16.06.1995

Fangnetz Sarajevo

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Fangnetz Sarajevo

Nach einigen Monaten künstlicher Atempause sind die Kämpfe in Bosnien-Herzegowina wieder ausgebrochen. Die serbischen Milizen haben Dutzende von Blauhelmen als Geiseln genommen und so... Nach einigen Monaten künstlicher Atempause sind die Kämpfe in Bosnien-Herzegowina wieder ausgebrochen. Die serbischen Milizen haben Dutzende von Blauhelmen als Geiseln genommen und so einmal mehr ihre Mißachtung des internationalen Rechts sowie des Kriegsrechts bewiesen. Die internationale Gemeinschaft, gespalten ud kleinmütig, ist unfähig, eine politische Beilegung des Konfliktes durchzusetzen oder aber den Aggressoren den Krieg zu erklären. Die Einwohner von Sarajevo bezahlen für diese Ohnmacht seit mehr als drei Jahren. Sie sitzen in der Falle, sind den Heckenschützen ebenso wie den wahllosen Bombardierungen ausgeliefert und können weder die belagerte Stadt verlassen noch ein normales Leben führen. Von der Außenwelt aufgegeben, versuchen sie einen eigenen Widerstand, kämpfen sie um ihre körperliche Unversertheit und darum, daß die Flamme der Freiheit nicht erlischt.  ■ Von FRANÇOIS MASPÉRO

DIE „Sicherheitszone“ von Sarajevo gemahnt an ein Fangnetz: etwa zehn Kilometer lang und vier, manchmal auch nur zwei Kilometer breit, in einem von Bergen umschlossenen Tal. Auf den Berghängen verläuft die Grenze der serbischen „Republik“ von Pale. Man kann sie von allen Straßen aus sehen. Umgekehrt kann man aus den serbischen Schützengräben in alle Straßen gezielt hineinschießen. Während der schlimmsten Belagerungszeit sendete das Fernsehen von Pale, das man in Sarajevo bestens empfangen kann, Bilder, die von den Berghöhen herab aufgenommen worden waren und auf denen deutlich und in Großaufnahme dieses oder jenes Fenster zu sehen war. Für den Einwohner, der hinter seinem Fenster womöglich gerade fernsah, war die Wirkung erschreckend. Die Männer von Pale finden ihre Zielscheiben heute im Innern des Fangnetzes: in der Altstadt und auf dem Markt, oder häufiger noch auf dem langen freien Gelände der Avenue, die die Neustadt durchzieht und wegen der Belagerung durch Heckenschützen den Namen“sniper alley“ trägt. Am einfachsten war es, auf die Straßenbahn zu zielen, doch da diese nicht mehr fährt, begnügt man sich mit Passanten, am liebsten mit denen vor dem Hotel Holiday Inn. Diesen Ort bevorzugen die Schützen, denn sie wissen, daß Journalisten aus der ganzen Welt ständig ihre Kameras bereithalten.

Hineingelangen in dieses Fangnetz kann man vom Westen her, vom Flughafen. Er ist in der Hand der Vereinten Nationen und in der Art eines Keiles in die serbischen Stellungen eingerammt. Von den etwa 380.000 Einwohnern Sarajevos kommt niemand offiziell aus dem Fangnetz heraus, mit Ausnahme der wenigen, die einen der seltenen von der Unprofor ausgestellten Passierscheine haben. Lange versuchten viele ihr Glück, indem sie rennend die Flugbahn überquerten. Am Tag gerieten sie in das Feuer der Serben. Nachts richteten die Wachen der Unprofor ihre Scheinwerfer auf sie, wodurch sie den Schützen ausgeliefert waren. Bergleute gruben einen ein Meter breiten Tunnel unter die Piste. Das ist der einzige Ausgang, für die Zivilbevölkerung ebenso wie für die Männer der bosnischen Armee.

Es gibt auch keine normale Verbindung mit dem Rest der Welt. Aus der Stadt heraus zu telefonieren ist unmöglich. Man kann Anrufe empfangen, die Leitungen sind jedoch überlastet. Keine Post: Die verrosteten Briefkästen sind Relikte einer anderen Zeit. Man kann seine Post Ausländern anvertrauen, die Unprofor verbietet es jedoch, mehr als sechs Briefe zu transportieren. Zum Glück beachtet niemand dieses Verbot.

