14.07.1995

Belebung der Ödnis

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Belebung der Ödnis

NACH dem Weltgipfel in Rio de Janeiro 1992 sollte sich alles ändern. Angefangen bei der Auffassung der Regierenden, die sich einer neuen Sicht von Entwicklung öffnen sollten. Drei Jahre danach hat sich nichts geändert: Das Modell des schrankenlosen Produktivismus breitet sich immer weiter aus auf dem Kontinent, auch und gerade in der Landwirtschaft. Doch andernorts wächst bereits der Widerstand, es werden Alternativen ersonnen – für eine ökologische Landwirtschaft und eine weltweit verträgliche Landkultur.

Von CHRISTIAN DE BRIE

Mit unerbittlicher Logik setzt die Intensivierung der Landwirtschaft ihr zerstörerisches Modell überall durch, obwohl die Schäden immer weniger von den Vorteilen ausgeglichen werden. „In der Dritten Welt sind die Schäden offensichtlicher, denn die brutale Unterwerfung der Bauern unter Zwänge des Marktes lassen ihnen keine andere Wahl, als aus ihrem Boden das Maximum herauszuholen, ohne ihn entsprechend zu regenerieren. Überweidung, Wasserverschmutzung, Erosion, Zerstörung der Wälder und Austrocknung des Grundwassers sind die Folgen, während zugleich die Bevölkerung und der Nahrungsbedarf weiter wachsen.“1

In Europa und Nordamerika muß der Landwirt wettbewerbsfähig bleiben, um zu überleben, und deshalb seine Produktivität steigern. So bearbeitet er vielfach eingeebnete, flurbereinigte und entwaldete Böden, die den Einsatz immer stärkerer Maschinen ermöglichen, und spezialisiert sich auf die ertragreichsten Sorten (siehe dazu den Kasten „Die Saat des Fortschritts“). Ein teuflischer Kreislauf, in dem die Monokultur und der Anbau von überzüchteten Rassen, die immer anfälliger werden, den Einsatz von immer mehr Dünger, Pestiziden und Pflanzenschutzmitteln gegen Parasiten erfordern, die immer resistenter gegen immer teurere und gefährlichere Mittel werden. Er überlebt, indem er seine weniger effizienten Brüder zur Aufgabe zwingt.2 Der Großteil der Agrarforschung konzentriert sich auf eine schrankenlose Produktivitätssteigerung vor allem im Bereich der genetischen Manipulation und der Biotechnologie. Das soll es den großen multinationalen Unternehmen ermöglichen, ihren Marktanteil, ihre Gewinne und ihre Macht im Nahrungsmittelsektor zu steigern.

Die Industrie und die Banken, die mit der landwirtschaftlichen Entwicklung als solcher nichts im Sinn haben, haben sich dieses Produktionssektors zwecks Gewinnoptimierung bemächtigt. Der Landwirt ist ein willfähriger Kunde für zunehmend teure Maschinen und Chemikalien. Er steht unter der Aufsicht der Banken, bei denen er auf Lebenszeit mit riesigen Summen verschuldet ist (über 200 Milliarden Dollar in den USA, wo man ungefähr eine Million Mark investieren muß, um in der Landwirtschaft einen Arbeitsplatz zu schaffen, mehr als in jedem anderen Sektor).

Seine Produkte, die wie in der Spielbank auf spekulativen Märkten gehandelt werden, zu denen er keinen Zugang hat, sind in den Augen der Nahrungsmittelindustrie Rohstoffe. Sie werden an der Grenze zum Selbstkostenpreis entgolten, ja sogar deutlich niedriger, sofern es staatliche Subventionen gibt, um – nach Verpackung und Einführung durch Werbung – von Supermarktketten drei- bis zehnmal teurer an den Konsumenten verkauft zu werden, wodurch die lokalen Produkte das Nachsehen haben.

