16.06.1995

Wie der Rassismus die Gesellschaft durchtränkt

zurück

Wie der Rassismus die Gesellschaft durchtränkt

Von

GILBERT

ROCHU *

IM Verlauf des höflichen Fernsehduells, bei dem sich vor dem zweiten Wahlgang zur französischen Präsidentschaftswahl Jacques Chirac und Lionel Jospin gegenübersaßen, unterstrichen beide Kandidaten einstimmig „die Notwendigkeit, den Zuwanderungsstrom zu regulieren“, das heißt, die legal Eingewanderten besser zu integrieren und die Grenzen für die Illegalen zu schließen... Von einer Abschaffung der Gesetze von 1993 war also keine Rede. Chirac bedauerte nur die Milde ihrer Anwendung – nur 16 Prozent der Abschiebebeschlüsse würden auch in die Tat umgesetzt1 –, während Jospin vorschlug, die widersinnigsten Bestimmungen abzuändern. Als Beispiel führte er jene sechs Ausländer an, die in den Hungerstreik getreten waren, da „man sie weder abschieben noch regularisieren konnte“.

Von der Schließung der Grenzen im Jahre 1974 über die Gesetze von 1993, die jeden Ausländer als Illegalen verdächtigen und alles daransetzen, ihm das Leben so schwer wie möglich zu machen, gelangt man unschwer zu einem ganz gewöhnlichen Rassismus.

In den Nachbarländern ist dasselbe Phänomen zu beobachten. Belgien, Holland, Spanien und Italien mußten ihre Bestimmungen reformieren oder neue Gesetze auflegen, um die Kontrollen zu verschärfen und die Rechte der Ausländer im Rahmen des Schengener Abkommens zu beschränken. Und so wächst die Fremdenfeindlichkeit in der Europäischen Union. Eine Art Angleichung von unten, die zur gemeinsamen Abschiebung von unerwünschten Ausländern aus Nichtmitgliedsstaaten führt.

Der Ausdruck „Schließung der Grenzen“, der 1974 in Frankreich aufkam, war nicht ganz wörtlich gemeint: Ungefähr hunderttausend Ausländer wurden jährlich im Rahmen internationaler Abkommen zur Familienzusammenführung oder als Flüchtlinge ins Land gelassen. Das gesetzgeberische Arsenal, das zwischen 1986 und 1993 entstand, ist bezeichnend für den politischen Willen, die Zahl der zulässigen Fälle durch das Errichten von Hindernissen einzugrenzen: Einführung von Visa mit großem Ermessensspielraum, die die französischen Konsulate im Ausland unter dem kleinsten Vorwand verweigern können; Reform des Einbürgerungsgesetzes, das Kinder nun neu wählen lässt, wenn sie sechzehn Jahre alt geworden sind; Pasquas Gesetz über die Steuerung der Einwanderung, das im Falle der Familienzusammenführung die Wohn- und Arbeitsbedingungen verschlechterte...

Dieses Zusammenspiel von gesetzlichen Maßnahmen und bösem Willen der Beamten erzeugt eben jene von Jospin angeführten unlösbaren Fälle.

Sechs Männer – zwei von der Elfenbeinküste und je einer aus Senegal, Mali, Peru und Ägypten – die zwischen 1984 und 1992 nach Frankreich gekommen waren, haben Kinder französischer Nationalität: Denn bis zur Reform des Einbürgerungsdekrets im Jahr 1993 konnte ein auf dem nationalen Territorium geborenes Kind als Franzose gelten. Aus diesem Grund sind die sechs Männer „geschützte“ Ausländer, die man weder ausweisen noch einbürgern kann. In der Tat sind sie ohne Visum nach Frankreich gekommen (manche schon vor 1986, als noch kein Visum erforderlich war), das Gesetz von 1993 jedoch macht die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis davon abhängig, daß die jeweilige Person zum Zeitpunkt der Antragstellung die legale Einreise nachweisen kann: Man legalisiert nun einmal nur Fälle, die legal sind.

Da die Männer sich in dieser verzwickten Lage nicht zu helfen wußten, traten sie am 11. April 1995 in den Räumen der Mission populaire von Paris in den Hungerstreik; es bedurfte der Intervention von Danielle Mitterrand und des Staatspräsidenten selbst und heftiger Aufregung in den Massenmedien mitten im Wahlkampf, um wenigstens eine Scheinlösung zu erreichen.

Dies ist kein Einzelfall. Die Entwicklungshilfeorganisation CIMADE gibt an, über etwa siebenhundert Akten mit vergleichbaren Fällen zu verfügen. Die „Commission consultative des droits de l'homme“ (beratende Menschenrechtskommission) hat ihrerseits ähnlich kafkaeske Situationen aufgedeckt, in denen es um Ehepartner von Franzosen oder legalen Ausländern ging.