So weit zur ersten Mauer von Sarajevo. Unschwer erkennt man, daß sie eine zweifache ist: eine Mauer der Belagerer und eine Mauer der Soldaten der Vereinten Nationen. Obwohl die ersten gekommen sind um zu töten, und die zweiten, um sich dazwischen zu stellen, haben die Einwohner Sarajevos das Gefühl, daß beide in gleicher Richtung wirken – die einen, indem sie blockieren, und die anderen, indem sie filtern: Beide Seiten hindern die Bewohner daran herauszukommen. Von der Sicherheitszone zum Konzentrationslager ist es für sie nur mehr ein Gedankenschritt.

Es gibt jedoch noch andere, weniger sichtbare Mauern. Die deutlichste ist jene zwischen den Einwohnern Sarajevos und den Ausländern, die der Krieg in die Stadt brachte. Was die Militärs der Unprofor anbetrifft, liegen die Dinge eindeutig. Alles trennt sie von der Bevölkerung: Sie tragen eine Uniform – Blauhelme, die die Gesichter verbergen, kugelsichere Westen, die den Körper einklemmen; sie fahren nur in gepanzerten Fahrzeugen, sie leben zurückgezogen in ihren Unterkünften; sie haben ihre Läden, ihre Restaurants und Geld, das sie ausgeben können; natürlich können sie die Zone verlassen – wenn es Flüge gibt, über den Flughafen, sonst über die Straße, an den Checkpoints, die ihnen und den von den Belagerern so geizig gewährten humanitären Hilfskonvois vorbehalten sind.

FÜR die Einwohner Sarajevos geht es darum, ihre Stadt und ihr Land, einen Rechtsstaat – unabhängig davon, was sie an seiner Regierung kritisieren mögen –, gegen die Aggressoren zu verteidigen, die das internationale Recht verletzen. „Tschetniks“ wie sie diese Menschen nennen, in ihrem Verständnis ein Synonym für Gesetzesbrecher. Für die Militärs der Unprofor geht es im Gegenteil darum, unabhängig von persönlichen Sympathien, ein Gleichgewicht zwischen den „kriegführenden Parteien“ herzustellen. Französische Offiziere besuchen ihre serbischen Kollegen in Pale und machen keinen Hehl daraus, daß diese einen ordentlicheren Eindruck auf sie machen als jene der bosnischen Armee, eine spät und vor Ort zusammengestellte Volksarmee, die weitaus weniger stattlich aussehen als die Erben der jugoslawischen Armee.

Ausländer, die einer der zahlreichen regierungsunabhängigen und humanitären Organisationen angehören, sind nur selten auf den Straßen zu sehen, obwohl sie Zivilisten sind. Sie benutzen bevorzugt Autos mit besonderen Zeichen oder Wimpeln, die wie die der UNO weiß lackiert sind. Sie haben sich an ihren Arbeits- und Wohnstätten Überlebensvorräte angelegt und kommunizieren mit dem Rest der Welt per Sender oder Satellitentelefon.

Ob Militärangehörige oder Zivilisten, die Ausländer sind voller Mitgefühl für die Bürger Sarajevos: sie helfen ihnen und mildern ihre Leiden. Aber vielleicht fängt hier schon die Mauer an: für sie sind die Menschen in Sarajevo keine Menschen wie die anderen; sie sind immer und vor allem leidende Wesen. Umgekehrt fällt es den Bewohnern der Stadt schwer zu verstehen, daß eine Armada gut trainierter und gut genährter Männer – die Elite der Armeen der Welt –, gespickt mit Kanonen und Maschinengewehren, nur erschienen sein soll, um Lebensmittel zu verteilen.

Einheimische und Ausländer leben also auf weit voneinander entfernten Planeten. Die einen sind immer am Rande des Hungers, die anderen können essen, was sie wollen und soviel sie wollen; die einen können nur unter Lebensgefahr und durch einen Maulwurfgang in die Außenwelt gelangen, die anderen tun es ganz unbehindert und unter freiem Himmel. Die Kinder von Sarajevo kennen das Meer nur durch das serbische Fernsehen, das ihnen zeigt, wie die Kinder aus Pale dort ihre Ferien verbringen.

