Hoffnungen in Quebec auf die Unabhängigkeit
■ Im Herbst sollen die Quebecer in einem Referendum über ihre Zukunft entscheiden. Die Frage lautet: Abtrennung von Kanada oder Verbleib in der Föderation? Siegen werden vermutlich die Anhänger einer Abtrennung von Kanada. Dabei wirken die Befürworter jetzt merkwürdig leidenschaftslos. Inzwischen haben sich bei vielen Zweifel breitgemacht, ob ein unabhängiges Quebec tatsächlich alle Probleme lösen wird. Zwar bestehen teils irreale Hoffnungen auf eine Ausweitung des Handels mit den Vereinigten Staaten,doch wird die Provinz mit Finanzproblemen zu kämpfen haben.
Von unserem Sonderkorrespondenten ALAIN BIHR *
ES herrscht schon eine sonderbare Stimmung in Quebec. Da steht nun eine Provinz kurz vor einer Volksabstimmung, die über ihre Zukunft entscheiden wird. Immerhin steht die Erlangung der vollständigen Souveränität auf dem Spiel: der Austritt aus der kanadischen Föderation und der Übergang zum Status eines unabhängigen Staates. Eine Unabhängigkeit, auf die das „Volk von Quebec“ über zweihundert Jahre gewartet hat – wie zumindest die souverainistes, die Anhänger der Unabhängigkeit, behaupten.
Doch befragt man heute die Quebecer zu dieser Angelegenheit, so stößt man auf einen erstaunlichen Mangel an Leidenschaft, gerade als ob die Angelegenheit bereits geregelt wäre oder letzten Endes wenig Bedeutung hätte. Sie geben selber offen zu, daß die leidenschaftlichen Debatten und zündenden Erklärungen, die die Abstimmungskampagne im Jahre 1980 geprägt hatten, der Vergangenheit angehören. Wenn heutzutage irgendwo noch Leidenschaft auszumachen ist, dann allenfalls bei den fédéralistes, den Anhängern eines Verbleibens in der kanadischen Föderation, die sich gern in apokalyptischen Prophezeiungen ergehen für den Fall, daß Quebec unabhängig werden sollte. Noch sonderbarer erscheint, daß viele der „Souveränisten“ – bei allem Engagement für ihre Sache – auch Vorsicht und Zurückhaltung, ja sogar Skepsis an den Tag legen.
Folgt man den Argumenten der „Souveränisten“, dann haben sie gute Gründe, sich vom übrigen Kanada abzuspalten. Es gehe darum, so argumentieren sie, die lange Geschichte von Mißerfolgen und Demütigungen zu beenden, die die „Belle Province“ seit der schmerzlichen Niederlage auf dem Abrahamsfeld habe hinnehmen müssen (siehe Chronologie Seite 9). Das historische Gedächtnis ist in dieser Provinz sehr lebendig. Auf allen Autonummernschildern steht das Motto „Je me souviens“ (Ich erinnere mich).
Obwohl der ehemalige Premierminister Pierre-Eliott Trudeau zwischen 1968 und 1984 eine Politik der „Multikulturalität“ und damit eine Öffnung eingeleitet hat, meinen die „Souveränisten“, daß weder die soziokulturelle Eigenart von Quebec geschweige denn eine Eigenart als „Volk“ oder „Nation“ jemals wirklich anerkannt worden sind. Nach Ansicht von Louise Harel, der Quebecer Arbeitsministerin, ist der Föderalismus daran gescheitert, daß er „das Wort Nation in der Einzahl und nicht in der Mehrzahl geschrieben hat“.
Infolgedessen habe sich eine Belagerungsmentalität breitgemacht, die sie unter Verweis auf die Geschichte eigenwillig interpretiert: „Wir haben uns zuerst als Kanadier gefühlt, und danach nur noch als frankophone Kanadier. Heute sind wir einfach Quebecer. Wenn wir nicht unabhängig werden, laufen wir Gefahr, in Zukunft nur noch frankophone Quebecer zu sein.“ Daß die Frankophonen im mehrheitlich englischsprachigen Nordamerika tatsächlich eine Minderheit sind, kann eine solche Haltung nur bestärken.
