14.07.1995

Japan in Not

zurück

Japan in Not

Von IGNACIO RAMONET

VORBEI, das goldene Zeitalter. Vorbei, der Mythos des „immer besser“ und „immer mehr“. Etwas ist faul im japanischen Archipel. Mehrere der tragenden Säulen, auf denen sein herausragender Erfolg ruhte, weisen bedrohliche Risse auf. Was aber in nächster Zeit in dieser Wirtschaftssupermacht passiert, wird nicht ohne Auswirkungen auf die Wirtschaft der ganzen Welt bleiben.

Schon das Erdbeben von Kobe im Januar dieses Jahres hatte die Handlungsschwäche der japanischen Regierung in aller Deutlichkeit zutage treten lassen. Neben dieser Schwäche der Administration müssen nach den Giftgasanschlägen in der U-Bahn von Tokio zwei weitere beunruhigende Beobachtungen angestellt werden. Zunächst: daß in keinem anderen entwickelten Land der Welt die Sekten auf so fruchtbaren Boden gestoßen sind und sich so tief haben verankern können wie in Japan. Und weiter: daß ausgerechnet das angeblich sicherste Land der Welt über keinen Sicherheitsdienst verfügte, um in der Lage zu sein, die eigene Bevölkerung vor den mörderischen Umtrieben dieser modernen Terroristen zu schützen.

All diese Erkenntnisse haben die Bürger des Landes in eine Unruhe versetzt, die auch in der Presse breiten Widerhall findet. Die Enttäuschung über das japanische Gesellschaftsmodell erreicht just in dem Moment seinen Höhepunkt, da das Land sich anschickt, den 50. Jahrestag des Kriegsendes zu feiern, ohne allerdings die volle historische Verantwortung für die Kriegsgreuel akzeptieren zu wollen. Hinzu kommt eine wirtschaftliche Krise ungekannten Ausmaßes und ein Handelskrieg mit den USA.

Bislang war der japanische Archipel von dem Stillstand, den die entwickelten Länder in den letzten zwanzig Jahren erlebt hatten, praktisch verschont geblieben. Die derzeitige Krise, die die japanische Gesellschaft nun um so härter trifft, resultiert aus vier aufeinanderfolgenden Schocks: dem Zusammenbruch der Finanz- und Immobilienspekulation von 1990; der aktuellen Bankenkrise; der starken Aufwertung des Yen ab 1993 und der zunehmenden politischen Instabilität. Letztere als Folge der zahlreichen Korruptionsskandale und der zunehmenden Abnutzung der drei traditionellen Säulen der Gesellschaft – der regierenden Liberaldemokratischen Partei, die durch Fraktionskämpfe geschwächt ist, der Verwaltung und der Arbeitgeberschaft.1

Das Wirtschaftswachstum, das jahrelang zwischen 4 und 5 Prozent pro Jahr betrug, belief sich im Jahr 1992 auf nur 1,1 Prozent, lag 1993 bei null und kam 1994 auf knappe 0,6 Prozent. Hinzu kommt die steigende Zahl der Konkurse und die wachsende Arbeitslosigkeit, die lange Zeit verdeckt geblieben war. Trotz der vier Ankurbelungsprogramme, für die 450 Milliarden Dollar investiert wurden, ist es nicht gelungen, das Land aus der Rezession herauszuführen.

Daß die finanzielle Seifenblase, die in der Euphorie der achtziger Jahre und im Zuge der wilden Börsenspekulationen entstanden war, nun geplatzt ist, hat das Bankensystem gefährlich erschüttert. Die elf größten Banken des Landes haben im letzten Jahr eine Einbuße von 90 Prozent hinnehmen müssen. Erstmals seit dem zweiten Weltkrieg hat ein großes Geldinstitut, die Sumitomo-Bank – die größte Bank Japans und der Welt –, für das Geschäftsjahr 1994/1995 Verluste gemeldet (in Höhe von rund 3 Milliarden Dollar). Zwei weitere Banken haben gar Konkurs angemeldet – die Tokyo Kyowa Credit Association und die Anzen Credit Bank –, wodurch der volle Umfang der nicht mehr eintreibbaren Schulden zutage trat. Diese belaufen sich schätzungsweise auf 460 Milliarden Dollar.

