16.06.1995

Der Tunnel – Elegien aus Midwest

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Der Tunnel – Elegien aus Midwest

DREISSIG Jahre nachdem ein erster Roman1 William H. Gass auf Anhieb in den amerikanischen Bücherhimmel katapultiert hatte, erleben wir nun mit seinem neuen Roman „Der Tunnel“ die so oft verheißene Rückkehr. In der Zwischenzeit hat Gass einige – wunderschöne – Erzählungen und einige Essay-Bände veröffentlicht. Bücher mit gravitätischen Titeln, die man nicht so leicht vergißt: „In the Heart of the Heart of the Country“ und „The World within the World“. Gass gräbt und gräbt, als führe eine Schaufel ihm beim Schreiben die Hand. Und nun dieser Tunnel!

Es war einmal ein Universitätsmensch, Geschichtsprofessor in Midwest, William Frederick Kohler, der sich hinsetzte, eine Einführung zu verfassen für seine soeben abgeschlossene Studie über das Dritte Reich. Mit einemmal bekamen seine Gedanken Beine, und er stieß auf das „Buch der Erinnerung“, diesen Tunnel, der gewiß auf das Graben eines echten Tunnels anspielt (wohin wohl?), aber in erster Linie für jenen psychologischen und metaphysischen unterirdischen Gang steht, den er mit einem ungeheuer dichten Neologismus als „my inscape“ betitelt, eine nicht faßbare Innenwelt. Hier wimmelt es von Menschen, die Luft ist erfüllt von Schwingungen und gleißendem Licht – ein Ich, in dem der „Faschismus des Herzens“ modert.

Diese Geschichte ist gleichsam eine pluralistische Meditation über Geschichte, in vielerlei Arten lesbar. Darunter Kohlers Risiko, sich als Nazi zu erkennen, als möglicher Führer einer Partei der Enttäuschten (Party of the Disappointed People), eines Haufens fanatischer Frömmler. Er entflieht seiner kümmerlichen Alltagswelt und kehrt zurück in seine Kindheit, zu den wenigen zärtlichen und den vielen verletzenden Momenten mit einer Mutter, die aus pekunären Gründen vom Bourbon zum Gin wechselt; mit einem Vater, der ihn wegen seines kleinen Gliedes erniedrigt. Und wie gelangt er zur Kunst und zur Autonomie? William Gass vermengt auf geniale Weise Stil und Vokabular: Alliterationen und Neologismen, die die englische Sprache wie keine andere erlaubt, eine Poesie voller pornographischer Elemente, ganz zu schweigen von den vielen typographischen Spielereien.

Natürlich ist von Deutschland, Hitler, der Reichskristallnacht und den Lagern die Rede, und die Erzählung gräbt sich mit dem Tunnel in Midwest zugleich tief in europäische Gefilde hinein, schaufelt und stöbert. Fast alle Autoren, die evoziert werden, sind Europäer: von Platon bis Céline, von Cicero bis Amiel, von Cervantes bis Shelley, von Heraklit bis Pavese. Einer hat den „Tunnel“ jedoch wie kein anderer geprägt: Rainer Maria Rilke. An ihn lehnt sich der Titel des letzten Kapitels „Gebirge des Herzens“ an, der auf Rilkes „Weltinnenraum“ Bezug nimmt, in dem sich die Grenzen zwischen drinnen und draußen verwischen – bei Gass ist er zur „inscape“ geworden. Gemeinsam treffen sich die beiden Dichter so in den höchsten Lüften des literarischen Schaffens. JACQUES DECORNOY

1 „Omensetter's Luck“, 1966. (Auf deutsch sind erschienen: „Im Herzen des Herzens des Landes“, Salzburg; „Mit sich selber reden. Für sich selber lesen“, Graz; „Orden der Insekten“, vergriffen; „Pedersens Kind“, Salzburg.

Le Monde diplomatique vom 16.06.1995, von Jacques Decornoy