16.06.1995

Die Tücken einer Neuordnung

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Die Tücken einer Neuordnung

NOCH im vergangenen Jahr war die Stimmung euphorisch: Die Regierung in Washington erklärte, es sei geplant, die nordamerikanische Freihandelszone Nafta, zu der bisher noch Kanada und Mexiko gehören, auf den gesamten südlichen Kontinent auszuweiten. Doch dann kam die Wirtschaftskrise in Mexiko, und jetzt sind die neuen Vorschläge wieder vom Tisch. Nichts geht mehr, lediglich von bilateralen Abkommen ist die Rede, und zwar unter Bedingungen, die in erster Linie den US-Investoren zugute kommen sollen.

Gleichzeitig bemühen sich die großen Länder Südamerikas, allen voran Brasilien, mit dem regionalen Wirtschaftspakt Mercosur und verstärkten Beziehungen zur EU ein Gegengewicht zur wirtschaftlichen Dominanz der USA über den Kontinent zu schaffen.

Von JANETTE HABEL *

Seit der Handelskrieg den Kalten Krieg abgelöst hat, definiert Washington seine nationale Sicherheit in ökonomischen Kategorien. Für Lateinamerika, das man lange Zeit als exklusive Einflußsphäre ansah, soll die Politik des big stick, des „dicken Knüppels“, durch die der „guten Nachbarschaft“ ersetzt werden. Das Ende der bewaffneten Konflikte in Mittelamerika, die Rückkehr des Präsidenten Jean-Bertrand Aristide nach Haiti unter der Obhut der USA, die Schwächung Kubas – all das hat gezeigt, daß die „kommunistische Gefahr“ sich in nichts aufgelöst hat. Das von Ronald Reagan so gefürchtete „feindliche Dreieck“ aus Kuba, Nicaragua und Grenada existiert nicht mehr. Der Augenblick gilt in Washington als günstig, um die Prioritäten in seiner Einflußsphäre neu zu definieren und, wie es Präsident Clinton formuliert hat, „sich ganz neue Kleider zuzulegen“ für eine Welt, die sich vollständig gewandelt hat.

„Die Demokratie und das kapitalistische Modell werden nicht mehr in Frage gestellt. Ausländische Investitionen sind willkommen“, stellt Joseph Duffey fest, Leiter der United States Information Agency (USIA)1. Aber der Kontinent Amerika ist ein großer Markt, auf den auch Europäer und Asiaten streben. Angesichts dieser Konkurrenz wollen die USA nach und nach die schon bestehende fruchtbare wirtschaftliche Integration auf den ganzen Kontinent ausdehnen. „Eine Partnerschaft für den Neuanfang“ begründen: so lautete das Ziel, das anläßlich des Amerika-Gipfels vom 9. bis zum 11. Dezember 1994 in Miami verkündet wurde; Miami wurde bei dieser Gelegenheit zur künftigen „Hauptstadt für gesamtamerikanische Angelegenheiten“ proklamiert.

Die politischen Berater von Präsident Clinton hatten (wie schon George Bush) die Absicht, eine einzige große Freihandelszone von Alaska bis Feuerland zu schaffen. Mit ihr sollte das bisherige Freihandelsabkommen mit Kanada und Mexiko (North American Free Trade Agreement, Nafta) erweitert werden, um auch die Exporte nach Südamerika zu stimulieren und so den US-Amerikanern ihre immer größer werdenden Sorgen um ihre Arbeitsplätze zu nehmen. Clinton hatte – noch vor der mexikanischen Finanzkrise – eine positive Bilanz des Nafta-Abkommens gezogen: „Unsere Ausfuhren nach Mexiko sind im Verlauf der neun ersten Monate dieses Jahres um 22 Prozent gestiegen. Die Zunahme der Exporte nach Mexiko und Kanada hat es uns erlaubt, 1994 in den USA mehr als hunderttausend Arbeitsplätze zu schaffen. Die Automobilausfuhr wurde um 500 Prozent gesteigert. Ich füge hinzu, daß die mexikanischen Exporte in die Vereinigten Staaten ebenfalls zugenommen haben. Es ist ein gutes Geschäft für uns und auch ein gutes Geschäft für sie“2, erklärte er in Miami. Diese Einschätzung war allerdings zu optimistisch, kurz darauf bekamen die amerikanischen Exporte den Kurssturz des mexikanischen Peso unmittelbar zu spüren.