Auch wenn die „souveränistischen“ Forderungen sich auf einen schwerwiegenden historischen Streitfall beziehen, so wurzeln sie heute doch gleichermaßen in den aktuellen sozialen und wirtschaftlichen Problemen. Unzählige Anlässe zur Unzufriedenheit fachen sie immer wieder neu an und bestärken die Quebecer in ihrer Überzeugung, daß ihre Provinz den wirtschaftlichen Aufschwung nicht schaffen kann, solange es im föderalen Kanada bleibt. An diesem Punkt stimmt Gérald Larose, der Vorsitzende des nationalen Gewerkschaftsbundes CSN und Verfechter der Quebecer Souveränität, fast wörtlich mit den Äußerungen von Louise Harel überein.
An erster Stelle steht eine heftige Anschuldigung, die sich gegen die Bundesregierung in Ottawa richtet. Sie habe in den vergangenen Jahrzehnten die Quebecer Industrie durch eine Anzahl schädlicher Maßnahmen geschwächt – während die übrigen Provinzen davon profitierten: In Ontario schossen Raffinerien und petrochemische Werke aus dem Boden, die das im Norden des Landes geförderte Rohöl verarbeiteten und damit die auf venezolanisches Rohöl angewiesenen Quebecer Raffinerien bedrohten; mit der Kanalisierung des Sankt-Lorenz- Stroms konnten Hochsee-Handelsschiffe direkt die Häfen der Großen Seen anlaufen, was die Bedeutung von Montreal als einem der bis dahin weltweit größten Binnenhäfen untergrub; die Werften der Stadt wurden geschlossen, während im Westen des Landes mit staatlicher Unterstützung neue Hafenanlagen gebaut wurden. Kurz, Quebec kam sich vor wie ein Ladenhüter im Kaufhaus des kanadischen Bundesstaates.
Dazu wird die Bundesregierung beschuldigt, die Politik und die Entwicklungsprojekte der Quebecer Regierung zu behindern, indem sie der Provinzregierung direkt Konkurrenz macht. Das habe zu überflüssigen Dopplungen und katastrophalen Fehlentwicklungen geführt.
Francine Lalonde, Abgeordnete des „Bloc québécois“ im Unterhaus von Ottawa, bringt es auf den Punkt: „Die Souveränität von Quebec ist schlicht unumgänglich, damit Kanada und Quebec aufhören, sich gegenseitig zu schaden.“
Darüber hinaus wird die immer häufigere Einmischung der Bundesinstanzen in die Angelegenheiten der Provinz gegeißelt, die in der Vergangenheit daher rührte, daß die Bundesregierung die Verfügungsgewalt über die staatlichen Gelder innehatte – heute jedoch notwendig ist, um die Staatsschuld von inzwischen über 600 Milliarden kanadischen Dollar zu verwalten.1
Hier spielt noch eine andere Angst mit hinein, welche die Entwicklung des kanadischen Föderalismus immer begleitet hat: Während die gegenwärtige Regierung von Quebec sich einer Dezentralisierungspolitik verschrieben hat, die die jeweiligen Machtbefugnisse der vierzehn Regionen Quebecs ausweiten will, hat Kanada seinen jahrzehntealten Hang zur Zentralisierung noch verstärkt, denn es sieht darin die Voraussetzung für die Aufrechterhaltung der Einheit eines Landes, das nach den Worten des ehemaligen Premiers Wilfrid Laurier „zuviel Geographie und zuwenig Geschichte hat“; eines Landes, das sich den hegemonialen Absichten seines südlichen Nachbarn2 widersetzen und jahraus, jahrein eine große Anzahl von Einwanderern integrieren muß, denn diese stellen die eigentliche Voraussetzung für sein Bevölkerungswachstum dar. Diese Angst wird im übrigen zumindest teilweise von gewissen politischen Kreisen in den anderen Provinzen geteilt. Insbesondere im Westen Kanadas zeigen sich Alberta und British Columbia alarmiert über die Stärkung der Zentralgewalt Ottawas.
Schließlich rechtfertigt sich die Sache der „Souveränisten“ aus dem Willen, die Errungenschaften der „ruhigen Revolution“, des sozialdemokratischen Kompromisses nach Quebecer Muster, zu bewahren. Dies ist das bevorzugte Argument von Francine Lalonde, die von einem guten Beobachtungsposten im Bundesparlament aus die Politik des Premierministers Jean Chrétien kritisieren kann. Bei ihm dominiert das neoliberale Dogma, das von nichts anderem träumt, als die öffentlichen Ausgaben – vor allem die Sozialleistungen – drastisch zu beschneiden. Francine Lalonde sorgt sich über die enorme Zunahme der rechtsextremen Strömungen in Nordamerika, wie zum Beispiel der Sieg der „Progressive Conservative Party“ bei den Provinzwahlen in Ontario im vergangenen Juni. Ihrer Ansicht nach kann nur eine Unabhängigkeit Quebecs diese Tendenzen im Zaume halten.
