16.06.1995

Kleine Diagnose des sozialen Bruchs

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Kleine Diagnose des sozialen Bruchs

SOEBEN wurde in Frankreich ein neuer Krieg erklärt: der Krieg der Regierung gegen die Arbeitslosigkeit, eine der grausamsten Formen gesellschaftlicher Ausgrenzung. Doch verfügt die politische Macht wirklich über die Mittel, sie zu besiegen? Wenn man über Arbeit spricht, ohne nach ihrem Stellenwert in der heutigen Gesellschaft zu fragen, führt die Diskussion rasch ins Leere. Wird die Angelegenheit nicht vielmehr nur mystifiziert, solange man so tut, als könne man aus der Sackgasse herauskommen, ohne die sozialen Ungleichheiten zu beseitigen und deren Verschärfung zu bekämpfen?

Von CLAUDE JULIEN *

Zunächst gilt es, das Ziel klar zu erkennen: Als verschärfte Form einer schweren sozialen Krise stellt die „Ausgrenzung“, von der Millionen Franzosen betroffen sind, nicht ein eigenständiges Phänomen dar, sie ist nicht eine genau lokalisierte Krankheit, die jeder gute Arzt isolieren und dann kurieren könnte. Das Schicksal der Ausgegrenzten verdient die Aufmerksamkeit aller. Doch wenn die Gesellschaft damit fertig werden will, muß sie die Augen öffnen: Die Ausgrenzung ist nämlich nichts weiter als der offenkundigste und unerträglichste Ausdruck der sozialen Ungleichheit.

Im Verlaufe von zwanzig Jahren, die sich auszeichnen durch eine unerbittliche Kontinuität und das Ausbleiben von Katastrophen, hat der „soziale Dualismus“, den Valéry Giscard d'Estaing einst mit dem Ton des Bedauerns konstatierte, sich längst zu jenem „sozialen Bruch“ verschärft, den Jacques Chirac zu Beginn seines Wahlkampfes so heftig angeprangert hat. Dieser Wechsel des Vokabulars ist beredter Ausdruck der realen Entwicklung, die sich auch in Zahlen ablesen läßt: Kurz bevor Giscard d'Estaing in den Élysée-Palast einzog, gab es 3% Arbeitslose; als Chirac über die Schwelle trat, bereits mehr als 12%.1

Zwischen diesen beiden Daten und Zahlen haben vier Premierminister der Rechten und fünf Premierminister der Linken die Wunde zu nähen und den Riß zu kitten versucht. Vergebens.2 Die verheerende Zunahme von Armut und Arbeitslosigkeit hätte alle Energien mobilisieren können. Statt dessen ist sie zu einem banalen Fakt innerhalb einer vertrauten Szenerie geworden.

Plötzlich nehmen die Ausgeschlossenen, denen René Lenoir 21 Jahre zuvor ein Buch3 widmete, bei den Präsidentschaftswahlen endlich jenen Platz ein, der ihnen so lange verweigert wurde.

Mit 21jähriger Verspätung! Selbst im Zeitalter der On-line-Information setzen sich bestimmte Tatsachen, so massiv sie auch sein mögen, nur ungeheuer langsam durch...

Welch träges Erwachen, wenn es denn wirklich eines ist: Als äußerster Ausdruck sozialer Ungerechtigkeit kann der derzeitige Ausschluß nicht isoliert betrachtet werden, wie man es zum Beispiel mit der Schaffung des RMI (Revenu minimum d'insertion – einer Art Wiedereingliederungs- oder Soziahilfe) versucht hat. Allzu oft beruhigt eine punktuelle Therapie – vergleichbar im Weltmaßstab mit den humanitären Hilfeleistungen für die Notstandsgebiete in Somalia oder Burundi – nur auf billige Weise das schlechte Gewissen, denn sie verschiebt die Suche nach einem wirksameren Heilverfahren und enthebt einen davon, die Ursachen des Übels zu bekämpfen, ja riskiert zuweilen sogar, diese zu perpetuieren. Davon zeugt die unaufhaltsame Zunahme der RMI-Empfänger: Ende 1994 waren es bereits 940.000.