Wenn ein „Illegaler“ eine Person mit Aufenthaltserlaubnis oder französischer Staatsbürgerschaft heiratet, wird sein Status nicht mehr automatisch regularisiert, wie das noch vor dem Gesetz von 1993 der Fall war. Die Verwaltung verweigert in diesem Fall die Aufenthaltserlaubnis und rät, in das jeweilige Heimatland zurückzukehren und ganz offiziell beim dortigen Konsulat ein Visum für Frankreich zu beantragen. Folgt man diesem Rat, so läuft man allerdings Gefahr, das Visum gar nicht zu bekommen, oder man bekommt es erst nach so langer Zeit, daß man am Ende das volle Jahr gemeinschaftlichen Lebens nicht mehr nachweisen kann; dieses ist aber notwendig, damit die Ehe vor den französischen Behörden nicht als Scheinehe gilt.

So ziehen es viele Verheiratete vor, weiterhin ohne Papiere zu leben. Da sie keine Arbeitserlaubnis für Frankreich erhalten, bleibt ihnen nichts anderes übrig, als sich vom Ehepartner versorgen zu lassen, der seinerseits das Risiko eingeht, wegen „Beihilfe zum gesetzeswidrigen Aufenthalt“ angeklagt zu werden2.

Diese Grauzone teilen die halb Illegalen mit den Flüchtlingen: Diese erhalten seit September 1991 eine Zuwendung von 1.300 Francs monatlich bei gleichzeitigem Arbeitsverbot. Da sie von dieser Summe nicht leben können, sind sie zur Schwarzarbeit, zur Illegalität oder zur allmählichen Obdachlosigkeit verurteilt, obwohl ihr Aufenthalt legal ist.

Denn das „Steuern der Einwanderung“ impliziert auch eine Begrenzung der Asylbewerberzahl. Die Flüchtlinge werden schon dadurch vom Betreten des französischen Territoriums abgeschreckt, daß man sie wissen läßt, acht von zehn Anträgen würden abgelehnt. Die französischen Behörden erkennen nur dann den Flüchtlingsstatus zu, wenn der betreffende Ausländer nachweist, daß er in seinem Heimatland von Verfolgung bedroht ist. Und auch das nur, wenn die Verfolgung von staatlichen Instanzen ausgeht. So haben etwa die algerischen Demokraten, die von verbotenen islamistischen Gruppen bedroht werden, zumindest theoretisch weniger Chancen, diesen Status zu erhalten, als die Islamisten, die vom Regime in Algier verfolgt werden. 1993 wurden noch vierhunderttausend Visa für Algerier ausgestellt, 1994 waren es nur noch hunderttausend. Und von 2.385 algerischen Anträgen auf Anerkennung des Flüchtlingsstatus wurden ganze 18 positiv entschieden.

Ein Ausländer, der sich in Frankreich um Familienzusammenführung oder um den Flüchtlingsstatus bemüht, wird zunächst einmal als ein Schummler betrachtet, der nur die beschlossene Beschränkung der ökomisch begründeten Zuwanderung unterlaufen will. Nebenbei macht dieser Generalverdacht der Behörden das Leben für die Ausländer immer unerträglicher. Präfekturbeamte, Bürgermeister, Sozialarbeiter, Schuldirektoren, Mitarbeiter der Post oder der Sozialversicherung werden dazu aufgefordert, sich als Fremdenpolizisten zu verhalten. Selbst Privatleute machen es sich zur Pflicht, die Anwesenheit von Illegalen zu melden.

Farid Merabet von der Vereinigung Droit de cité (Bürgerrecht) zieht ein bitteres Resümee: „Der Mann auf der Straße sieht den Einwanderer als Islamisten, der Händler hält ihn für einen Ladendieb, für den Polizisten ist er ein Illegaler.“ Und für Jean- Pierre Alaux vom Gisti, einer Organisation zur Beratung und Unterstützung von Gastarbeitern, „ist die Fremdenfeindlichkeit hoffähig geworden, weil man sie in Regeln gefaßt hat“.