Auch im Angesicht des Todes sind sie getrennt. Zwar schwebt die Bedrohung der serbischen Kanonen und Gewehre über der ganzen Stadt, doch die Militärs der Friedensmacht lebten lange Zeit in der Quasi-Gewißheit, daß ein Heckenschütze keinen „Blauhelm“ zur Zielscheibe nehmen würde. Der Krieg richtet sich hier vor allem gegen die Zivilisten. Jede Woche werden Namenlose wie Hasen erlegt: Das ergibt bestenfalls eine Lokalnachricht. Wird jedoch ein „Blauhelm“ anvisiert und erschossen, empört sich der Sicherheitsrat der Vereinten Nationen, und die französische Regierung stellt die Aufrechterhaltung ihres Kontingents in Frage. Dafür gibt es in den Annalen der Militärgeschichte keinen Präzedenzfall: Die Sicherheit einer Armee in Kriegsbereitschaft hat Vorrang vor der der Zivilbevölkerung, die zu schützen

ihr Auftrag ist. Rittlings auf dieser Mauer findet sich eine bestimmte Kategorie von Einwohnern, Mitarbeiter der Ausländer, Dolmetscher oder Sekretäre, die aufgrund ihrer Sprachkenntnisse gewissermaßen die Rolle des Fährmanns spielen. Sie kommen in den Genuß eines Monatseinkommens von mehreren hundert Francs, während ein bosnisches Einkommen, soweit es das überhaupt gibt, einige Francs beträgt; sie haben Zugang zu einem Satellitentelefon; sie besitzen die Wunderkarte der Vereinten Nationen, die sogenannte „blaue Karte“, um sich nach der Sperrstunde draußen zu bewegen, und einigen gelingt es sogar hier und da nach langen Bemühungen, mit dem Flugzeug herauszugelangen.

Vom Einkommen eines derart Privilegierten leben mehrere Familien. Daneben gibt es natürlich die Illegalen, die in alle möglichen Schiebereien verwickelt sind, insbesondere mit bestimmten Kontingenten der Vereinten Nationen, deren Sold mager und deren Moral äußerst flexibel ist, beziehungsweise mit jenen, die die Umleitung der humanitären Hilfe organisieren.

EINE andere Mauer oder, besser, ein Geflecht von Mauern hat sich innerhalb der Zivilbevölkerung gebildet. Für die Ausländer kaum sichtbar, treibt es seine Verzweigungen immer enger zwischen die Einwohner und richtet Unheil an. Sarajevo hat viele Jahrhunderte und Regime überstanden und seine Identität als plurale Stadt bewahrt, so wie einst Saloniki, Alexandria und selbst Danzig, die nur noch Erinnerungen sind. Die Zerstörung der Nationalbibliothek symbolisiert den Willen, eine derartige Identität auszulöschen, ja selbst den Gedanken an sie auszumerzen. Die verbrannten Manuskripte und Bücher entstammten aus allen Kulturen der Welt, sie waren in arabischen, lateinischen oder kyrillischen Zeichen geschrieben, ihre Autoren waren Türken, Deutsche, Franzosen, Engländer und auch Serben. Aus ihnen allen setzte sich dieser Schatz zusammen.

Die Menschen von Sarajevo, die alle gleichermaßen Bürger der einen gleichen Stadt sind und gemeinsam die Identität dieser Stadt ausmachen – so wie die Bücher in der Bibliothek –, sitzen in der Falle: Sie wissen, daß der Feind gegenüber sie von vornherein in Volksgruppen sortiert hat, das heißt in Menschen und Untermenschen. Wenn er ein Gebäude stürmt, wird er an bestimmte Türen klopfen, um zu töten, und nicht an andere. Der „freie“ Bürger Sarajevos trägt das ihm vom Feind aufgeklebte Etikett, ob er will oder nicht: Er ist Muslim, Kroate, Serbe, Jude. Er hat es immer gewußt, doch es hat ihn nie gekümmert; mitunter hatte er es vergessen, mitunter war er stolz darauf. In jedem Fall hatte es ein Attribut seines Wesens dargestellt, und nicht sein Wesen selbst. Auch wenn er heute weiterhin betont, daß das nicht das Wesentliche sei, weist sein Name auf den Unterschied hin. Oder sein Vorname. Ein einziger Buchstabe kann über ein Leben entscheiden: Biba ist muslimisch, Boba slawisch.