Die krasse soziale Ungleichheit ist eine Krankheit, von der heute niemand ohne ein gewisses Schamgefühl reden mag: So sehr erscheint sie deplaziert und anachronistisch in unserer modernen Zeit, die gekennzeichnet ist durch überwältigende Produktionsleitsungen und Profite, durch falschen Ruhm und echte Gaunerei. Die meisten Bürger nehmen die krasse Ungleichheit nicht zur Kenntnis, obwohl das nationale Institut für Statistik, INSEE, festgestellt hat, daß innerhalb der französischen Bevölkerung die 20% der Ärmsten nur über 6,01% der Einkommen aller Haushalte verfügen, während die 20% der Wohlhabendsten 43,85% davon beanspruchen, d.h. siebenmal soviel.4

Auch innerhalb dieser beiden zahlenmäßig gleich starken Gruppen sind die Unterschiede enorm: Das monatliche Einkommen ganz unten auf der Skala tendiert gen Null; das an der Spitze verliert sich in schwindelnden Höhen, die geschickt im unklaren gelassen und allein von Zeit zu Zeit durch den „Preis“ eines Generaldirektors oder eines Fußballstars enthüllt werden.

Die Statistik läßt sich auch anders lesen: Die Hälfte (50%) der Bevölkerung – d.h. etwa 29 Millionen Franzosen – verfügt über einen Anteil von 24,17% aller Einkommen und liegt damit unter dem Anteil von 27,72%, den ein Zehntel (5,8 Millionen) seiner privilegierten Mitbürger beanspruchen darf. Das also ist die vielgepriesene Einheit Frankreichs, „das Frankreich für alle“!

Jeder weiß: Absichtliche Verfälschung und Verfälschung durch Auslassung machen Statistiken zu einem ausgezeichneten Mittel, die Leute für dumm zu verkaufen. So ist es. Warum aber haben die Meinungsmacher die statistischen Daten nicht mit der gebotenen Vorsicht interpretiert, sondern sind sogar im Wahlkampf stillschweigend darüber hinweggegangen? Egal wie wenig sie vorausschauen können, sie müssen längst wissen, daß die Zahl der Ausgegrenzten ständig zunimmt und von einem Tag zum anderen anschwellen kann, weil 140.000 noch vorhandene Arbeitsplätze bereits äußerst gefährdet sind und etwa die gleiche Zahl von Menschen in Wohnungen lebt, die „nicht dem Standard entsprechen“, d.h. zu deutsch: gesundheitsgefährdend sind.

So zu tun, als gäbe es keinen „sozialen Bruch“, wäre also wahlkämpferischer Selbstmord gewesen. Diesen Bruch als Resultat einer Politik anzuprangern, die systematisch die Ungleichheit verstärkt hat, hätte all diejenigen vor den Kopf gestoßen, die noch irgendein kleines Privileg zu verteidigen haben oder dies zumindest glauben. Wie konnte man um die Stimmen der äußerst bescheiden lebenden Bürger werben (im privaten und halböffentlichen Sektor verdienen über 60% der Lohnempfänger weniger als das Durchschnittseinkommen), ohne es gleichzeitig mit jenen zu verderben, denen es zwar derzeit leidlich gut geht, auch wenn ihr Lebensniveau nicht im geringsten an das der wirklich Privilegierten herankommt, die aber doch um ihr kleines wackliges Pöstchen fürchten müssen?

Es war also weise, realistisch und vernünftig, den „sozialen Bruch“ nur im Bezug auf die Ausgrenzung zu thematisieren. Der zweite Wahlgang hat die Umsichtigkeit dieser Strategie erwiesen...