Die Errungenschaften der „ruhigen Revolution“
UNTER solchen Umständen scheint die „souveränistische“ Bewegung Gehör zu finden und sollte bei der auf diesen Herbst geplanten Volksabstimmung mit Leichtigkeit den Sieg davontragen. Um so mehr, als die Chancen für eine Unabhängigkeit von Kanada auf den ersten Blick besser scheinen als noch 1980.
Das soziale Gefüge der frankophonen Quebecer hat sich seitdem verändert. Vor allem habe sich in Quebec eine französischsprachige Bourgeoisie herausgebildet, betont Francine Lalonde. Ein Teil davon, der im Gefolge der „ruhigen Revolution“ großen Zulauf hatte, wartet nun anscheinend ungeduldig darauf, die Zügel in die Hand zu bekommen, und behauptet, über die Mittel zu verfügen, um mit den Gewerkschaften einen (neuen) sozialen Kompromiß auszuhandeln. Zudem hat sich in Quebec die Mittelschicht verbreitert, nicht so sehr in den Unternehmen und im Staatsapparat, welche in den letzten Jahren viele Angestellte entlassen haben, als im äußerst dichten und aktiven Netz der in Vereinen organisierten, auf lokaler Ebene tätigen „Gemeinschaftsbewegungen“, die aufgrund ihrer sozioökonomischen Funktion eine politische Rolle spielen wollen.
Seit 1980 ist es den Quebecern im übrigen gelungen, in einigen Institutionen Forderungen durchzusetzen, vor allem für ihre Sprache und Kultur. Das berühmte Gesetz 101 schreibt vor, daß in ganz Quebec alle öffentlichen Anzeigen auf französisch erscheinen müssen. Die von den Quebecern oft kritisierte Bundespolitik der Zweisprachigkeit gesteht darüber hinaus formell allen Frankokanadiern außerhalb von Quebec die Möglichkeit zu, im Umgang mit der Bundesbehörde ihre Muttersprache zu benutzen. „Ging es 1980 für uns noch vor allem darum, die rechtliche Gleichstellung mit den angelsächsischen Kanadiern zu erhalten, so wollen wir diesmal einfach nur wir selbst sein“, meint Louise Harel.
Hinter diesem Zweckoptimismus, der besonders vor ausländischen Gesprächspartnern demonstriert wird, ahnt man die Vielzahl ungelöster Probleme. Sie wiegen um so schwerer, als sie von gewissen Kreisen bagatellisiert oder gar abgestritten werden. So behandelt die Mehrzahl der „Souveränisten“ das künftige Verhältnis zwischen einem unabhängigen Quebec und dem übrigen Kanada so, als ob dies ausschließlich das Problem Kanadas wäre. Doch muß bei jeder auch noch so einvernehmlichen Scheidung die Gütergemeinschaft – nicht nur Vermögen, sondern gerade auch die Schulden – aufgelöst werden. Hinzu kommt, daß ein unabhängiges Quebec den kanadischen Dollar weiterhin als Landeswährung behalten würde. Dies hätte zwangsläufig die Fortsetzung einer engen Zusammenarbeit zwischen Quebec und Ottawa im Bereich der Geld- und sogar in der Haushaltspolitik zur Folge. Das schränkt den Spielraum eines zukünftigen unabhängigen Staates schon erheblich ein.
Die finanzpolitischen Zwänge sind bereits spürbar. Sie haben sicherlich auch dazu beigetragen, daß Jacques Parizeau, der Premierminister von Quebec und führender Kopf des „Parti québécois“ (PQ), Anfang Mai die alte Formel einer „souveraineté-association“, also einer Verbindung mit Kanada unter Vorbehalt der eigenen Souveränität, wieder aufnahm. Unter den „Souveränisten“ hat das zu Unmut und Aufregung geführt.
