noch Zwischenstadien zwischen der völlig verarmten Familie, die auf Marktplätzen die Abfälle durchwühlt und dem einfachen Staatsangestellten, der sich dank seiner kleinen Nebenverdienste hier und da einen Videorecorder und ein Auto vom neuesten Modell leisten kann. Langsam bildet sich eine Mittelschicht heraus, während zugleich eine Unzahl von Ausgeschlossenen das „Wirtschaftswunder“ miterlebt, ohne etwas davon zu begreifen geschweige denn an ihm teilzuhaben. Allenfalls gelingt es einigen Bettlern, Behinderten oder Kriegsversehrten manchmal, strategisch günstige Orte wie von Ausländern besuchte Plätze, Märkte und Pagodenausgänge zu besetzen, um dort die Krümel eines Wachstums zu ergattern, das ihnen verweigert wird.

Und dann die Kinder. Sie haben ihre Familien in Hanoi, dem Zentralen Hochland oder dem Mekong-Delta verlassen – einige aus wirtschaftlichen Gründen, andere, weil die Gewalt für sie unerträglich geworden war. „Das Straßenkind ist von zu Hause fortgelaufen, weil man es dort mißhandelte und endlich los sein wollte“, sagt der Vertreter einer französischen regierungsunabhängigen Organisation. „Kinder hingegen, die weggegangen sind, um Geld zu verdienen, halten gewöhnlich den Kontakt aufrecht und ernähren bisweilen sogar die ganze Familie. Sie befinden sich in einer völlig anderen seelischen Verfassung und schlafen nicht auf der Straße.“ Die Zahl dieser Kinder scheint jedoch nicht wesentlich anzusteigen.

Allerdings macht die Gewalt auch vor den Wohlhabenderen nicht halt. Die Familienstruktur gerät durch die lange Kriegszeit und den raschen Wandel der Gesellschaft ins Wanken. Gerade jetzt, da sich in der Gesellschaft wieder ein numerisches Gleichgewicht der Geschlechter herstellt, weil die Kernfamilie durch die Rückkehr der Männer von der Front oder aus den sogenannten Umerziehungslagern wieder ins Gleichgewicht kommt, hat die Familie paradoxerweise die größten Schwierigkeiten, ihrer alten Rolle gerecht zu werden. „Die Familie ist in unaufhaltsamer Auflösung begriffen. Sie ist keine Gemeinschaft mehr, sondern nur noch eine lockere Vereinigung von Individuen“, beklagt sich ein Kinderarzt.

Auch die großen religiösen Einrichtungen sind bedroht, da das Konsumbedürfnis für geistliche Dinge keinen Raum mehr läßt. Der Buddhismus versucht, unter der Haube des Schweigens zu überleben, die die Regierung ihm aufgezwungen hat. Die meisten seiner Führer sitzen hinter Schloß und Riegel oder halten sich im hintersten Winkel abgelegener Pagoden versteckt; seine wichtigsten Sprecher, die Verstöße gegen die Menschenrechte und Beschränkungen der Meinungsfreiheit offen angeprangert haben, waren bislang die einzigen echten Dissidenten. Die katholischen Oberhirten, die ein wenig von ihren verbesserten Beziehungen zur Regierung profitieren, müssen ohnmächtig zusehen, wie die Gläubigen ihnen davonlaufen. In der Klemme zwischen der bedingungslosen Treue zu Rom und der Notwendigkeit, sich grundsätzlich zu erneuern, steht die Kirche vor einer Zerreißprobe. „Der Diözesanverwaltung zufolge gibt es in Ho- Chi-Minh-Stadt noch 480 000 Katholiken. Der Niedergang wird sich unerbittlich fortsetzen, wenn es uns nicht gelingt, uns auf die neuen Wirtschaftsverhältnisse einzustellen“, meint ein Priester. Und unter Hinweis auf die vielen Jugendlichen, die sonntags der Messe vor der Kathedrale Notre-Dame beiwohnen, ohne es für nötig zu halten, vom Motorrad abzusteigen, fügt er hinzu: „Es gibt keinen Eifer mehr, keine Anteilnahme. Ein Glaube also, dem jede Reife fehlt.“

Der Staat seinerseits vernachlässigt seine traditionellen Hoheitsfunktionen. Die Aussicht, wegen des hohen Wachstumstempos schon bald der Association of South-East Asian Nations (Asean)3 beizutreten, hat die Machthaber veranlaßt, die Produktion auf Kosten des Sozialen zu fördern.