Dies um so mehr, als die ungleiche Einkommensverteilung nicht das einzige Maß sozialer Ungleichheit ist. Hatten wir nicht vor kurzem erst den Fall jenes phantastischen Paares, das offiziell zwar genügend unterbemittelt erschien, um Sozialhilfe zu beziehen, aber ein herrlich eingerichtetes Schloß besaß? ... Auch bei identischer Lohnhöhe trifft der Verlust des Arbeitsplatzes denjenigen, der weder eine Wohnung noch sonst etwas sein eigen nennt, zwangsläufig härter. Doch bei der Vermögensverteilung sind die Ungleichheiten noch drastischer als bei der Einkommensverteilung. Die Nationalstatistik schätzt das Vermögen auf 24 Milliarden Francs. Das obere Fünftel (11,6 Millionen Franzosen) verfügt über 68,87%, das untere Fünftel nur über 0,44%. Wenn die Spitze und der Boden der Pyramide beim Einkommen in einem Verhältnis von 1:7 steht, so handelt es sich beim Vermögen um ein Verhältnis von 1:156. Als Balladur noch in den Wolken der Meinungsumfragen schwebte, schlug Nicolas Sarkozy bereits eine „Reform der Erbschaftssteuer“ vor, wobei er gewiß weder an die Arbeitslosen noch an diejenigen dachte, die durch Krankheit, Unfall oder einen Sozialplan von einem Tag zum anderen ins Elend gestoßen werden könnten.

Nur die Uninformiertheit könnte ein Grund dafür sein, daß viele, allerdings nur solche, die nicht betroffen waren, dem früheren Finanzminister vielleicht dankbar sind... Es ist ein skandalöses Paradox unserer „Kommunikationsgesellschaft“, daß die Mehrheit der Franzosen trotz der ständigen Berieselung durch die Medien die Augen immer noch davor verschließen kann, wie löchrig das soziale Netz geworden ist. Um die wirkliche Bedeutung dieser Löcher ermessen zu können, verfügen wir über die wichtigsten Daten – erhoben vom Nationalinstitut für Statistik, vom Studienzentrum für Einkommen und Preise (CERC), das sich als Verband neu organisiert, und von zahlreichen Organisationen, deren Kompetenz unumstritten ist.

Wenn es darum geht, diese Daten einem größeren Publikum zur Kenntnis zu bringen, sind die Medien verblüffend effektiv. Trotzdem hat der mündige Bürger, der sich informieren will, offensichtlich die größten Schwierigkeiten, auch nur zu sehen, welchen Platz er in der ungleichen Verteilung des Reichtums einnimmt, den er schließlich selbst mit hervorbringt. Er weiß nicht, daß 79,85% des Vermögens in den Händen von nur 17 Millionen Franzosen liegen, während 17 andere Millionen sich mit dem knapp bemessenen Teil von 1,21% begnügen müssen.

Die Ausgrenzung durch Arbeitslosigkeit ist gewiß die häßlichste Form des „sozialen Bruchs“, doch betrachtet man die Vermögensaufteilung innerhalb der Republik, tritt die Ausgrenzung noch deutlicher zutage als bei der ungleichen Einkommensverteilung.

Den vorhandenen Bruch abzumildern, wie es vielleicht einem Quacksalber gelänge, würde zweifellos dazu beitragen, dem von Chirac proklamierten „republikanischen Pakt“ einen Teil jener Vitalität zurückzugeben, deren jede Gesellschaft in der Krise mehr denn je bedarf. Doch diese Krise ist nicht allein ökonomischer und sozialer Natur. Bei den Präsidentschaftswahlen haben der Prozentsatz der Stimmenthaltungen, der leeren bzw. ungültigen Zettel und die Zahl der Stimmen, die die oppositionellen Kandidaten erhielten, gezeigt, daß das Fortbestehen des sozialen Gefälles einhergeht mit einer Vertrauenskrise, von der die meisten öffentlichen Einrichtungen, auch die Medien, betroffen sind.

