16.06.1995

Treueschwur auf die D-Mark?

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Treueschwur auf die D-Mark?

DIE Debatte über die europäische Einheitswährung beschränkt sich neben den nationalistischen Sentiments meist auf die Terminfrage: 1997 oder 1999? Das Drama der Arbeitslosigkeit aber erinnert tagtäglich daran, daß man sich eher Fragen über das Wesen der zukünftigen Wirtschafts- und Währungsunion stellen müßte. Schon seit einigen Jahren wird der gesellschaftliche Zusammenhalt der Logik monetärer Kalküle geopfert. Die Zeit ist reif für eine Revision der Debatte, bei der der Kampf gegen Arbeitslosigkeit und gesellschaftliche Ungleichheit im Vordergrund stehen muß.

Von BERNARD CASSEN

„Man muß nicht alles glauben, was so erzählt wird“, erklärte Jacques Chirac den Journalisten nach seinem Treffen mit Bundeskanzler Kohl am 18. Mai in Straßburg und meinte damit wohl seine eigenen Worte. Im Wahlkampf hatte er nämlich von einer möglichen „Überarbeitung“ des geplanten europäischen Währungssystems geredet. Sie hätte ihm Spielraum gegeben, seine Wahlversprechen einzulösen. Doch jetzt, nach dem Amtsantritt, setzte er allen Spekulationen ein Ende und bekannte zum Thema Einheitswährung: „Wir wollen an den Verpflichtungen aus dem Vertrag von Maastricht festhalten.“ Damit legte der neue französische Staatschef, wie schon seine Amtsvorgänger, den rituellen Treueschwur auf die D-Mark ab und sicherte sich damit den Ritterschlag durch den Bundeskanzler, der für seine Investitur mindestens so wichtig war wie der Sieg im zweiten Wahlgang.

„Der Präsident hat sich entschlossen, die öffentliche Meinung, Helmut Kohl und die Märkte zu beruhigen“, kommentierte der Leitartikler einer großen Pariser Wochenzeitung1 und stellte besonders das Crescendo dieser Reihenfolge heraus. Nur diese berühmten „Märkte“, anscheinend die einzigen Instanzen, denen das Volk und die Demokratie permanent Rechenschaft schulden, schienen nicht völlig überzeugt zu sein. Vor allem waren sie es nicht nach der programmatischen Antrittsrede von Premierminister Alain Juppé, der noch einmal an den 1. Januar 1999, das Fälligkeitsdatum der Wirtschafts- und Währungsunion, erinnerte2. Auch die Märkte glauben scheint's nicht alles, „was so erzählt wird“.

Die europäische Währung, sogenanntes „Herzstück“ des Maastrichter Vertrages, einzuführen ist ganz offensichtlich keine rein technische Maßnahme. In ihren „Überlegungen zur Europapolitik“ hat die CDU/CSU-Bundestagsfraktion die Einheitswährung als den „harten Kern der politischen Union“ präsentiert3. Dabei geht es um eine politische Union zu neoliberalen Bedingungen: Freihandel nach außen und innen, Vergötterung von Markt und Konkurrenz, Mißtrauen gegenüber allen Alleingängen in Industrie und Handel, soweit Europa von ihnen betroffen ist. Denn die Einführung der europäischen Währung setzt die Erfüllung bestimmter sogenannter „Konvergenz“-Kriterien für Haushaltsdefizit, Staatsverschuldung, Inflationsrate, langfristiges Zinsniveau und Wechselkurse voraus. Diese Kriterien sind rein monetaristischer Natur. Es sind die Kriterien der Bundesbank, der französischen Zentralbank und der „Märkte“, aber sie entsprechen nicht unbedingt den gesellschaftlichen Bedürfnissen in den europäischen Ländern.

Verwirrung, die bewußt nicht beseitigt wird, entsteht, wenn in der Diskussion das Prinzip der einheitlichen Währung mit den besonderen Modalitäten ihrer Verwirklichung vermengt wird. Diese Modalitäten hätten ganz andere sein können – sie könnten auch immer noch verändert werden – als die, welche im Vertrag über die Europäische Union vorgesehen sind. Die Pro-Argumente sind allgemein bekannt, ihre Richtigkeit ist immanent auch kaum zu bestreiten. Das wichtigste von ihnen ist sicherlich der Schutz gegen jene Erschütterungen, die von den Kursschwankungen des Dollar ausgelöst werden. Washington setzt diese mittlerweile als Waffe im Handelskrieg gegen Japan und Europa4 ein.