Er kann diesem Geschwür widerstehen. Und er widersteht. Aber wie sollte er sich in diesem Widerstand nicht verändern? Denn schließlich ist sein Feind Serbe, auch wenn er ihn lieber Tschetnik nennt. Wie kann der Nachbar mit dem serbischen Namen, der auf demselben Flur wohnt, kein Feind sein? Und was wird dieser Nachbar tun, um sich nicht seinerseits verdächtig zu fühlen? Doppelt erschöpfende Anstrengung: Man muß dem Feind widerstehen, aber auch dieser erniedrigenden Reduktion, die er einem aufdrängt, indem er einem seine Sicht von der Menschheit aufzwingt. Es braucht viel Mut, damit man angesichts der Lage nicht die Hoffnung verliert. Daß noch so viele diesen Mut aufbringen, nötigt Bewunderung ab. Andere sind weich geworden. Manche, die gesagt hatten, sie würden die Stadt niemals verlassen, geben plötzlich, wenn die unverhoffte Gelegenheit sich bietet, alles auf. Andere sind der Versuchung der Ausgrenzung erlegen, ziehen sich in den Haß zurück: ein schwer vermeidbares Räderwerk.

Was bleibt den Bürgern Sarajevos, die im doppelten Netz der serbischen Aggression und der weltweiten Gleichgültigkeit gefangen sind, als ihre eigenen Mauern aufzurichten?

Die offensichtlichste Abwehr ist die Sprache. Man hatte die Existenz einer allen Südslawen gemeinsamen Sprache akzeptiert, des Serbokroatischen. Jeder sprach und schrieb sie auf seine Weise, aber man stellte sich nicht mehr die Frage, ob Ivo Andric ein bosnischer Schriftsteller oder ein jugoslawischer Nobelpreisträger sei. Die im Namen Jugoslawiens und von einer jugoslawisch genannten Armee durchgeführte Aggression hat diesen Konsens zerstört: Man will keine gemeinsame Sprache mehr, die diese in Verruf gekommene Ganzheit verkörpert. Die ethnische Säuberung, von einer serbischen „Republik“ betrieben und von einer in Belgrad sitzenden Regierung unterstützt, macht ihren Opfern den Gebrauch einer Sprache unmöglich, in deren Namen das Wort „serbisch“ auftaucht – ebenso wie sie den Opfern der Kroaten in Mostar den Gebrauch des Wortes „kroatisch“ unmöglich macht. Man entdeckt die Existenz einer „bosnischen“ Sprache wieder, die sich nicht auf die Bereicherung durch türkische Wörter begrenzt, sondern ihre eigene Identität und Geschichte hat. Hie und da tauchen Sprachreiniger auf und mahnen die Schriftsteller, Journalisten, Lehrer, sich dem neuen Kurs anzupassen. Sie werden nicht unbedingt ernst genommen. Zugleich wird dieses Zurückziehen auf das Eigene auch nicht unbedingt als Verarmung empfunden, sondern eher als eine Weise, elementare Würde wiederzuerlangen.

Das gilt in gleicher Weise für die Religion. Bekanntlich bezeichnete im ehemaligen Jugoslawien das Wort „Muslim“ keine religiöse Zugehörigkeit, sondern die Nationalität, die 1968 geschaffen worden war, um der Forderung der Bevölkerungsteile gerecht zu werden, die im Konzert der jugoslawischen Nationalitäten ihren Platz haben wollten und die man weder mit dem zu sehr geschmähten Namen „Türken“ noch dem zu allgemeinen „Bosnier“ bezeichnen konnte. Der Muslim, dem das Recht, auf seinem Boden zu leben, in den Genuß seiner Nationalität zu kommen – in dem Sinn, den es für alle Völker der Erde hat, nämlich innerhalb eines Staates –, abgesprochen wird, eignet sich das einzige Gut wieder an, das man ihm läßt: die Religion, die ihn in den Augen der anderen bestimmt. Denn nicht nur für die Serben ist er ein „Muslim“, also ein besonderes Wesen, das man isolieren oder verjagen muß; durch die Verwirrung der Bedeutungen bezeichnet ihn ganz Europa in seiner Besonderheit. Und diese taucht für viele Europäer in dem Augenblick auf, da das Gespenst der „islamischen Gefahr“ umgeht, die mit dem Fundamentalismus der Ajatollahs verwechselt wird.

Von der Außenwelt aufgegeben, systematisch auf diese muslimische Identität reduziert, werden sich Bewohner von Sarajevo ihrer Zugehörigkeit zu einer Gemeinschaft bewußt, die sich von ihnen weit entfernt hatte, und finden den Weg zur Moschee wieder; auch das ist eine natürliche Bewegung. Gleichzeitig öffnen die wirklich Religiösen, die niemals auf ihren Bekehrungseifer verzichtet haben, weit die Tore. Muß man deshalb von einem Schub des Fundamentalismus sprechen? In den Straßen Sarajevos findet man zehnmal weniger islamische Tücher (und noch weniger traditionelle Schleier) als im Pariser Vorort Sarcelles. Es bleibt, daß Muslime in Sarajevo, die sonst gleichgültig oder sogar erklärtermaßen nicht religiös sind, nun gegenüber dem Fremden ihre Zugehörigkeit zur Religion ihrer Väter betonen, da der Fremde sie durch diese unterscheidet und bezeichnet: Auch hier ist es die letzte Zuflucht einer hingemordeten Würde.

