14.07.1995

Die nationalen Eliten sind gescheitert

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Die nationalen Eliten sind gescheitert

MEHR als ein weiterer vager Kompromiß zwischen den bosnischen Serben und der internationalen Gemeinschaft ist auch nach der „Geiselkrise“ in Bosnien nicht in Sicht. Die Blauhelme sind freigelassen worden, aber zu welchem Preis? Welche Zusicherungen wurden gegeben? Frankreich, Großbritannien und die Niederlande stellen zwar eine schnelle Eingreiftruppe auf, an der sich auch die Bundesrepublik beteiligen will; doch kann das nicht darüber hinwegtäuschen, daß eine wirksame europäische Strategie fehlt. Mit Bestürzung erkennt man das Scheitern der politischen Führer des Westens. Während sich die europäischen Führungsstäbe in Details verlieren, geht aber der Krieg weiter, und die schändliche Belagerung von Sarajevo dauert an. Zugleich belegt eine neue Untersuchung der Vereinten Nationen, daß für die Greueltaten in Bosnien vor allem die serbischen Milizen verantwortlich sind.

Die Hauptschuld an dieser endlosen Tragödie tragen jedoch all die nationalistischen Führer im ehemaligen Jugoslawien, die ihren Völkern die „paradiesische Unabhängigkeit“ versprochen und ihnen schließlich nur Blut, Schweiß und Tränen eingehandelt haben.

Von BOZIDAR JAKSIĆ *

„Nationale Bewegungen erwachen als Dornröschen und sterben als Frankensteins Monster.“ Was diese düstere Metapher bedeutet, wird derzeit auf dem Balkan vorgeführt: Die Bürger des ehemaligen Jugoslawien zahlen den Preis für die katastrophale Politik ihrer nationalen Eliten.

Es ist gar nicht so einfach aufzurechnen, was dieser Krieg bisher angerichtet hat, der im Sommer 1991 in Slowenien begann und sich dann auf Kroatien und schließlich auf Bosnien-Herzegowina ausweitete. Wir kennen natürlich die Zahl der Toten und Verwundeten, wir wissen von Zehntausenden Flüchtlingen und Vertriebenen, wir sehen die zerstörten Dörfer und Städte, die Schäden an wertvollen historischen Bauten sowie in der Industrie und der Infrastruktur. Innerhalb kurzer Zeit sind große Teile der Bevölkerung in allen Teilrepubliken verarmt, den Mittelstand gibt es praktisch nicht mehr. Die Mehrheit der Bevölkerung – über neunzig Prozent – kämpft ums nackte Überleben. Hunderttausende sind aus ihren Häusern und Dörfern vertrieben worden und leben nun weit verstreut, als Flüchtlinge in Kroatien, Serbien und Bosnien-Herzegowina. Sie sind eine große Belastung für die übrigen Bewohner dieser Gebiete, deren Lage ohnehin schon schwierig genug ist.

Das gesamte soziale Gefüge ist ins Wanken geraten. Sowohl in Serbien als auch in Kroatien und Bosnien steht jetzt eine kleine Schar Kriegsgewinnler an der Spitze. Diese schmale Schicht hat sich schamlos bereichert und in der zerfallenden Gesellschaft die beherrschende Rolle übernommen. Es sind durchweg Mitglieder der jeweiligen national gesinnten Führungsschicht, die nicht nur über den Reichtum des Landes verfügen: Darüber hinaus bestimmen sie auch über das Schicksal der verarmten Bürger, die sich nicht dagegen auflehnen können, da sie mit großem Aufwand systematisch manipuliert und indoktriniert werden.

Vor allem die lokalen Medien sind zur Propagandamaschine geworden. In Serbien ebenso wie in Montenegro, Bosnien oder Kroatien findet ein Exodus der Jugend statt: Die fähigsten jungen Leute mit der besten Ausbildung verlassen das Land, um den Kriegsfolgen zu entgehen oder um sich dem Militärdienst zu entziehen. Das Paradies, das die nationalistischen Eiferer verheißen hatten, erweist sich als tägliche Höllenqual. In den neuen Nationalstaaten, die aus dem Zusammenbruch des ehemaligen Jugoslawien hervorgegangen sind, herrschen Ignoranz, Haß, Fremdenfeindlichkeit und nationaler Dünkel. Jeder dieser Staaten krankt an der Abwesenheit der Jugend und dem Mangel an der Klugheit und Weitsicht, die man zur Verwaltung eines Gemeinwesens braucht.