Die Europäische Kommission hat ausgerechnet, daß 1992 42 Prozent des Welthandels in Dollar, 27 Prozent in D-Mark und 7 Prozent in Yen abgewickelt werden. Mit der Einheitswährung könnten 50 Prozent des Welthandels in Ecu abgerechnet werden, was diesen zu einem bedeutenden internationalen Zahlungsmittel und zu einer Reservewährung für Zentralbankguthaben machen würde. Die Vormachtstellung des Dollar würde ernsthaft in Frage gestellt oder sogar zerstört, um so mehr, als dann auch die Europäische Union die Wechselkurse als Waffe benutzen könnte. Darüber hinaus würden die europäischen Unternehmen bei Transaktionen, bei Investitionen und im Handel von einer Währungsstabilität profitieren, die sie brauchen, damit der Europäische Binnenmarkt diesen Namen auch wirklich verdient.

Ein weiteres Argument sind die zu erwartenden Einsparungen beim Zahlungsverkehr innerhalb der Europäischen Union. Sie werden auf mehr als 30 Milliarden Mark pro Jahr geschätzt und könnten an die Endverbraucher weitergegeben werden. Zu diesen vielen Wohltaten kommt hinzu, daß es dann für Spekulanten unmöglich sein wird, Profite aus Wechselkursschwankungen zwischen den europäischen Währungen zu erzielen, und daß Abwertungen, die nur die Wettbewerbsposition verbessern sollen, fortfallen. Die Angelegenheit scheint also so weit erledigt zu sein. Selbst die kommunistische Gewerkschaft (CGT) der französischen Hochseefischer begrüßt, Seite an Seite mit dem Arbeitgeberverband der Hochseefischer, die europäische Währung, beklagt allerdings gleichzeitig die Konkurrenz der anderen Fangflotten der Gemeinschaft6.

Die Hauptschwierigkeit aber liegt darin, daß die vielzitierten Kriterien keineswegs eine Konvergenz der Volkswirtschaften widerspiegeln, sondern nur eine der währungspolitischen Bestrebungen. Wenn Länder mit einer so unterschiedlichen Ausgangsposition wie Deutschland und Griechenland das gleiche Ziel, nämlich den in der Einheitlichen Europäischen Akte formulierten „wirtschaftlichen und sozialen Zusammenhalt“, erreichen wollen, dann sagt einem schon der gesunde Menschenverstand, daß beide Länder einen unterschiedlichen Weg einschlagen müssen. Selbst ein Bankier, der Anhänger einer Europäischen Einheitswährung ab 1997 ist, muß einräumen, daß diese „einem Land, das sich in einer demographischen, sozialen oder branchenspezifischen Extremsituation befindet, ausgerechnet die Waffe zu nehmen scheint, um dieser Extremsituation begegnen zu können“7. Das Problem lasse sich nur dadurch lösen, daß man gleichzeitig mit massiven Transferleistungen helfe – haushaltspolitisch, steuerlich und im sozialen Bereich.

Aber muß man wirklich noch einmal betonen, daß keiner der Nettobeitragszahler unter den EU-Ländern bereit sein wird, seine Zahlungen an den Gemeinschaftshaushalt zu erhöhen? Deutschland zum Beispiel, das bei den Konvergenzkriterien die höchsten Anforderungen stellt, folgt im Gegenteil dem Beispiel, das Margaret Thatcher zu Beginn der achtziger Jahre gegeben hat, und will seine Zahlungen mit Blick auf die Konferenz der Mitgliedsregierungskonferenz 1996 sogar deutlich verringern.

Weil er der Ansicht ist, daß Frankreich sich in einer „spezifischen inländischen Extremsituation“ befindet, womit er den in seinem Wahlkampf vielbeschworenen „gesellschaftlichen Bruch“ meint, will Jacques Chirac die Quadratur des Kreises schaffen: einerseits will er sich einen ausreichenden Spielraum bei Haushaltsdefizit und Staatsverschuldung sichern, andererseits möchte er, wo nötig , dem starken Franc und dessen Anbindung an die D-Mark seine Ehrerbietung erweisen. Wenn Ministerpräsident Alain Juppé vor der Nationalversammlung eine lange Liste von Maßnahmen gegen die Arbeitslosigkeit ankündigt und gleichzeitig die Frage von deren Finanzierung auf später verschiebt, dann ist das ein Drahtseilakt, den die „Märkte“ kaum goutieren werden. Selbst auf die Gefahr hin, sie tatsächlich zu brüskieren, wäre es günstiger gewesen, sich diese Übung für einen besseren Zweck aufzuheben, nämlich um eine wirkliche europäische Konver genz zu erreichen, die zugleich wirtschaftlich und sozial wäre.