Nach anfänglicher Skepsis und Zurückhaltung haben die meisten lateinamerikanischen Länder die Beschlüsse des Gipfels von Miami positiv aufgenommen. Als man sich gemeinsam vornahm, bis zum Jahr 2005 ein Freihandelsabkommen für den gesamten Kontinent (Free Trade Area of the Americas, FTAA) abzuschließen, schien sich die wirtschaftliche Integration des Kontinents zu konkretisieren. Zum ersten „Partner“, über dessen Eingliederung ab 1995 verhandelt werden sollte, wurde Chile erkoren. Die mexikanische Krise und der Wechsel der Mehrheitsverhältnisse im amerikanischen Kongreß haben jedoch schon zu Verzögerungen geführt. Warren Christopher ist in seiner Rede über die Amerika-Politik am 20. Januar 1995, zum großen Verdruß der lateinamerikanischen Staaten, nur mit einem einzigen Satz auf den in Miami beschlossenen Aktionsplan eingegangen, nach dem die Verhandlungsrunden schon längst hätten beginnen sollen.

Seitdem sind Partnerschaften zu jeweils unterschiedlichen Bedingungen viel wahrscheinlicher. Mit den Staaten des südamerikanischen Freihandelsabkommens Mercosur, mit Chile oder mit Kolumbien, Venezuela und Mexiko sucht Washington einen verstärkten Austausch und bietet wenig riskante bilaterale Verträge an, denn „eine zweite mexikanische Krise könnten die Vereinigten Staaten nicht bewältigen“3. Vor der Erweiterung der Nafta müßten also mehrere Staatengruppen geschaffen werden.

Wirtschaftliche Überlegungen stehen bei den USA an erster Stelle, gleichwohl versucht die Demokratische Partei, auch ein neues Schema kollektiver Sicherheit auszuarbeiten sowie ein interamerikanisches System, das der Zeit nach dem Kalten Krieg und dem daraus resultierenden Ende der von den Supermächten auferlegten Disziplin gerecht wird. Gesucht wird jetzt ein Panamerikanismus neuen Typs, der für ein „stabiles und sicheres Umfeld“ und eine dauerhafte wirtschaftliche Entwicklung sorgt sowie die Konsolidierung demokratischer Regime erleichtert. Die Zusammenarbeit mit ihnen, so schwebt den USA vor, soll die Wanderungsströme bremsen, die man als innere Gefahr ansieht. Für die US-Amerikaner stellt die Einwanderung oft das heikelste Thema in den Beziehungen zu ihren Nachbarn dar4 und ist Quelle eines fast ständigen Konflikts mit den lateinamerikanischen Staaten.

Für diejenigen Demokraten, die die Lage klar erkennen, setzt die Stabilität der Region demokratische Normalisierung und wirtschaftliches Wachstum voraus. Die Militärdiktaturen alten Typs sind nicht mehr in der Lage, den neuen Anforderungen nachzukommen, und das Pentagon will nicht mehr die Gendarmen für eine Welt ohne Regeln stellen, wenn das den Tod von amerikanischen Soldaten bedeutet. So schlägt die Mitte Dezember in Miami angenommene Grundsatzerklärung vor, die Rolle der Organisation der Amerikanischen Staaten (OAS) und der Interamerikanischen Entwicklungsbank (IDB) zu stärken. Geplant ist, daß ein Korps von „Weißhelmen“ eingesetzt wird, um diese Maßnahmen durchzuführen, und diese sollen, so ein amerikanischer Verantwortlicher, Lateinamerika binnen kurzem „zum ersten vollständig demokratischen Kontinent in der Geschichte der Menschheit“ machen.5

Die Politik des „Dampfkochtopfs“

DIESES neue demokratische Paradigma hat man in Haiti erstmals nachhaltig umzusetzen versucht. Die Rückkehr des haitianischen Präsidenten Aristide ließ die Verbindungen von Pentagon und CIA mit dem Putschgeneral Raoul Cédras vergessen und verringerte auch die Zahl der flüchtenden Boat people. Die Militärintervention der USA erhielt durch einige UN-Beschlüsse6 den Anstrich einer multilateralen Aktion, und so konnten die politischen Kosten der Operation gegenüber den lateinamerikanischen Ländern begrenzt werden, von denen die meisten gegen eine bewaffnete Intervention auf Haiti gewesen waren.

Außenminister Warren Christopher und Verteidigungsminister William Perry betonten in ihrer Auseinandersetzung mit kritischen Exponenten der Republikanischen Partei, „daß die Unterstützung anderer Nationen und die Bereitstellung von Finanzmitteln über internationale Allianzen und Institutionen es möglich machen, wichtige Ziele zu erreichen, ohne daß amerikanische Soldaten alle Risiken allein tragen oder die amerikanischen Steuerzahler für die gesamten Kosten aufkommen müssen“7.