Die Skepsis wächst und bezieht ihre Argumente nicht allein, wie man meint, aus der Diskrepanz zwischen dem, was versprochen wird, und dem, was tatsächlich getan wird, sondern auch und vor allem aus dem diffusen Gefühl, daß die Meinungsmacher (seien es nun Abgeordnete oder Journalisten) den Kontakt mit jenen verloren haben, an die sie sich eigentlich wenden; daß sie in einer anderen geistigen und sozialen Welt leben und ihr Publikum gleichsam entmündigen, es gleichsam für unfähig und unwürdig halten, den Kenntnisstand zu erreichen, den sie, zuweilen ungerechtfertigt, sich selbst zuschreiben. Mit ihrer vermeintlichen Kompetenz sitzen sie auf dem hohen Roß, jedes offenen Dialogs unter Gleichen enthoben. Sie haben jegliche Freiheit, den herrschenden Dogmen – des Wirtschaftsliberalismus – so ziemlich alles zu opfern. Doch das berechtigt sie keineswegs dazu, den Bürgern, egal für wie unfähig sie sie halten, eine Erläuterung ihrer Entscheidungen vorzuenthalten.

Noch nie, beispielsweise, sind die Ursachen und Ursprünge der Staatsverschuldung offengelegt worden, obwohl diese in den letzten Jahren gewaltig zugenommen hat:

– 1990: 1.783 Milliarden Francs, d.h. 27,5% des BSP (Bruttosozialprodukts),

– 1991: 1.868 Milliarden Francs, d.h. 27,6% des BSP,

– 1992: 2.107 Milliarden Francs, d.h. 30,2% des BSP,

– 1993: 2.462 Milliarden Francs, d.h. 34,7% des BSP,

– 1994: 2.904 Milliarden Francs, d.h. 39,3% des BSP.

Die Staatsverschuldung, die auf allen Steuerzahlern lastet (1994 machte ihre Verzinsung bereits 13,5% des Staatshaushalts aus), hat sich im laufenden Jahr weiter erhöht, so daß Edmond Alphandéry, Wirtschaftsminister unter der Regierung Balladur, sie für 1995 mit 50% des BSP ansetzt.5

Wie soll man gleichzeitig die Staatsverschuldung reduzieren und neue öffentliche Projekte finanzieren (Wohnungsbau, Schaffen neuer Arbeitsplätze etc.)? Zur Sicherung zusätzlicher Einnahmen empfiehlt Chirac eine Erhöhung der Mehrwertsteuer, die den größten Teil der Verbrauchssteuern und damit 61% der Staatseinnahmen ausmacht (die Einnahmen aus Körperschafts-, Vermögens- und Einkommenssteuern belaufen sich entsprechend auf 3%, 5% und 31%). Zwar wird argumentiert, daß der Verbraucher diese indirekte Besteuerung „leicht verschmerze“, weil sie im Ladenpreis versteckt sei und so seiner Aufmerksamkeit entgehe, doch tatsächlich ist diese eine der ungerechtesten Formen der Besteuerung, da sie nicht wie die direkte Besteuerung im Verhältnis zum Einkommen erhoben wird.6

Egal welche Strategie eine Regierung verfolgt: auf Steuerreformen kann sie nicht verzichten. Martine Aubry hat eine Erhöhung der Vermögenssteuer7 empfohlen, was den Vorteil hätte, daß die französische Steuergesetzgebung sich den in anderen europäischen Ländern geltenden Regelungen annähern würde. Aus ihrer ideologischen Orthodoxie heraus und vielleicht auch, um ihre angestammte Wählerschaft nicht zu verschrecken, hat die „Rechte“ gleichzeitig eine Erhöhung der indirekten und eine Senkung der direkten Steuern favorisiert – wovon in Wirklichkeit nur diejenigen ihrer Wähler profitieren, die den höchsten Steuersatz haben.

Solche Entscheidungen bleiben natürlich nicht ohne Resonanz. Zahlreiche Medien rechtfertigen die Entscheidungen und malen das Schreckgespenst einer möglichen Kapitalflucht an die Wand, die die steuerliche Belastung nur noch weiter in die Höhe treiben würde.

In den Vereinigten Staaten, dies sollte nicht übersehen werden, hat die Staatsverschuldung durch die großzügig gewährten Steuererleichterungen für Begüterte allerdings gefährlich zugenommen. Die amerikanische Gesellschaft bildet gewissermaßen das negative Beispiel für eine zum äußersten getriebene soziale Spaltung, die in Europa bislang vermieden werden konnte: Zwischen 1950 und 1978 sind alle amerikanischen Einkommen gestiegen, die der in bescheidenen Verhältnissen lebenden Familien sogar noch stärker als die anderen. Danach, im Zuge des konjunkturellen Niedergangs, der zumal während der Reagan-Regierung durch Steuerbegünstigungen aufgefangen werden sollte, hat sich diese Tendenz radikal umgekehrt: Seit 1978 sind die Reichen immer reicher und die Armen immer ärmer geworden.