Die serbische nationale Politik der vergangenen zehn Jahre war, gelinde gesagt, widersprüchlich: Um sicherzustellen, daß alle Serben in einem gemeinsamen Staat – in Groß-Serbien – leben können, betrieben die Nationalisten die Auflösung des Bundesstaates Jugoslawien, in dem bis dahin alle Serben gemeinsam gelebt hatten. „Serbisches Gebiet ist dort, wo serbische Gräber sind“, lautet der Schlachtruf der Maximalisten. Serbische Gräber gibt es immer mehr, Gebiete, in denen Menschen leben, hingegen immer weniger...

Sowohl die internationale Gemeinschaft als auch Teile der serbischen Öffentlichkeit haben diesen Hegemonialanspruch zu Recht verurteilt. Die Machthaber zeigten sich davon allerdings wenig beeindruckt, denn die von den Vereinten Nationen verhängten Sanktionen trafen vor allem die Bevölkerung. Die Wirtschaft ist deutlich geschwächt, und die Menschen leben inzwischen unter Bedingungen, die für einen europäischen Durchschnittsbürger undenkbar sind. Das gilt auch für die Hunderttausende serbischer Flüchtlinge aus Kroatien und Bosnien. In den umkämpften Gebieten schließlich ist das Leben ohnehin noch viel schwieriger und leidvoller.

Die bosnischen Muslime, die über Jahrhunderte in gutem Einvernehmen mit den Serben gelebt hatten, wurden die ersten Opfer der Politik der „ethnischen Säuberung“. Selbst wenn die Furcht der Serben vor einer Wiederholung des Völkermords, der im zweiten Weltkrieg an ihnen verübt wurde, berechtigt wäre, würde das die Verfolgung der Muslime noch längst nicht rechtfertigen. Selbst viele bosnische Serben haben inzwischen ihre Wohngebiete verlassen, weil sie nicht unter dem Regime der Milizen des Serbenführers Radovan Karadžić leben wollen.

Auch die militärische Lage ist paradox. Den Serben wird von allen Seiten immer wieder vorgehalten, daß zu Beginn des Krieges die Kräfte ungleich verteilt gewesen waren, da Serbien über mehr Kriegsmaterial verfügte und mehr Truppen mobilisieren konnte. Ein nationalistischer Ideologe beklagte sich: „Die Serben verlieren im Frieden, was sie im Krieg gewonnen haben.“ Gegenwärtig verlieren sie allerdings im Frieden wie im Krieg.

Die Paradoxien des Balkans tauchen auch in der nationalistischen Politik Kroatiens wieder auf, das im Oktober 1991 seine staatliche Unabhängigkeit erklärt hatte. Die Nationalisten wollten Kroatien „in den historischen Grenzen“ (also bis zur Drina und bis Zemun, nahe Belgrad) wiederherstellen und die Oberherrschaft über die nichtkroatischen Staatsbürger sichern (von den 4,8 Millionen Einwohnern und Einwohnerinnen, die zu Beginn des Krieges gezählt wurden, waren 12,2 Prozent Serben und knapp 10 Prozent Angehörige anderer Volksgruppen).

Übersetzt in die Wirklichkeit, bedeuteten diese Parolen zahllose Verluste an Menschenleben, viel Leid für Kroaten wie Serben, zerstörte Dörfer und Städte, vor allem in Slawonien (die Belagerung Vukovars dauerte drei Monate, am 19. November 1991 wurde die Stadt vernichtet), Tausende Tote, Zehntausende Verwundete, Hunderttausende Flüchtlinge... Die Regierung in Zagreb verlor die Herrschaft über ein Viertel des früheren Staatsgebiets der Republik, weite Gebiete in Slawonien und in der Krajina gerieten in die Hände der serbischen Milizen, die Straßenverbindungen von Zagreb zur dalmatinischen Küste wurden unsicher, und in der Tourismusbranche, einem der aussichtsreichsten Wirtschaftszweige, entstanden gewaltige Verluste.