Ganz allgemein scheint das „souveränistische“ Lager die Zwänge zu unterschätzen, welche die Transnationalisierung der Wirtschaft einem unabhängigen Quebec aufbürden würde. Es vertraut blind darauf, daß Quebec sich in der internationalen Arena geschickt aus der Affäre ziehen wird, sobald es von den Fesseln des Bundesstaates befreit ist. Wie anderswo ist man auch hier überzeugt, daß in Staatsangelegenheiten die Regel „small is efficient“ gilt, daß eine Transnationalisierung der Wirtschaft „leichte“ politische Strukturen erfordert, die rasch auf die Ansprüche, aber auch auf die Bedrohungen reagieren können, welche in einem globalen, von Schwankungen und Ungewißheiten geprägten Umfeld herrschen.
Eben dieses Vertrauen ließ die Mehrheit der Quebecer im Gegensatz zum übrigen Kanada den Abschluß des nordamerikanischen Freihandelsabkommens (Nafta) begrüßen; sie versprechen sich davon, daß der Handel mit dem Osten der USA, namentlich mit Neuengland, angekurbelt wird, wohin sich die Quebecer Wirtschaft bereits orientiert hat. Die Erwartung, daß es Quebec gelingen wird, mit dem mächtigen Nachbarn im Süden wesentlich leichter ins Geschäft zu kommen als mit dem restlichen Kanada, ist jedoch eine Illusion, die wohl nur mit der Schwere der alten Auseinandersetzungen zwischen Quebec und Kanada zu erklären ist. Diese Erwartung ignoriert auch die rigide Haltung der Vereinigten Staaten, deren Vormachtstellung es ihnen immer erlaubt hat, bei politischen oder wirtschaftlichen Abkommen ihre nationalen Interessen durchzusetzen. Wenn Kanada und Mexiko gegenüber dem US-amerikanischen „Löwen“ gerade noch wie „Lämmer“ dastehen, so käme ein unabhängiges Quebec da gerade noch einem „Lämmchen“ gleich...
Desgleichen ist noch offen, ob die teilweise bereits begonnene breite Dezentralisierungskampagne, die den vierzehn Quebecer Regionen die Mittel für eine lokale Entwicklungspolitik an die Hand geben sollte, überhaupt zur erhofften Wiederbelebung der Wirtschaft und Verringerung der Arbeitslosigkeit geführt hat, auch wenn man durch die „gemeinschaftliche Wirtschaftsentwicklung“ in Quebec über einen Erfahrungsschatz verfügt. Denn bei der Ablösung von einer zentralen Machtstruktur und gleichzeitiger Transnationalisierung der Wirtschaft läuft eine solche Politik – in Quebec wie überall sonst – Gefahr, im wesentlichen bereits vorhandene ungleiche Entwicklungsstufen noch zu verschärfen.3
Dabei ist nichts dringlicher als die Belebung des Wirtschaftslebens und der Kampf gegen die Arbeitslosigkeit, im Durchschnitt 13, in einigen Regionen sogar 35 Prozent. Quebec zählt über 800 000 Sozialhilfeempfänger, das sind 11 Prozent der Gesamtbevölkerung von knapp 7,2 Millionen. Einer alleinstehenden Person stehen gerade einmal bescheidene 440 kanadische Dollar pro Monat an Sozialhilfe zu, rund 500 Mark.
Die Quebecer Basisbewegungen hegen also große Erwartungen: besonders bei der Bekämpfung von Arbeitslosigkeit und Marginalisierung, bei der Sicherung der Sozialleistungen, der Schulreform und ganz generell beim Abbau der Ungleichheiten, die nicht nur in Quebec in den letzten Jahren gewachsen sind. Diese Erwartungen wurden an den verschiedenen Sitzungen am „Runden Tisch zur Zukunft von Quebec“ nachdrücklich vertreten. Diese Gespräche wurden über den Jahreswechsel von der Regierung in jeder Region organisiert. Sämtliche Organisationen der Gesellschaft, aber auch die einzelnen Bürger und Bürgerinnen waren zur Teilnahme aufgefordert. Die dort geäußerten Erwartungen scheinen die Behörden überrascht und in Verlegenheit gebracht zu haben.
Gérald Larose sieht sehr wohl das „soziale Defizit“, welches zuweilen das Verhältnis zwischen seinem Gewerkschaftsverband und der Regierung prägt. Er unterstützt sie in ihrem „souveränistischen“ Anliegen, kritisiert sie aber wegen ihrer unzulänglichen Politik. Für die Gewerkschaftsbewegung könne, meint er, die Unabhängigkeit Quebecs einen Nutzen haben: Endlich dürfte man sich erlauben, klar und deutlich die „soziale Frage“ zu stellen, die bisher im Schatten der „nationalen Frage“ gestanden hat. „In Quebec hat es nie eine politische Massenbewegung der Linken gegeben“, bemerkt er, die Linke habe sich immer unter das „souveränistische“ Banner gestellt – und dabei einen Teil ihrer Seele verloren.