Von den Statistiken darf man sich nicht täuschen lassen: Das Erziehungswesen befindet sich in einem erbärmlichen Zustand. Zwar ist der Zugang zur Schule und zur Universität vor einigen Jahren demokratisiert worden, da mit der Einführung des doi moi die politischen Kriterien abgeschafft wurden, doch existieren zwei Erziehungssysteme nebeneinander: das erste ist den guten Schülern vorbehalten und praktisch umsonst (knapp 2 Mark pro Monat), das zweite ist von geringerer Qualität und kostspieliger (10 Mark). Immer mehr teure Privatschulen entstehen – die besten Reproduktionsinstrumente einer privilegierten Gesellschaftsschicht. Zumal, da die Lehrer an den öffentlichen Schulen kaum motiviert sind. Ihr Gehalt ist so kümmerlich, daß sie abends Privatstunden geben oder in Reisebüros als Übersetzer arbeiten müssen, um zu überleben.

Im Gesundheitswesen findet die gleiche Entwicklung statt: Privatkliniken werden gegründet, in denen sich am späten Nachmittag das Personal der öffentlichen Krankenhäuser einfindet. Es gibt immer mehr Zentren für Schönheitschirurgie, in denen Reiche ihre Eitelkeit befriedigen und Ärzte ihre Monatsbezüge aufbessern. Gleichwohl werden von regierungsunabhängigen Organisationen (NGO), der Unicef, der Weltbank usw. regelmäßig Gelder für die Einrichtung von Behandlungszentren bewilligt, und die Ausbildung der Mediziner hat ein zufriedenstellendes Niveau erreicht. Ab Ende des Jahres sollen im Krankenhaus von An Binh im 5. Bezirk sogar ausschließlich Arme behandelt werden – jene zumindest, die als solche anerkannt sind und noch Anspruch auf Fürsorge haben.

Die Presse, die wirkliche Anstrengungen unternimmt, ihre Aufgabe zu erfüllen, versucht den Sorgen und Ängsten der Bevölkerung eine Stimme zu geben. Doch die amtlichen Verlautbarungen, auch wenn sie einige überdeutliche Lücken in der Entwicklung eingestehen, verraten deutlich die eigentliche Obsession der Machthaber: Sie wollen möglichst viel ausländisches Kapital nach Ho-Chi- Minh-Stadt und ins ganze Land holen, einen Devisenmarkt aufbauen und erreichen, daß nach und nach alle staatlichen Unternehmen privatisiert werden. Sie behaupten, daß sie diese Entwicklung, die der Unabhängigkeit des Landes diene, fest im Griff haben, und ihre Euphorie wird im Westen von jenen geteilt, die unermüdlich von der politischen Stabilität und dem Pragmatismus der Regierung schwärmen. Alles, was das Bild eines in voller Wiedergeburt begriffenen Vietnams trüben könnte, wird ignoriert. Wie aber will man noch lange verbergen, was in Saigon schon heute augenfällig ist: das völlige Fehlen einer gesamtgesellschaftlichen Perspektive?

dt. Andreas Knop

1 In Bangladesch z.B., dessen Bruttosozialprodukt pro Einwohner ähnlich hoch ist wie das Vietnams (laut Weltbank 220 Dollar im Jahr), können nur 35 % der Bevölkerung lesen und schreiben.

2 Vgl. Nguyen Duc Nhuan, „Pour le développement durable du Vietnam“, Le Monde diplomatique, April 1993, und „Le Vietnam tourne la page“, Le Monde diplomatique, April 1994.

3 Asean umfaßt die Philippinen, Thailand, Malaysia, Singapur, Indonesien und Brunei. Vietnam hat seit einem Jahr einen Beobachterstatus und wird im Juli dieses Jahres Vollmitglied.

* Freie Journalistin, Singapur

Le Monde diplomatique vom 14.07.1995, von Gertrud Winkle