Gegen dieses diplomatische Vorgehen richten sich allerdings die jüngsten Initiativen der Republikaner, die seit den Wahlen im letzten November über die Mehrheit in beiden Häusern des Kongresses verfügen. Ein Gesetzentwurf, den Jesse Helms, Vorsitzender des Außenpolitischen Ausschusses im Senat, und Dan Burton, Mitglied des Repräsentantenhauses, zur Verschärfung des Embargos gegen Kuba einbrachten, steht den vom Weißen Haus verkündeten Zielen diametral entgegen. Wird er Gesetz, dann könnten ausländische Unternehmen gerichtlich verfolgt werden, wenn sie in kubanische Firmen investieren, die nach der Revolution ihren nordamerikanischen Besitzern enteignet worden waren. Ihren Aktionären würden Visa für die Vereinigten Staaten verweigert, sie erhielten keine Kredite von US-Banken. Auch der Ankauf von Zucker oder von daraus gewonnenen Produkten aus Staaten, die den Zucker aus Kuba importiert haben, wäre nach diesem Gesetz künftig verboten.

Kubas Flüchtlingskrise im Sommer 1994 wurde von US-amerikanischen Diplomaten als Problem der regionalen Sicherheit gehandhabt, wovon Jesse Helms gar nichts hielt: „Sagen wir es offen: ob Castro Kuba in vertikaler oder in horizontaler Position verläßt, das ist sein Problem und das Problem des kubanischen Volkes. Aber er muß und er wird verschwinden.“8

Wie wird der Widerspruch zwischen Washingtons Unnachgiebigkeit im Fall Kuba und seiner größeren Nachsicht gegenüber der Mißachtung der Menschenrechte durch Peking, Hanoi oder Pjöngjang gerechtfertigt? „Die amerikanische Außenpolitik ist eine Mischung aus Prinzipien und Pragmatismus, wobei die Gewichtung variiert“, erklärt ein amerikanischer Diplomat dazu. „Das Embargo heute aufzuheben käme einer Anerkennung Castros gleich“, fügt ein anderer hinzu. Überzeugt davon, daß sich der von ihnen so sehr herbeigesehnte Sturz des Castro-Regimes innerhalb absehbarer Zeit erfüllen werde, setzt eine Mehrheit im Kongreß – sowohl Demokraten wie Republikaner – auf die sogenannte „Politik des Dampfkochtopfs“: Man erhöht den inneren Druck auf der Insel – eine offensichtlich mehr als kurzsichtige Politik, die für die gesamte Region große Gefahren birgt.

So hat auch die Europäische Union gegenüber der US-Regierung vor kurzem noch einmal ihre „tiefe Besorgnis“ darüber zum Ausdruck gebracht, daß die bevorstehende Annahme des Gesetzentwurfs von Helms und Burton „den Regeln der Welthandelsorganisation widersprechen könnte“.

Es ist nicht ausgeschlossen, daß US- Präsident William Clinton von seinem Vetorecht Gebrauch macht, um dieses Gesetz zu verhindern. Das im Mai zwischen Washington und Havanna vereinbarte Einwanderungsabkommen markiert dabei einen wirklichen Wendepunkt. Daß die US-Behörden die aus dem Meer gefischten Boat people (balseros) nunmehr nach Kuba zurückschicken, kann nicht anders interpretiert werden, als daß man in Washington der „kommunistischen Diktatur Fidel Castros“ plötzlich doch eine gewisse Legitimität zuerkennt. Das haben die Exilkubaner in Miami offenbar auch so gesehen, als sie anläßlich einer Großdemonstration, an der rund zweihunderttausend Personen teilnahmen, eine Puppe mit dem Bildnis des Präsidenten der Vereinigten Staaten verbrannten.

Zur selben Zeit signalisiert die tiefe Finanzkrise in Mexiko das Scheitern der Nafta-Strategie einer regionalen Integration unter Führung der Vereinigten Staaten. Dazu bemerkte ein nordamerikanischer Wissenschaftler: „Es hat sich eindeutig gezeigt, daß das neoliberale Wirtschaftsmodell, das in Mexiko vorherrschend war, mit seiner übergroßen Abhängigkeit von ausländischem Kapital und ausländischen Investoren, weder in den Vereinigten Staaten noch in Mexiko politisch und sozial vertretbar ist.“9

Aber welche andere Strategie für eine autonome und dauerhafte Entwicklung im Süden des Kontinents gibt es? In einer Zeit der weltweiten Liberalisierung des Handels sprechen sich nur noch wenige lateinamerikanische Politiker für eine Rückkehr zu den protektionistischen Strategien der sechziger Jahre aus – auch wenn Brasilien immer noch seine Einfuhrzölle erhöht, um sich gegen die ausländische Konkurrenz zu schützen. Doch eine dauerhafte Entwicklung – darüber sind sich heute nahezu alle Beteiligten einig – ist nur möglich durch die Zusammenarbeit komplementärer Ökonomien auf der Grundlage ausgewogener Handelsbeziehungen.