Alle Faktoren betreffs Anbau und Tierhaltung werden mehr und mehr vom Computer verwaltet, der den Landwirt zu ersetzen trachtet, an seiner Statt wirtschaftet und ihm sein Vorgehen diktiert; dabei gehen Wissen und Erfahrung verloren. Diese Art von Entwicklung, die ebensoviel verschwendet, wie sie hervorbringt, erzeugt zu hohe Ausgaben für eine Überschußproduktion, deren Handhabung wiederum neue Kosten verursacht. Sie zerstört die genetische Vielfalt der Arten und die Qualität der Nahrungsmittel, die Fruchtbarkeit der Böden, das Grundwasser, die nicht erneuerbaren mineralischen Ressourcen und läßt die Menschen und ihre Kenntnisse verkümmern.

Dennoch ist es gerade diese hochverschuldete und unrentable Landwirtschaft – wenn man die verdeckten Kosten mit einrechnet –, die sich auf allen Märkten durchgesetzt hat. Internationale Einrichtungen, die USA und Europa, die bereits die Verringerung ihrer ländlichen Produzenten auf 3 Prozent der Erwerbspersonen programmiert haben, helfen dabei. Die weltweite expansive Entwicklung der Nahrungsmittelmärkte plus ein exzessiv praktiziertes Preisdumping haben dazu geführt, daß auf der ganzen Welt die traditionellen Versorgungssysteme aus dem Gleichgewicht gerieten, allen voran in Afrika. Mit unablässigen internationalen Transporten und Transfers werden künstliche Überschüsse und Verknappungen erzeugt. Zunehmend größere Teile der Bevölkerung sind nicht mehr in der Lage, sich selbst zu ernähren, und hängen von Importen ab, sofern Devisen verfügbar sind, oder, in schlimmen Fällen, von humanitärer Hilfe.

Angesichts dieser Macht sehen sich die Bauern im Norden und Süden mit denselben Problemen konfrontiert: Abhängigkeit, Landflucht, Verschlechterung der Umwelt und der Lebensbedingungen. Eine weltweite Ernährungskrise ist nicht unwahrscheinlich, wohingegen der Nahrungsmittelkrieg bereits Realität ist. Dabei wären genügend Ressourcen vorhanden, um die Bedürfnisse aller Menschen zu befriedigen. Auch wenn das produktivistische Modell kraft seiner scheinbaren Effizienz weiterhin vorherrscht, verliert es bereits an Glaubwürdigkeit. In Afrika, wo die nicht zu erreichende Integration in den Weltmarkt neue Ansätze hervorgebracht hat, wird es bereits in Frage gestellt.

Rund zehn Referenten, Landwirtschaftstechniker und Entwicklungsbeamte aus Burkina Faso, Benin, Kamerun, aber auch Brasilien und Neukaledonien, nehmen derzeit mit Geldern des Staates oder von regierungsunabhängigen Organisationen (NGO) an einem Ausbildungsprogramm in tropischer Agroökologie teil, das die Entwicklungshilfeorganisation Ciepad (Carrefour international d'échanges et de pratiques appliquées au développement) in Montpellier durchführt. Der praktische Teil wird in Burkina Faso stattfinden und keine Modelle oder technischen Rezepte liefern, sondern Methoden analysieren, evaluieren und erproben für eine landwirtschaftliche Entwicklung von Dauer, also eine Entwicklung, die Menschen und Umwelt respektiert und die gemeinsamen Probleme im tropischen und europäischen Umfeld zutage fördert.

Der agroökologische Ansatz, der eine gesicherte und autonome Ernährung der Bevölkerung durch die Aufwertung lokaler Ressourcen zum Ziel hat, entspricht eher der Bewirtschaftung als der Ausbeutung und verbindet landwirtschaftliche Entwicklung und Umweltschutz. Er setzt auf die organische Düngung der Böden und die Kompostierung, auf Pflanzenschutz mit möglichst natürlichen und abbaubaren Mitteln, wählt traditionelle Sorten und Rassen (bei Pflanzen wie Tieren gleichermaßen), über die die jeweiligen landwirtschaftlichen Gemeinschaften bestimmen; die Entscheidungen werden geleitet von einem sparsamen und optimalen Wasserverbrauch und von der Vermeidung jeglicher überflüssiger Maschinerie, die Energie verbraucht. Ein solcher Ansatz legt Wert auf Erosionsvorsorge (Dämme, Terrassen, lebende Hecken etc.), breite Wiederaufforstung und schließlich die erneuerte Nutzung traditioneller Kenntnisse, die umweltgerecht sind. Es ist ein globaler Ansatz, der genauso die Bevölkerung im Norden wie im Süden betrifft und Unterrichtung und Ausbildung erfordert.