Für den oberflächlichen Blick ähnelt eine Straße im Zentrum Sarajevos an einem Frühlingstag, wenn der Lärm der Granatwerfer und Maschinengewehre einige Stunden schweigt, allen Straßen der Welt. Die Fußgänger eilen geschäftig, und deutlich vernimmt man in den Straßen die Stimmen und den Widerhall der Schritte, da Autos selten sind. Gewiß, man ist überrascht über die Zahl der Krüppel jeden Alters, die an Krücken gehen. Dieses „Detail“ ist allgegenwärtig, ebenso wie die abgespannten, müden Gesichtszüge. Die Menschen sind dazu verurteilt, seit drei Jahren dieselben wenigen Quadratkilometer auf und ab zu gehen – wenn sie sich nicht gerade zu Hause verstecken müssen.

Dennoch bemühen sich die Bewohner Sarajevos, in dieser halb zerstörten Stadt, wo es in den Fenstern statt Scheiben nur mehr Plastikfolien gibt und wo sich der Müll unaufhörlich türmt, ihre physische Integrität zu wahren: Keine andere Stadt auf dem Balkan bietet einem Besucher ein so gelungenes Schauspiel: Überall sieht man wundersam saubere, ja nachgerade schicke Kleidung. Wie machen sie das? Das ist und bleibt ihr Geheimnis. Nirgends sonst sieht man so viele geschminkte Frauen, die hinter einem Wall von Schminke und Lippenstift Schutz suchen. Als letzte Gegenwehr des Individuums verbergen Kleidung und Schminke die kranken Körper und Seelen. Das gleiche gilt für die Wohnungen, oder für das, was von ihnen übrigblieb: Nach einem Gewirr schäbiger und finsterer Treppen landet der Besucher in sorgfältig gepflegten Wohnungen, wo man ihn sofort bittet, seine Schuhe auszuziehen, bevor er den Teppich betritt. Die Bewohner haben sich in einen zentral gelegenen Raum zurückgezogen, um Heizung und Licht zu sparen und um so weit wie möglich von den Fenstern entfernt zu sein, durch die der Tod zu kommen droht; sie schaffen ihre eigene Sicherheitszone, die einzige, die sie bei aller Ungewißheit kontrollieren können, und organisieren sie entsprechend den Launen der Wasser- und Stromsperren. Dort bleibt ihnen nur noch übrig zu warten. Worauf? Auf eine Rückkehr zu einem „normalen“ Leben, von dem sich niemand mehr vorstellen kann, welche Form es annehmen könnte, oder von neuem auf den Terror, der sie in die Keller zurückschicken wird?

Die Bürger Sarajevos sind zerrissen zwischen der Notwendigkeit, darüber zu sprechen, wie ihr Leben aussieht, und der Feststellung, daß Worte nicht mehr ausreichen, das Unsagbare zu sagen. Es geht ihnen wie jenen Deportierten, die 1945 aus den Lagern zurückkehrten: Sie sprachen, aber ihre Zuhörer konnten nicht erkennen, was hinter ihren Worten stand. Eine dichte Mauer trennte sie von den anderen. Lange hat man sich in Sarajevo auf den Humor, den Spott gestützt, für den die Besucher die Bewohner bewunderten. Der „Geist von Sarajevo“ machte die Runde: Mut, Einfachheit, Widerstand, Würde, Abstand. Die Besucher fuhren wieder weg und rühmten in ganz Europa diesen Atem der Freiheit, den nichts auslöschen konnte. Sie sprachen von den vollen Theatern, den rührigen Literaturzeitschriften, der freien Presse, dem Festival von Sarajevo, das in der alten Olympiastadt weiterhin jeden Winter unter den Geschossen stattfand. Die Menschen von Sarajevo können sich jedoch nicht ewig darin erschöpfen, vorbildliche Europäer zu sein.

Noch lebt dieser Geist in den Katakomben, doch läuft man Gefahr, wenn man zu lange wartet, zwischen den Leichen und den Trümmern so vieler Mauern mehr Ratten zu finden als überlebende Menschen.

Le Monde diplomatique vom 16.06.1995, von Francois Maspero