Das Bankensystem scheint zu wanken. Der Kurssturz an der Börse in Tokio verschlimmert diese Instabilität, denn die Aktien der Banken machen nahezu ein Drittel der im Nikkei-Index registrierten Aktien aus. Und dieser ist seit Beginn des Jahres um 26 Prozent gefallen. Wie stark die Börsenaktivitäten vom Einbruch bedroht sind, zeigt vor allem die Ankündigung der größten Investment-Bank, Nomura, die erstmals in ihrer Geschichte Verluste zu verzeichnen hatte (ungefähr 200 Millionen Dollar). Das gesamte Finanzsystem hat sich in diesem Teufelskreis verfangen.2 Denn die Börse hat keine Chance, sich wieder zu erholen, solange der Yen (dessen Diskontsatz mit 1 Prozent der niedrigste der Welt ist), im Verhältnis zum Dollar, immer teurer wird.

Anfang 1993 entsprachen 125 Yen einem Dollar. Heute sind es 84 Yen. Die Schwelle der Rentabilität liegt für die meisten Exportindustrien bei 90 Yen pro Dollar. Bei dem derzeitigen Wechselkurs entspricht das Bruttoinlandsprodukt Japans dem der USA (6 700 Milliarden Dollar). Eine Absurdität, denn es untergräbt die japanische Wettbewerbsfähigkeit in allen Produktionsbereichen und führt dazu, daß die Lohnkosten im Archipel zu den höchsten der Welt gehören.3

Um dieser Aufwertung des Yen entgegenzuarbeiten, könnte Tokio die massive Auslagerung der Produktionsbetriebe vorantreiben. Eine Perspektive, die weder die anderen Länder in der asiatisch-pazifischen Region noch Amerika erfreut. Während zum Beispiel die USA und Deutschland 28 bzw. 25 Prozent ihrer industriellen Produktion ausgelagert haben, ist das im Archipel – entgegen weitverbreiteten Annahmen – bislang nur zu 8 Prozent geschehen. Der Spielraum ist also noch groß, und die möglichen Auswirkungen auf die Arbeitsplätze wären dramatisch.

Im übrigen ist Japan die Sparkasse des gesamten Planeten, der es an Geldmitteln mangelt. 1993 beispielsweise beliefen sich die japanischen Ersparnisse auf 819 Milliarden Dollar, das sind 56 Prozent des gesamten Volumens in den OECD-Ländern. Und bis zum heutigen Tage war ein Teil dieser Ersparnisse ebenso wie ein großer Teil des Außenhandelsüberschusses (145 Milliarden Dollar sind für dieses Jahr geschätzt) direkt oder indirekt in die Weltwirtschaft investiert. Derzeit verkauft Tokio, um die Börse zu stützen, massiv seine ausländischen Wertpapiere, insbesondere die US-Schatzbriefe.4 Allein im Verlauf des vergangenen Monats März hat Japan für 13 Milliarden Dollar Anleihen zurückgeführt, was nicht unwesentlich zur Schwächung des Dollars, zur Stärkung des Yen, zur Beschleunigung der Abwärtsspirale an der Börse, zur Schwächung der Banken usw. beigetragen hat.

Ein Crash der japanischen Banken innerhalb eines ohnehin fragilen internationalen Bankensystems könnte die gesamte Finanzarchitektur sprengen und einen Zusammenbruch der Weltwirtschaft zur Folge haben.

1 Le Monde, 29. März 1995 und 12. Mai 1995.

2 The Wall Street Journal Europe, 16. Mai 1995.

3 Financial Times, 17. Mai 1995.

4 The Economist, 17. Juni 1995.

Le Monde diplomatique vom 14.07.1995, von Von IGNACIO RAMONET