14.07.1995

Die islamische Welt und Bosnien

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Die islamische Welt und Bosnien

DIE Bosniaken sind die Palästinenser Europas“ – so stand es schon Mitte 1992 in Qadhaya Dawliya, einem pakistanischen Wochenblatt, das als Sprachrohr der arabischen Muslimbrüder gilt. Die Formulierung macht deutlich, wie besorgt und irritiert man in der islamischen Welt den scheinbar endlosen Konflikt in Bosnien verfolgt. Al-Scharq al-Awsat, eine arabische Tageszeitung, die in London erscheint, sprach sogar von einem „Holocaust“. In der Septemberausgabe dieser Zeitung erklärte der ägyptische Islamist Fathi Houidi, Mudschaheddin nach Bosnien zu schicken (wie damals nach Afghanistan) habe keinen Zweck, weil der Westen dies „nur zum Vorwand nehmen“ werde, um seine Hilfsaktionen einzuschränken. Trotzdem sind inzwischen wohl einige dieser Kämpfer aus verschiedenen islamischen Ländern nach Bosnien gegangen – zwischen 1 000 und 5 000, je nachdem, welchen Quellen man Glauben schenkt.

Im Frühjahr 1992, mit dem Beginn des Krieges und der „ethnischen Säuberungen“ in Bosnien-Herzegowina, nimmt man in der europäischen wie arabischen Öffentlichkeit mit Erstaunen zur Kenntnis, daß es in Bosnien und Kroatien ganz „seltsame Muslime“ gibt: hellhäutig, mit blauen Augen, die Frauen unverschleiert, eigentlich Slawen, mit einer eher kulturellen als religiösen Bindung an den Islam. Kaum jemand hatte je von ihnen gehört. Der Presse gelang es jedoch sehr rasch, die allgemeine Aufmerksamkeit auf ihr tragisches Schicksal zu lenken.

Journalisten und Autoren sehen nicht nur Parallelen zum Schicksal der Palästinenser, sondern stellen noch andere, höchst beziehungsreiche Vergleiche an. In einem Beitrag für den New Statesman etwa nimmt im November 1992 ein muslimischer Intellektueller, Akbar Ahmad, die Belagerung von Sarajevo zum Anlaß, an „den Fall von Granada im Jahre 1492“ zu erinnern. Seither ist dieses Bild in zahlreichen Zeitungen bemüht worden. Die Kommentatoren werden nicht müde, darauf hinzuweisen, daß die UNO und das „Europa der Menschenrechte“ mit „zweierlei Maß messen“, wenn es um ihre Politik gegenüber Saddam Hussein und Radovan Karadžić geht.

Die in London erscheinende proiranische Monatszeitschrift al-Aalam kritisiert im August 1992 „das Fehlen einer entschlossenen muslimischen Haltung“. In der islamischen Welt wie in Europa, Kanada und in den Vereinigten Staaten nimmt die Zahl der privaten Organisationen zu, die sich für die Solidarität mit Bosnien einsetzen. Inzwischen sind auch verschiedene Staaten, allen voran die Türkei, der Iran und Saudi-Arabien, in einen Wettstreit um die Unterstützung der bosnischen Muslime eingetreten.

Bei mindestens jeder dritten der Gebetsversammlungen, die in Saudi-Arabien täglich aus Mekka oder Medina übertragen werden, prangert der Imam in seiner Predigt die Grausamkeit der Serben (und der Kroaten) an und ruft die Gläubigen zur Solidarität auf. Auch in der saudischen Presse wird das Thema immer wieder aufgegriffen. „Diese Tragödie hat ein Volk zum Islam zurückgeführt“, heißt es zum Beispiel in der (auf englisch erscheinenden) Saudi Gazette vom Februar 1994. „Vielleicht hat Gott den bosnischen Muslimen diese schweren Prüfungen und dieses Unglück geschickt, damit sie wieder zum Glauben und zu ihrer Identität zurückfinden.“ Genau wie in arabischsprachigen Blättern werden dafür „sachliche“ Beweise angeführt: „Heute zählt Bosnien 800 Moscheen und Gebetshäuser, vor dem Krieg waren es nur 30.“ Es gebe über 300 Koranschulen, in denen rund 60 000 Schüler „den Koran studieren und in Wissenschaft und Geschichte unterwiesen würden“. Und überdies: Schon 1993 seien „800 Bosniaken nach Mekka gepilgert“, und dies sei mehr als je zuvor.

Mit solchen Argumenten sollen die Gläubigen mobilisiert werden. Die Handelskammer von Riad hat bereits 1994, zu Beginn des Ramadan, eine „Bosnische Woche“ organisiert, über die in allen Medien ausführlich berichtet wurde. Teil der Veranstaltung war eine Ausstellung über „den Völkermord und die Greueltaten der Serben“, außerdem wurde eine Spendenaktion durchgeführt, bei der sich König Fahd mit „50 Millionen Rial und 50 000 Exemplaren des Koran“ beteiligte. Einen anderen Aspekt, der in den arabischen Medien ständig behandelt wird, hat Prinz Turki, Referent für die Beziehungen zum Westen im saudischen Außenministerium, mit folgenden Worten verdeutlicht: „Die Serben haben den Muslimen das Land genommen. Wenn es nicht gelingt, den Krieg zu beenden und dem Recht Geltung zu verschaffen, dann muß man das Waffenembargo aufheben, damit sich die Bosniaken gegen die Angreifer verteidigen können“ (Arabies, Paris, April 1995). Auch die jüngsten Demütigungen der „Blauhelme“ sind von arabischen Zeitungen jeder Richtung ausführlich kommentiert worden. In al-Ahali, einer linksorientierten ägyptischen Wochenzeitung, heißt es am 30. Mai: „Die Europäer wollen in Bosnien nicht in eine Lage geraten wie einst die USA in Vietnam. (Doch) das ist eine Machtprobe, bei der es auch um die Zukunft Europas geht.“

Eines ist sicher: die Tatenlosigkeit des Westens in Bosnien wird in der öffentlichen Meinung der muslimischen Welt nicht so bald vergessen werden.

PAUL BALTA *

dt. Edgar Peinelt

* Journalist, Autor von „L'Islam“, Marabout-Le Monde Editions, Paris 1995

Le Monde diplomatique vom 14.07.1995, von Paul Balta