In den Bevölkerungskreisen, die zuvor die politische Linie des kroatischen Präsidenten Tudjman unterstützten, befürchtet man jetzt ein Abgleiten in diktatorische Verhältnisse, die ersten Anzeichen dafür könnten die Schikanen gegen die unabhängige Presse und die Gängelung der Massenmedien sein. Wie schnell die Grenze zum Verbrechen überschritten ist, wird an den Verfolgungen deutlich, denen die Serben in der Stadt Gospić und die Muslime im serbisch besetzten Zentralbosnien ausgesetzt sind. Ein Zeichen, wie weit der mörderische Wahnsinn bereits fortgeschritten ist, war die Zerstörung der alten Brücke von Mostar, einem Kleinod der osmanischen Architektur, das zum Weltkulturerbe gehörte.

Merkwürdig erscheint auch, daß sich die nationalistischen Führer Kroatiens zwar den Kampf gegen den jugoslawischen Zentralismus auf die Fahne geschrieben hatten, aber sofort ein streng zentralistisches Regime einführten, als sie an der Macht waren und die Unabhängigkeit errungen hatten. Die Spannungen, die daraus in Istrien entstanden sind, werden über kurz oder lang auch in Dalmatien und Slawonien auftreten.

Insgesamt haben die nationalen Führungsschichten in Serbien und Kroatien eine bemerkenswerte politische Unreife bewiesen: Sie sind die Vorreiter der „Balkanisierung“ geworden – eine Art Doppelpackung der balkanischen Zeitbombe.

Die Folgen davon müssen vor allem die bosnischen Muslime tragen, die die Hauptopfer der verbrecherischen Politik der „ethnischen Säuberungen“ sind und denen darum zu Recht das Mitgefühl und die Solidarität der Welt gelten. Milizen und reguläre Truppen haben ihre Brutalität immer wieder unter Beweis gestellt: die Serben bei der Belagerung und Beschießung von Sarajevo, die Kroaten bei der Zerstörung von Mostar. Viele islamische Kulturdenkmäler wie die Aladza-Moschee in Foca oder die Ferhadija-Moschee in Banja Luka sind vernichtet worden. Das Ausmaß des Exodus der Muslime aus Bosnien-Herzegowina in andere Regionen Ex-Jugoslawiens und in die europäischen Staaten ist bekannt – wie viele Flüchtlinge es innerhalb Bosniens gibt, ist schwer zu sagen.

Auch der politischen Führung der bosnischen Muslime blieben die Paradoxien, die den Balkan prägen, nicht erspart. Sie hatte im Konflikt mit den Serben mit der Unterstützung der Kroaten gerechnet und sah sich schließlich dem Angriff von beiden, in der Region Bihać sogar darüber hinaus dem einer muslimischen Fraktion, ausgesetzt. Der bosnische Präsident Alija Izetbegović hoffte vergeblich auf eine militärische Intervention der internationalen Gemeinschaft – den Schaden hatte die Zivilbevölkerung.

Zwar ist vor allem die serbische und kroatische Politik für die Situation in Bosnien verantwortlich, jedoch trägt auch die muslimische Führung ihr Teil dazu bei. Der öffentlich immer wieder vertretene Anspruch, in Bosnien einen „Staat für alle Bürger“ schaffen zu wollen, ist bei Teilen von Izetbegovićs „Partei der demokratischen Aktion“ (SDA), die eine Politik der konsequenten Islamisierung verfolgen, auf wenig Gegenliebe gestoßen. Hatte nicht auch Izetbegović bereits 1970 in seinem „Islamischen Manifest“ erklärt, daß die islamische Bewegung die nichtislamischen Kräfte entmachten müsse, sobald sie stark genug sei?

Warum sollte ausgerechnet Bosnien ein „Bürgerstaat“ werden, wenn das noch nicht einmal in Jugoslawien gelungen war? Die muslimischen Nationalisten haben eine doppelte Niederlage hinnehmen müssen: Weder konnten sie die Serben besiegen noch ihre Allianz mit Kroatien festigen, obwohl im März 1994 die kroatisch-muslimische Föderation gegründet worden ist. Was nicht weiter tragisch wäre, hätten sie nicht so furchtbares Leid über ihr eigenes Volk gebracht.