Könnte die von Europa unterstützte Bildung regionaler Zusammenschlüsse dabei helfen? Mit ihrem Vorschlag, ein Freihandelsabkommen zwischen der Europäischen Union und dem Mercosur abzuschließen, hoffen die Staaten der südlichen Hemisphäre, die Vormundschaft Washingtons einzudämmen. Brasilien, erste Macht auf dem Halbkontinent und zehntgrößte Handelsnation der Welt, wäre hierbei der Angelpunkt. 1994 hat die brasilianische Regierung die Gründung einer rein südamerikanischen Freihandelszone vorgeschlagen, unter explizitem Ausschluß von Nordamerika und mit dem Mercosur als einer ersten Etappe – ein Plan, der angesichts der Dynamik des interregionalen Handels auch durchaus gerechtfertigt erscheint. Der Ausbau des Mercosur gehört zu den Prioritäten der brasilianischen Außenpolitik, die diesen regionalen Block stärken will, um aus einer besseren Position heraus mit den Vereinigten Staaten und der Europäischen Union verhandeln zu können.

Aber ist Europa überhaupt in der Lage, diese Bewegung zu unterstützen? Ein Rahmenabkommen, dessen Unterzeichnung noch 1995 ansteht, soll die Leitlinien der wirtschaftlichen Zusammenarbeit zwischen Europa und Lateinamerika festschreiben. Doch hat der französische Landwirtschaftsminister dieses beim Europagipfel im Dezember 1994 in Essen beschlossene Vorhaben bereits als „äußerst gefährlich für die Landwirtschaft der Gemeinschaft und die gemeinsame Agrarpolitik“ bezeichnet10.

Die vier Mitgliedsstaaten des Mercosur (Argentinien, Brasilien, Paraguay und Uruguay) gehören zu den wichtigsten Exporteuren von Getreide, Fleisch und Milchprodukten. Es dürfte alles andere als einfach sein, die Präferenz für Agrarerzeugnisse aus der Gemeinschaft und den europäischen Willen zum Ausbau strategischer Beziehungen mit dem viertgrößten Markt der Welt miteinander zu vereinbaren. Die lateinamerikanischen Regierungen, die auf eine größere Öffnung der Märkte angewiesen sind, weisen denn auch immer wieder auf die Unausgewogenheit in den Handelsbeziehungen hin11.

Die Forderung nach Demokratisierung erschüttert derzeit die alten politischen Systeme, die Staatsapparate verlieren einen Teil ihrer Legitimität, und zugleich gerät die neoliberale Politik, die die regionale Blockbildung bestimmt hat, in eine Krise. Die Ungleichheit nimmt überall zu, alte Grenzkonflikte brechen wieder auf, Indianervölker fordern erneut ihre Rechte ein, wie in Chiapas oder in Guatemala. Die neue, gerechtere und stabilere politische Ordnung für Lateinamerika, von der die USA behaupten, daß sie sie anstrebten, läßt auf sich warten.

1 USIS Wireless File, 12. Dezember 1994

2 USIS Wireless File, 12. Dezember 1994

3 Erklärung von Warren Christopher, International Herald Tribune, 24. Februar 1995

4 Dessen sind sich die amerikanischen Politiker sehr bewußt. Dazu der Artikel von William M. Leogrande, „Washington et l'écueil haitien“, Le Monde diplomatique, Oktober 1994

5 Abraham F. Lowenthal, „L'Amérique latine: échec ou renaissance?“, in: Politique étrangère, Paris, Winter 1994/95

6 Durch die Annahme der Resolution 940 hatte der Sicherheitsrat Washington am 31. Juli 1994 autorisiert, von militärischer Gewalt Gebrauch zu machen, um die Putschisten zu vertreiben, die seit 1991 an der Macht waren.

7 New York Times, 14. Februar 1995

8 Time, 20. Februar 1995. Man muß allerdings darauf hinweisen, daß William Buckley Jr., einer der einfußreichsten Rechtsintellektuellen des Landes, kürzlich gegen die Beibehaltung des Embargos Stellung bezogen hat.

9 International Herald Tribune, 17. Februar 1995

10 Le Monde, 13. April 1995

11 siehe Jean-Jacques Xouvliandsky, „L'Europe et le Sommet des Amériques“, in Relations internationales et stratégiques, No. 17, Frühjahr 1995

* Verfasserin von Ruptures à Cuba,

Montreuil 1992

Le Monde diplomatique vom 16.06.1995, von Janette Habel