Die beunruhigenden Anzeichen mehren sich: Ausweisungen wegen gesundheitlicher Probleme (Krebs, Aids) oder weil einheimische Arbeitskräfte bevorzugt werden (zweitausend ausländische Hilfslehrer); rechtsfreie Räume wie das Zentrum der Abschiebehaftzentrum im Pariser Justizpalast, das am 24. April im Gefolge schwerer Zwischenfälle geschlossen wurde (Vergewaltigung eines algerischen Häftlings, Prügeleien, Selbstmorde), Schaffung von Wartezonen auf der Grundlage des Gesetzes von 1992 auf Flughäfen, in Häfen oder in Bahnhöfen mit grenzüberschreitendem Zugverkehr, in denen Ausländer ohne Einreiseerlaubnis bis zu zwanzig Tagen festgehalten werden können, improvisierte Lager wie in Lyon, wo es den ersten juristischen Konflikt seit Inkrafttreten des Schengener Abkommens gegeben hat. Dieses Abkommen, das am 26. März 1995 in Kraft getreten ist, sieht den freien Verkehr von Personen innerhalb der Territorien der Mitgliedsländerder EU vor, während die Kontrollen an den Außengrenzen der Union verschärft werden und ein riesiges europäisches Polizeiregister über unerwünschte Ausländer wacht (das elektronische „Schengener Informationssystem“, SIS). Ein Abschiebebeschluß eines anderen Signatarstaates gilt auch in Frankreich: der betreffende Ausländer kann sofort abgeschoben werden, ein Einspruch hat keine aufschiebende Wirkung.

Beispiel: Zwei Männer aus einer Gruppe von dreihundert rumänischen Sinti suchten in der Lyoner Gegend um Asyl nach. Die Rhône-Präfektur konsultierte das SIS und stellte fest, daß beiden schon in Deutschland das Asyl verweigert worden war. Der Präfekt hat einen Beschluß zur sofortigen Rückführung an die Grenzen erlassen, wogegen das Verwaltungsgericht aber Einspruch erhob: Da es über keine Möglichkeit zur Überprüfung der Gültigkeit des deutschen Beschlusses verfügte, hat das Gericht den Ausweisungsbeschluß zurückgewiesen.

Ein anderer Zwischenfall: Ende März haben erstmals drei Länder ihre Bemühungen zur Abschiebung unerwünschter Ausländer vereint, Deutschland, Frankreich und Holland. Ein Airbus der niederländischen Fluggesellschaft Martinair brachte vierundvierzig Asylbewerber aus Zaire nach Kinshasa zurück. Dreizehn von ihnen wurden von Frankreich ausgewiesen, darunter der Vater eines französischen Kindes... Das Europa der Repression ist auf dem besten Weg.

In Ventimiglia ließ der Bürgermeister ein improvisiertes Lager für die an der Grenze festgehaltenen Illegalen errichten, genauso in Lyon: Türken, Kurden aus der Türkei und aus dem Irak wurden darin festgehalten. Sechzehn Kurden, die sich heimlich davonmachten, wurden von der Bevölkerung in Nizza angezeigt; sie wurden in einem Flugzeug der Turkish Airlines nach Ankara zurückgeschickt – ins Gefängnis oder ins Leichenschauhaus.

In Algeciras wehrt Spanien als Gendarm der Europäischen Union die Elenden ab, die unter Lebensgefahr aus Afrika herüberkommen. Die seit fünf Jahrhunderten in Spanien lebenden Zigeuner werden zunehmend als Ausländer behandelt, denen man alle Untaten zur Last legt (Drogenhandel, Diebstähle usw.), genau wie den Marokkanern in Italien.

Die Europäische Union hat 343 Millionen Einwohner und 6,4 Millionen Ausländer: Selbst wenn man noch drei Millionen Illegale hinzurechnet, machen die Ausländer nur 2,74 Prozent der Bevölkerung der Union aus. Ist das wirklich die vielbeschworene „Invasion“?

1 Tatsächlich werden 20 Prozent der Ausländer, die ohne Papiere festgenommen werden oder einen Abschiebebeschluß bekommen, über die Grenzen gebracht. Von 1993 auf 1994 hat die Zahl der Festnahmen und der Kontrollen gewaltig zugenommen, die Zahl der Abschiebungen hat sich sogar verdreifacht.

2 Das Gesetz vom 27. Dezember 1994 bedroht mit fünf Jahren Gefängnis oder mit einer Geldstrafe von 200.000 Francs „jede Person, die durch direkte oder indirekte Beihilfe die Einreise, den Verkehr oder den unerlaubten Aufenthalt eines Ausländers in Frankreich ermöglicht oder zu ermöglichen versucht hat“. Dazu: Alain Gresh, „Ces immigrés si coupables, si vulnérables“, Le Monde diplomatique vom Mai 1993, sowie Christian de Brie, „Ces lois qui créent des clandestins“, Le Monde diplomatique vom Juli 1993, ferner „Les immigrés dans l'étau policier“, Le Monde diplomatique vom Dezember 1994.

Le Monde diplomatique vom 16.06.1995, von Gilbert Rochu