Die Gelegenheit dafür gibt es noch: Man könnte die Regierungskonferenz für den Versuch benutzen, die Kriterien von Maastricht nicht formell in Frage zu stellen, ihnen aber die beiden Kriterien einer sich kontinuierlich verringernden Arbeitslosenquote und eines Abbaus der gesellschaftlichen Ungleichheit hinzuzufügen. Zum Beispiel könnte man die Relation zwischen dem gesamten Einkommen der 20 Prozent Meistverdienenden und dem der 20 Prozent am unteren Ende der Einkommensskala nehmen und fordern, daß sie nicht weiter steigen darf, sondern schrittweise verringert werden muß (siehe hierzu den Artikel von Claude Julien auf den Seiten 22 und 23). Diese Kriterien wären problemlos quantifizierbar und würden Europa einem tatsächlichen Abbau der gesellschaftlichen Unterschiede näherbringen.

Die Europäische Kommission und die Regierungen der fünfzehn Mitgliedsländer haben verkündet, der Kampf für mehr Arbeitsplätze habe höchste Priorität. Wenn dies keine leeren Worte bleiben sollen, dann muß diese Aussage in sämtliche wichtigen Entscheidungen von Politik und Wirtschaft einfließen. Die Entwicklung zur Wirtschafts- und Währungsunion gehört auf jeden Fall dazu. Man muß sie also als Lockmittel benutzen, um überall in Europa eine Reorientierung der Strategien zu erreichen.

Philippe Séguin, der Präsident der französischen Nationalversammlung, hat eine Zeitlang die Idee vertreten, den Maastrichter Kriterien das der Arbeitslosigkeit hinzuzufügen, schließlich bestand er aber nicht nachdrücklich genug darauf, diese Forderung in Chiracs Re gierungsprogrammm aufzunehmen. Der Kandidat der Sozialistischen Partei, Lionel Jospin, war auch nicht mutiger und befleißigte sich in seinen Vorschlägen zu Europa lieber einer strikten währungspolitischen Orthodoxie. Auch er brauchte dringend den Ritterschlag durch den deutschen Bundeskanzler, den er – obwohl Kandidat der Sozialisten – auch bekommen hätte, gehört er doch genauso wie Edouard Balladur und Jacques Chirac zum „Kreis der Vernünftigen“.

Ein wenig Theaterdonner gab es donnoch kurz nach der Wahl. Vor den Delegierten des achten Kongresses des Europäischen Gewerkschaftsbundes, am 11. Mai in Brüssel, machte Jacques Delors, ehemaliger Präsident der EU- Kommission, die ketzerische Äußerung: „Wir sollten uns nicht von den Monetaristen beherrschen lassen!“8 Es hatte fast den Anschein, als wollte er sich damit selbst aus dem „Kreis der Vernünftigen“ ausschließen. Schon einige Tage zuvor hatte er in einer vertraulichen Mitteilung zugegeben: „Bei der Vorbereitung der Maastrichter Verträge habe ich dafür plädiert, daß man ein oder zwei Konvergenzkriterien zum Thema Arbeitslosigkeit in das Vertragswerk einfügen solle. Mein Vorschlag ist aber abgelehnt worden.“9 Wollte er etwa im nachhinein beweisen, daß er immer noch in der Linken verwurzelt ist?

Hat der Markt immer recht?

KANN man europaweit bedeutende wirtschaftliche oder soziale Maßnahmen einleiten, ohne sich die Möglichkeiten zum Widerstand gegen den Terrorismus der „Märkte“ zu verschaffen? Manche wollen diese ja schon vernunftgemäße Entscheidungen oder sogar staatsbürgerliche Gesinnung und den Status von unbedingt notwendigen Partnern bescheinigen. Angeblich „braucht (Frankreich) die Märkte, um Schulden in Höhe von 3.000 Milliarden Franc zu finanzieren“. Das Land könne, „ob es wolle oder nicht, der Logik und den Stimmungen der Märkte nicht entkommen“10.