In Frankreich verfügt das Fünftel der Wohlhabendsten über 43,85% der Einnahmen aller Haushalte; in den Vereinigten Staaten sogar über 48,2%. Ein solcher Unterschied von 5% kann manche zum Träumen verleiten... In Frankreich verfügt das Fünftel der Ärmsten über 6,01% der Einkommen; in den USA nur über 3,6%.8 Ist dies ein Beispiel, dem man folgen sollte?

Der Wirtschaftswissenschaftler am Massachusetts Institute of Technology, Lester C. Thurow, hat beobachtet, daß „in den achtziger Jahren bei den obersten fünf Prozent das durchschnittliche Realeinkommen von 120.253 US-Dollar auf 148.438 Dollar stieg, während das der untersten zwanzig Prozent von 9.990 auf 9.431 Dollar absank“9. Ohne Scheu vor großen Worten kommt er zu dem Schluß: „Noch nie in der Geschichte ist eine Plutokratie als Gesellschafts- und Regierungsform von Dauer gewesen.“

Diese Plutokratie hat gleichwohl bekanntlich ihren – wenngleich ephemeren – Reiz für die, die ihr angehören.

So unannehmbar die ungleiche Einkommens- und Vermögensverteilung unter den Erwachsenen erscheint, es gibt noch einen anderen wichtigen Grund, weshalb die soziale Spaltung – jene direkte Konsequenz des Wirtschaftsliberalismus, der die Entscheidungsträger jeglicher Couleur verführt hat – nicht hingenommen werden kann: Es ist die Lage der Jugendlichen, jener Bevölkerungsgruppe, in der bereits alle Keime vorhanden sind, das den „sozialen Bruch“ umgebende Gewebe absterben zu lassen.

Zur Zeit sind 850.000 junge Franzosen und Französinnen unter fünfundzwanzig Jahren arbeitslos.10 Hinzu kommen 380.000 junge Leute, die in gemeinnützigen Projekten mit staatlicher Finanzierung angestellt sind (“emploi aid“), sowie 320.000 weitere, die befristete Verträge oder Zeitarbeitsverträge haben. Angesichts dieser Zahlen hat natürlich bei den Wahlen keiner der Kandidaten es gewagt, sich mit dem Slogan von der „Jugend als der Zukunft des Landes“ lächerlich zu machen...

Neun Monate nach Schulabschluß ist natürlich die Arbeitslosigkeit bei jenen 139.000 jungen Leuten höher, die die Schule ohne irgendeine weitere Qualifikation verlassen haben, als bei den 170.000 mit einer Facharbeiterprüfung (CAP) oder einem Berufsschulabschluß (BEP); sie verringert sich immerhin leicht bei den 224.000 Abiturienten und bei den 248.000 Studenten, die die Hochschule mit der Zwischenprüfung verlassen haben.

Aufgrund dieser Situation haben verschiedene Kandidaten im Wahlkampf eine reale Chancengleichheit gefordert. Denn trotz eines massiven Hochschulzugangs bleibt die Ungleichheit meist unmittelbar an die Herkunft gebunden, d.h. ans soziale und kulturelle Niveau der Familie. So machen Arbeiter und Angestellte zwar 54% der Erwerbstätigen aus, doch sind ihre Kinder mit weniger als 20% (gegenüber 41,4% der Kinder der höheren Angestellten oder Angehörigen der freien Berufe) in den Studiengängen vertreten, die auf die hochbewerteten Abschlüsse vorbereiten.