Genau diesem ehrgeizigen Projekt – eine Quebecer Linke zu gründen – hat sich das junge Team verschrieben, das hinter der Zeitschrift Virtualités4 steht, deren Leserschaft mit jeder Ausgabe steigt. Nach Aussagen von Chefredakteur Daniel Lapres, der sich selbst als „Souveränist“, nicht aber als Nationalist definiert, fehlt es der PQ an jeglichen Programmen, die die Gesellschaft mobilisieren könnten: die Partei begreife nicht, daß es nicht nur um die Gründung eines „souveränen Staates“ geht, sondern vielmehr die Voraussetzungen für eine „souveräne Gesellschaft“ geschaffen werden müßten, welche die eigene Entwicklung auch sozioökonomisch im Griff hat. Daniel Lapres rechnet damit, daß der PQ am Tag nach der Volksabstimmung, unabhängig vom Resultat, sich um den Neoliberalismus sammeln wird, wie schon einmal zwischen 1982 und 1985 geschehen. Damals war dies mitverantwortlich dafür, daß der PQ die Regierung wieder verlor. Schon deuten, so meint er, gewisse Maßnahmen der Regierung (wie die Kürzungen im Sozial- und Gesundheitsbereich) auf eine ähnlich unflexible Haltung der Partei wie damals hin.
Was die gesamte Unabhängigkeitsbewegung nicht bedacht hat, sind die Probleme, welche die nach Quebec eingewanderten nichtfrankophonen Minderheiten aufwerfen. Es stimmt, daß die Einwanderungspolitik der Bundesregierung für die Unabhängigkeit von Quebec eine potentielle Bedrohung darstellt. Die früher einmal hohe Geburtenrate der Provinz ist heute die niedrigste von ganz Kanada; die Bevölkerung wächst im wesentlichen durch Einwanderung. Nun scheren sich die Immigranten kaum um den Verfassungskonflikt zwischen Quebec und Kanada, dessen historischer Hintergrund ihnen nichts bedeutet. Mehrheitlich halten sie es mit der für Einwanderer typischen Treue gegenüber dem (kanadischen) Staat, der sie aufgenommen hat. Auch tun sie sich schwer mit der vom Gesetz Nr. 101 vorgeschriebenen Pflicht, bis zum Ende der Oberschule Französischunterricht zu nehmen. Die meisten beeilen sich, diese Sprache zugunsten des Englischen aufzugeben, die ihnen Tür und Tor zum übrigen Nordamerika öffnet.
Die Aussicht, im eigenen Land allmählich zur Minderheit zu werden, bereitet manchen Quebecern Kopfschmerzen, vor allem in Montreal, dessen Bevölkerung zu 20 Prozent aus Einwanderern besteht, insbesondere aus Haiti, Lateinamerika und Asien – neben den 20 Prozent Anglophonen. Schon gibt es Stimmen, die eine Teilnahme an der Volksabstimmung über die Unabhängigkeit den alteingesessenen Quebecern vorbehalten wollen.
Die Situation wird noch komplizierter, wenn man an die in Quebec lebenden autochthonen Minderheiten wie die Indoamerikaner und die Inuit denkt (siehe den Artikel von Philippe Bovet). In den letzten Jahren konnte man erleben, wie einige dieser Völker ihre Forderungen nach Autonomie mit wachsendem Nachdruck äußern. Diese Forderungen könnten in einem unabhängigen Quebec durchaus noch drängender werden; um so mehr, als sie durch das Abkommen von Charlottetown neue Nahrung erhielten. Dieses sieht gerade vor, den indigenen Minderheiten eine gewisse administrative Autonomie zu gewähren – die aber in Konkurrenz zu derjenigen der Provinz tritt.5
So äußert Bernard Cleary aus dem Dorf Mashteuiash (Point Blue) in der Oktobernummer 1994 der Zeitschrift Convergence den Wunsch, daß die zukünftige Verfassung von Quebec „den Ureinwohnernationen von Quebec das angestammte Recht auf eine seinen Bürgern und Bürgerinnen gegenüber verantwortliche autonome Regierung einräumt. In der Folge muß dieses Recht auf eine autonome Regierung noch durch die Abtretung von Land konkretisiert werden. Sie muß zwischen den beteiligten Parteien in stufenweisen Vereinbarungen festgehalten werden.“6 Doch ist es alles andere als sicher, daß die „souveränistischen“ Kreise bereit sind, diesen Forderungen Gehör zu schenken, obwohl sie von den ersten Bewohnern des Landes vorgebracht werden.