Konfliktherde in anderen Regionen

NUR zu verständlich, daß Mazedonien alles unternahm, um seine Unabhängigkeit ohne bewaffnete Auseinandersetzungen zu erlangen und um sich sofort unter den Schutz der Vereinigten Staaten zu stellen, die dann auch im August 1993 mehrere hundert Beobachter zur Überwachung der Grenzen entsandten. Dennoch ist auch dort die Lage widersprüchlich. Das eine Nachbarland, Bulgarien, erkennt den neuen Staat an, sieht aber die Mazedonier nicht als eigene Nation. Serbien dagegen, der andere Nachbar, akzeptiert die Idee einer mazedonischen Nation, will aber den unabhängigen Staat nicht anerkennen. Griechenland, der dritte Anrainer, macht Mazedonien den Namen streitig und führt seit Februar 1994 eine ungerechte Handelsblockade gegen das Land. Und Albanien, der vierte Nachbarstaat, beharrt unter Verweis auf die zahlenmäßig bedeutende albanische Minderheit in Mazedonien immer entschiedener auf seiner Meinung, daß die natürliche Grenze zu Mazedonien am Westufer des Vardarflusses verläuft. Damit ist Mazedonien geradezu prädestiniert, Schauplatz künftiger Balkankriege zu werden.

Im alten jugoslawischen Staatsgebiet stellten die Albaner die größte Minderheit ohne eigenen Bundesstaat. Mehr als 80 Prozent der Bewohner des Kosovo sind Albaner. Vor allem seit Belgrad durch die Verfassungsreform von 1989 die Selbstverwaltung dieser Provinz innerhalb der serbischen Republik beschnitten hat, kämpfen sie um ihre Rechte. Nachdem es den regionalen Führern gelungen ist, ihren Forderungen erhebliche Aufmerksamkeit zu verschaffen, sind sie dazu übergegangen, jede Zusammenarbeit mit den serbischen Institutionen zu verweigern. Ibrahim Rugova, der wichtigste Sprecher der Albaner, ist mit dieser Taktik allerdings unzufrieden, weil sie letztlich das Regime von Slobodan Milošević stützt.

Bei den serbischen Parlamentswahlen im Dezember 1994 haben die Albaner durch ihren Boykott Milošević, dessen Partei nur die Hälfte der 250 Sitze errang, die politische Initiative überlassen. Außerdem stärkt die Regierung Milošević durch eine systematische Unterdrückungspolitik im Kosovo die albanische nationale Bewegung, insbesondere deren radikale Strömungen. Mit solchen Mitteln wird der Frieden nicht mehr lange zu halten sein. Auch der Kosovo bleibt ein Krisenherd.

In diesem Nebeneinander von offenem Krieg und verdeckten Auseinandersetzungen sind häufig zwei Szenarien diskutiert worden: Entweder die internationale Gemeinschaft verstärkt den politischen, wirtschaftlichen und militärischen Druck auf alle Kriegsparteien, um, wenn nötig unter Einsatz von Gewalt, eine Verhandlungslösung zu erzwingen, oder die Truppen der Vereinten Nationen ziehen sich aus Bosnien und Kroatien zurück und überlassen den Kriegsparteien das Feld. Die zweite Lösung hätte zwangsläufig eine „Afghanisierung“ (oder „Somalisierung“) der Balkanregion zur Folge: Man würde die Völker ihrem Schicksal überlassen und zusehen, wie sie einander abschlachten.

Es ist noch eine dritte Lösung denkbar – daß alles so weitergeht wie bisher. Der internationalen Gemeinschaft mangelt es am Willen und an der Entschlossenheit. Aufgrund der unterschiedlichen Ansätze kann nie der nötige Druck ausgeübt werden, um den Konflikt zu beenden.

Bleibt noch ein entscheidendes Rätsel des Balkans zu lösen: Im ersten wie im zweiten Jugoslawien1 haben autokratische Regime dafür gesorgt, daß bestimmte Schichten und Volksgruppen Grund zur Unzufriedenheit hatten. Wenn man die gegenseitigen Anklagen der Nationalisten hört, muß man annehmen, daß offenbar niemand mit der Föderation zufrieden war und alle die Abschaffung des Bundesstaats wollten. Wenn aber Jugoslawien ein derart künstliches Gebilde war, weshalb hat seine Auflösung dann so viele Menschenleben und solche Zerstörungen gekostet? Zeigt sich nicht gerade darin, wie stark der Zusammenhalt war und welch enge Bindungen zwischen den Völkern und Bürgern Jugoslawiens bestanden?