George Soros, einer, der weiß, wovon er spricht, hat er doch in einer einzigen Nacht durch Spekulation mit dem Pfund Sterling 1,6 Milliarden Dollar gewonnen, beschreibt den Zusammenhang so: „Die allgemein akzeptierte Vorstellung ist, daß die Märkte immer recht haben. Ich gehe vom Gegenteil aus. Ich bin der Meinung, daß die Marktpreise immer falsch sind, denn sie sind Ausdruck einer verfälschten Sicht der Zukunft. Die

Börsenmakler haben nicht nur diese falsche Sichtweise, sondern ihre Entscheidungen können sogar den Lauf der Dinge beeinflussen. Daher entsteht der Eindruck, daß sie die Zukunft korrekt vorhersehen. Es sind aber nicht die gegenwärtigen Erwartungen, die den zukünftigen Ereignissen entsprechen, sondern die zukünftigen Ereignisse, die von den Erwartungen geprägt werden.“11

Jede Strategie einer demokratischen Rückeroberung Europas, das aus vielen Gründen den einzig passenden Rahmen darstellt, braucht eine „staatsbürgerliche Hygiene“ gegenüber den „Märkten“. Ein Bericht der Kommission für Wirtschaft, Währung und Industriepolitik des Europäischen Parlaments12 schlägt einige davon vor: Kontrolle der Kapitalbewegungen von und nach Drittländern, eine Steuer auf spekulative Kapitalbewegungen (nach James Tobin, dem ehemaligen Wirtschaftsberater von John F. Kennedy und späteren Nobelpreisträger für Wirtschaft, Tobin-Steuer genannt), die Wiedereinführung einer Deckungsquote, mit der bei jedem Devisenankauf die unverzinste Hinterlegung eines gleich hohen Betrages in der jeweiligen Landeswährung bei der Notenbank des betroffenen Landes fällig wird. Und schließlich das Verbot von Transaktionen in Steuerparadiese, vor allem in solche, die innerhalb der Europäischen Gemeinschaft liegen und von denen Luxemburg nur das respektabelste ist. Es gibt also viele Aufgaben für jemanden, dem es wirklich am Herzen liegt, „für ein Europa zu kämpfen, das wirklich eins ist“13. Diese Formulierung stammt von Alain Juppé, aber bei ihm war der Zusammenhang ein wenig unverfänglicher.

1 L'Express, 18. Mai 1995

2 „Die Finanzmärkte haben die Erklärung des Premierministers negativ aufgenommen“, Le Monde, 25. Mai 1995

3 Siehe: Bernard Cassen, „Accélérer la mise en place d'une Europe sur mesure“, in: Le Monde diplomatique, Oktober 1994

4 Siehe: Bernard Chesnais, „Der Dollar als Waffe im Handelskrieg“, in: Le Monde diplomatique (dt. Ausgabe, Mai 1995, S. 15/16)

5 Laut den Angaben der Union der Textilindustrie haben die Exporteure jener Länder, deren Währungen kürzlich abgewertet wurden, ihre Konkurrenzfähigkeit beträchtlich verbessert (unter Berücksichtigung der Preiserhöhungen): Großbritannien um 16,7 Prozent, Spanien um 20,3 Prozent, Schweden um 26,4 Prozent und Italien um 30,8 Prozent (L'Express vom 27. April 1995).

6 Brief an Jacques Chirac vom 15. Mai 1995

7 Olivier Klein, „La monnaie unique dès 1997, c'est possible!“, Le Monde, 21. März 1995

8 Le Monde, 13. Mai 1995

9 Le Monde, 2. Mai 1995

10 Le Monde, 13. Mai 1995

11 George Soros, „The Alchemy of Finance, John Wiley“, New York 1994

12 Roumeliotis-Bericht vom 2. Dezember 1993, Europäisches Parlament 206 736/def; Resolution A3-0392/93; Eine Analyse dieses Berichts findet man in der ausgezeichneten, in Brüssel erscheinenden belgischen Monatszeitschrift Avancées, Mai 1995.

13 Le Monde, 25. Mai 1995

Le Monde diplomatique vom 16.06.1995, von Bernard Cassen