Minderheitenrechte anerkennen und garantieren
MOMENTAN ist gewiß keine ernsthafte Bedrohung der angelsächsischen, „allophonen“ oder indigenen Rechte erkennbar (s. Kasten). Der „Quebecer Nationalismus“ hat keinerlei Absicht, diese Minderheiten zu unterdrücken; er wird von der demokratischen Kultur und ihrer Garantie, die Menschenrechte zu bewahren und die Minderheitenrechte zu respektieren, entscheidend geprägt. So bekräftigt auch Fernand Dumont, eine der großen intellektuellen Persönlichkeiten der Provinz, in seinem neuesten Buch, daß es keine „Quebecer Nation“, sondern „verschiedene Nationen“ gibt, die in Quebec leben. Die Herausforderung für einen unabhängigen Staat bestehe nicht darin, einen Nationalstaat aufzubauen, sondern eine autonome „politische Gemeinschaft“, in der alle diese vielfältigen Nationen ein Bürgerrecht hätten.7 Diese Ansicht wird von unseren Gesprächspartnern weitgehend geteilt: Spontan definieren sie als Quebecer diejenigen, die in Quebec leben.
Und trotzdem: Ganz unvermutet taucht im Gespräch die Frage nach dem „echten Quebecer“ auf. Beim Besuch der Stadtteile, in denen die verschiedenen zugewanderten Minderheiten wohnen, bemerkt René Dore, Animator im „Centre de formation populaire“, die „rassistische Gesinnung“ eines Teils der Frankophonen ihnen gegenüber nehme zu. Und was ist von der zweiwöchentlich erscheinenden Zeitschrift L'Aut' Journal8 zu halten, die in gewissen „souveränistischen“ Kreisen weit verbreitet ist: Sie hat einen Jean-Baptiste-Cugnet-Preis ins Leben gerufen (der Name rührt von der „traurigen Gestalt“, die es den englischen Truppen ermöglicht hat, bei Montcalm vor Quebec die französischen Truppen zu besiegen), mit dem jeden Monat eine frankophone Persönlichkeit des öffentlichen Lebens angeprangert wird, die es gewagt hat, sich der „souveränistischen“ Sache zu widersetzen.
Wenn man Gérald Larose fragt, worin der entscheidende Beitrag der Gewerkschaftsbewegung für die Sache der Unabhängigkeit bestanden hat, so antwortet er, daß dank ihr ein Abgleiten in ein „ethnisches Verständnis der Nation“ vermieden werden konnte. Und bittet man ihn, seine Erwartungen und Forderungen an eine vollständig souveräne Quebecer Regierung zu formulieren, so setzt er die Anerkennung und Garantie der Rechte sämtlicher Minderheiten – also der Anglophonen, der Allophonen und der indigenen Bevölkerung – an die erste Stelle. Als ob man trotz allem ein ganz besonders wachsames Auge darauf haben müsse.
dt. Maria Helena Nyberg
1 Ein kanadischer Dollar sind etwa DM 1,10 oder Sfr. –.90.
2 Siehe Jean-Michel Lacroix, „Les tribulations du marché unique nord-américain“, Le Monde diplomatique, Mars 1993.
3 Siehe Alain Bihr, „Le mirage des politiques de développement local“, Le Monde diplomatique, November 1992.
4 Zeitschrift Virtualités. 853, rue Sherbrooke Est, Montreal, H2L 1K6.
5 Siehe Fulvio Caccia, „Vers la balkanisation tranquille du Canada“, Le Monde diplomatique, Oktober 1992.
6 Convergence, Oktober 1994, CP 7, Succ. „C“, Montreal, H2L 4J7.
7 Fernand Dumond, „Raisons communes“, Boréal, Montreal, 1995.
8 L'Aut' Journal. 3575, Boulevard Saint-Laurent, Montreal, H2X 2T7.
Autor von „Déchiffrer les inégalités“ (zusammen mit Roland Pfefferkorn), Syros, Paris 1995