Dafür hat Ciepad nicht nur einen Zweig aufgebaut, der Kinder und Ausbildende im Norden für Umwelt und Entwicklung sensibilisieren und erziehen soll, sondern auch Aktionen zur Unterstützung der Entwicklung im Süden. Das geschah auf Anfrage örtlicher Verantwortlicher, insbesondere in Senegal, Togo, Benin, Burkina Faso, Mauretanien und Algerien.

In Tunesien beispielsweise engagiert sich Ciepad im Golf von Gabès in einem Projekt zum Schutz einer von Verwüstung bedrohten Oase. Diese Gefahr droht über 250 000 Hektar in den Oasen des Maghreb, die durch die rücksichtslos produktivitätsorientierten Techniken ausgezehrt werden. Das fragile ökologische Gleichgewicht dieser künstlichen (von Menschenhand geschaffenen) Schöpfung hängt von der Einhaltung sehr strenger und genauer Regeln ab.

In Falaniah in Palästina etwa, westlich von Nablus, entsteht die Ausbildung für eine Landwirtschaft, die weniger auf den intensiven Bewässerungsmethoden basiert und nicht an den israelischen Markt gebunden ist, sondern an den traditionell den Frauen vorbehaltenen Anbau von Kräutern und Heilpflanzen anknüpft. Diese ermöglichen eine unabhängige Einkommensquelle und finden zunehmend Verbreitung.

Parallel dazu hat Ciepad ein Modell für eine biologisch orientierte landwirtschaftliche Einrichtung erprobt („Modèle optimisé d'installation agricole“, Moia). Es soll einer vierköpfigen Familie ermöglichen, auf einer Parzelle von einem Hektar Größe Gemüseanbau und Viehzucht in biologisch wertvoller Qualität, ohne Einsatz von Chemie, nur mit natürlicher Düngung, durchzuführen.3 Dieses Modell soll eine autonome Nahrungsmittelversorgung gewährleisten und dazu beitragen, daß vorhandene Produktionsüberschüsse in der Umgebung abgesetzt werden können. Der Eigenbau folgt hierbei ökologischen Prinzipien, und das Ganze basiert auf bescheidenen finanziellen Ressourcen und einem Zugang zu genossenschaftlichen Krediten.

Die Absicht ist, gleichzeitig verödete ländliche Gebiete zu beleben, dort produktive Tätigkeiten anzusiedeln, eine Autonomie zu erreichen, die weitere Aktivitäten erlaubt, und wohnortnah qualitativ hochwertige Produkte und Dienstleistungen wieder einzuführen, mit den dazugehörigen menschlichen Beziehungen. Diese Ziele, die Antworten sind auf aktuelle Erfordernisse, gelten genauso für den Aufbau einer ländlich-städtischen Zwischengesellschaft, die zwischen übervölkerten Städten und verödeten Landstrichen entstehen könnte. Diese ländlich-städtische Gesellschaft wäre kompatibel mit der Arbeitsteilung, ebenso mit der Suche nach einer Lebensqualität und menschlichen Beziehungen, die von dem sozialen Modell der Konsumgesellschaft entwertet worden sind. Das Projekt wendet sich auch an sozial schwache Personen, die über ein geringes Einkommen verfügen und davon bedroht sind, ausgeschlossen zu sein. Eine an Ciepad angeschlossene Einrichtung bemüht sich um deren Ausbildung und hilft, ein Siedlungsprojekt vorzubereiten.4

Das Ziel ist immer dasselbe. Es soll auf möglichst stringente Weise gezeigt werden, daß es im Norden wie im Süden möglich und wünschenswert ist, sich auf dem Land niederzulassen, um wieder Autonomie und Lebensqualität zu gewinnen, ohne im traditionellen Sinn Landwirt zu sein. In ganz Europa und insbesondere in Frankreich kann man auf dem Land eine Zunahme der Bevölkerung feststellen. Was hier und dort ausprobiert wird, zeigt, daß man schöpferische Vorstellungskraft heute vielleicht eher auf dem Land als in den Büros der Planungsexperten antrifft.