Krieg oder Zusammenleben?

DIE nationalen und politischen Führungsschichten der Völker Jugoslawiens, die auf die Zerstörung der Föderation hingearbeitet haben, wollten dafür sorgen, daß es kein Zurück gibt. Durch die entsetzlichen „ethnischen Säuberungen“, den Haß, der unter den einfachen Leuten gesät wird, die gestern noch gute Nachbarn waren – sollte jede Hoffnung auf ein friedliches Zusammenleben zunichte gemacht werden. Offenbar braucht die nationale Unabhängigkeit eine Bluttaufe, weil die Führer ihrem Volk nicht trauen: Sie fürchten, daß die Bürger sich gegen den Krieg entscheiden könnten, solange die Alternative des friedlichen Zusammenlebens besteht.

Wie absurd die dramatische Zerstörung Jugoslawiens verlaufen ist, zeigt das Beispiel Sloweniens. Die separatistischen Bestrebungen der slowenischen Politiker führten zunächst nicht zum Zerfall der Föderation. Erst als die serbische Führung nicht mehr auf den Bundesstaat setzte, nahm die Auflösung Jugoslawiens ihren Lauf. Wozu dann aber dieser Operettenkrieg im Sommer 1991, der nur ein paar Tage dauerte und ein Dutzend junger Slowenen und Rekruten aus anderen Teilen Jugoslawiens das Leben kostete? Den Machthabern in Ljubljana hat er jedenfalls dazu gedient, alle Vorstellungen von einem Bund zwischen den Völkern des alten Jugoslawien aus den Köpfen auszutreiben. Um die starken Integrationsmechanismen zu zerstören, die sich in den siebzig Jahren des Zusammenlebens herausgebildet hatten, bedurfte es schon eines entsprechend großen Aufwands an destruktiver Energie.

Eines ist sicher: Letztendlich werden alle Völker der Balkanregion zu den Verlierern gehören, und die Bewohner des Balkans werden sich schämen für diese unselige Verbindung von Verbrechen und allen nur denkbaren Formen von Abscheulichkeiten, die in der zivilisierten Welt das blanke Entsetzen hervorrufen. Die Rauchwolken am Himmel über Vukovar, Sarajevo, Mostar und Lika und über all den Dörfern in Slawonien und Bosnien werfen düstere Schatten auf die „nationalen Ziele“ der Politiker – sie tragen die historische Verantwortung für diese Ereignisse. Was ist nicht alles im Feuer untergegangen: die Nationalbibliothek von Sarajevo, die Aladza-Moschee in Foca, das orthodoxe Kloster in Zitomislić, die alte Brücke in Mostar und eine Vielzahl von orthodoxen und katholischen Kirchen in den slawonischen Dörfern. Die Glut wird noch lange schwelen. Aber zunächst geht es darum, daß die Menschen in der Balkanregion wieder leben können: Dafür müssen der Krieg beendet und die Schuldigen bestraft werden. Im Grunde fußt der „dritte Balkankrieg“2 auf der Vorstellung, daß ein „friedliches Zusammenleben“ nicht möglich ist. Und darauf gibt es nur eine Antwort im Geist der Menschlichkeit: Ohne Zusammenleben gibt es keine Zukunft.

dt. Edgar Peinelt

1 Das erste „Jugoslawien“ entstand 1918 als „Königreich der Serben, Slowenen und Kroaten“ und endete 1941, als die Nazi-Truppen einmarschierten. Das zweite Jugoslawien wurde 1945 von Tito und den Partisanen begründet, es löste sich 1991/92 auf.

2 Im ersten Balkankrieg (1912–1913) kämpften Serbien, Bulgarien, Griechenland und Montenegro gegen die Türkei. Den zweiten Balkankrieg führte Bulgarien 1913 gegen die ehemaligen Verbündeten Serbien und Griechenland, die wiederum Waffenhilfe von Rumänien und der Türkei erhielten.

* Leiter des Instituts für Philosophie und Gesellschaftstheorie an der Universität Belgrad

Le Monde diplomatique vom 14.07.1995, von Bozidar Jaksic