Der Gründer von Ciepad, Pierre Rabhi, Sohn eines Schmieds, stammt aus einer Oase im Süden Algeriens und hat lange Zeit in zwei Kulturen gelebt, zwischen Europa und dem Maghreb, bevor er sich im Süden des Département Ardèche niederließ, wo er mit seiner Familie das bescheidene Leben eines Bauern führt. Im Mittelmeergebiet, wo sich in nächster Nähe der Norden des Südens und der Süden des Nordens treffen, hat er eine Entwicklungsethik erdacht, die auf folgendem Prinzip fußt: „Aufwertung der Ressourcen, über die jede menschliche Gemeinschaft auf ihrem Gebiet verfügt. Lokal produzieren und konsumieren sollte das internationale Gebot der Stunde sein.“5 Um eine gesicherte Ernährung zu gewährleisten, aber auch weil der Bauer Erbe von bestimmten Kenntnissen und Werten ist, die für die Gesellschaft unverzichtbar sind. Traditionell ist sein Verhältnis zum Boden nicht nur ein Ausbeutungsverhältnis, und dieser ist nicht nur bloße Grundlage, sondern wahrhafter Nährboden, der als solcher gewürdigt werden muß, was einen anderen Umgang als den Produktivismus der heutigen Landwirtschaft erfordert.

Diesen Umgang hat Pierre Rabhi erfolgreich auf seiner trockenen Erde in den Cevennen erprobt, bevor er ihn an andere weitergab. Zunächst in einem Ausbildungszentrum der Sahelzone, in Burkina Faso, mit aktiver Unterstützung von Präsident Sankara, dann im Rahmen von Ciepad. Als Utopist des Bodens plädiert der weltläufige Ardèche-Bewohner für eine glückliche Genügsamkeit in neuen Oasen, die nach außen offen sind. In „einer Welt des ,immer mehr für einige wenige‘, in der nichts mehr einen Wert hat, aber alles einen Preis, ist die Nüchternheit befreiend. Denn wir träumen nicht vom Bruttosozialprodukt, sondern von Sinn und Gerechtigkeit“.6

dt. Harald Bauer

1 François de Ravignan, „Agriculture, écologie, histoire d'un divorce“, REPSA, 106, rue du Bac, 75341 Paris, 4. Trimester 1994.

2 Frankreich hat in zwanzig Jahren 1,5 Millionen Bauern verloren und verliert gegenwärtig 30 000 pro Jahr.

3 Jeder Franzose nimmt im Durchschnitt pro Jahr über Nahrungsmittel 1,5 Kilogramm an chemischen Mitteln, Farbstoffen, Rückständen von Düngern und Pestiziden zu sich.

4 Association Espère (Espace-emploi-ruralité), rue de la Gare, 11190 Montazels.

5 Pierre Rabhi: „L'offrande au crépuscule“, Edition de Candide, 07170 Lavilledieu, 1989.

6 „Mission des oasis“, Gespräch mit Pierre Rabhi, Terre du Ciel, Nr. 24, Juni/Juli 1994.

1 François de Ravignan, „Agriculture, écologie, histoire d'un divorce“, REPSA, 106, rue du Bac, 75341 Paris, 4. Trimester 1994.

2 Frankreich hat in zwanzig Jahren 1,5 Millionen Bauern verloren und verliert gegenwärtig 30 000 pro Jahr.

3 Jeder Franzose nimmt im Durchschnitt pro Jahr über Nahrungsmittel 1,5 Kilogramm an chemischen Mitteln, Farbstoffen, Rückständen von Düngern und Pestiziden zu sich.

4 Association Espère (Espace-emploi-ruralité), rue de la Gare, 11190 Montazels.

5 Pierre Rabhi: „L'offrande au crépuscule“, Edition de Candide, 07170 Lavilledieu, 1989.

6 „Mission des oasis“, Gespräch mit Pierre Rabhi, Terre du Ciel, Nr. 24, Juni/Juli 1994.

Le Monde diplomatique vom 14.07.1995, von Christian De Brie