Die Schule korrigiert stark, aber immer noch unzureichend die Ungleichheit der Chancen, die es bei dem Zugang zu den qualifiziertesten Abschlüssen gibt. Für ihr zukünftiges Berufsleben ebenso wie für ihr politisches Engagement bedürfen die Jugendlichen heute mehr denn je einer gründlichen Ausbildung. Gewiß kann nicht allein die Schule alle Ungleichheiten nivellieren oder ausräumen: Das nationale Bildungswesen besitzt nicht das Monopol für diese vordringliche Aufgabe, die ebenso den Wirtschafts- und Sozialministerien obliegt wie den Regionalverbänden und Bürgerinitiativen. Daher wäre es nicht weniger unverantwortlich, und liefe in jedem Falle dem „republikanischen Pakt“ zuwider, wenn die öffentliche Unterstützung für die privaten Bildungsträger erhöht würden – zumal in einem Moment, da das öffentliche Bildungswesen selbst verstärkt der Finanzierung bedarf.

In den als „problematisch“ angesehenen Wohnvierteln haben Sozialarbeiter die Erfahrung gemacht, daß es vollkommen vergeblich ist, nur punktuell zu intervenieren; jede Aktion, wie gutgemeint auch immer, die nur eine Ursache des „sozialen Bruchs“ angeht, ist von vorneherein zum Scheitern verurteilt. Denn ein wirksames Vorgehen erfordert ein Handeln auf allen Ebenen: dafür zu sorgen, daß die Kinder regelmäßig zur Schule gehen, daß sie zur Unterstützung Nachhilfeunterricht erhalten, daß ihnen kulturelle und Freizeitaktivitäten offenstehen, daß entsprechende Wohn- und gesundheitliche Bedingungen vorhanden sind...

Selbst wenn die Schule nicht alles leisten kann, bleibt sie doch der Angelpunkt verschiedener Projekte, die sämtlich darauf zielen, jenen „sozialen Aufzug“ wieder in Gang zu setzen, der nach Alain Madelin zur Zeit „außer Betrieb“ ist. Seine Reparatur wird etwas kosten. Denn den „sozialen Bruch“ zu kurieren, setzt auch voraus, daß man das wirtschaftliche und soziokulturelle Leben der davon zuerst betroffenen Randgebiete anders zu betrachten vermag, daß man die Prioritäten anders setzt, daß man mit regionalen und wohltätigen Gruppen stärker kooperiert – und daß dafür natürlich die notwendigen Gelder zur Verfügung stehen.

Frankreich ist die Industrienation, in der vom Einkommen die höchsten Sozialversicherungsbeiträge abgezogen werden (es sind über 40% gegenüber 35% in Deutschland und 3% in Dänemark), während der Einkommenssteuersatz am niedrigsten liegt (unter 12% gegenüber 25% in Deutschland und 50% in Dänemark). Der obere Steuersatz bei Erbschaften in direkter Linie, den Nicolas Sarkozy gern reduziert hätte, überschreitet in Frankreich nicht 40%, während er in Japan und Großbritannien fast bei 90%, in den Vereinigten Staaten bei 75% liegt.

Zur Bekämpfung der Arbeitslosigkeit, zur Berufsausbildung und zur einkommensabhängigen Staffelung der Sozialleistungen etc. hat Martine Aubry neue Wege aufgezeigt, die nicht auf ideologischen Gesichtspunkten basieren, sondern auf der konkreten Analyse der wirtschaftlichen, sozialen und finanzpolitischen Mechanismen.11

Diese und zahlreiche andere Vorschläge werden von Linken wie Rechten viel zu schnell abgetan. Dabei bestünde die Aufgabe des „republikanischen Pakts“ gerade in der Aufhebung der sozialen Spaltung, im Schienen des „sozialen Bruchs“. Denn der Staat vermag die großen gesellschaftlichen Probleme nur zu lösen, wenn alle Bürger aktiv dafür Verantwortung übernehmen.

Heute, wo der allgemeine Zynismus ebenso zu den verschiedensten Formen der Geschäftemacherei wie zu einem phantasielosen Pragmatismus führt12, wenn nicht gar zu einer höchst zweifelhaften „Wertedebatte“, ist die republikanische Ethik noch einmal zu überprüfen: Die blinde Unterwerfung unter die vermeintlichen Gesetze des Marktes scheint den einzelnen seines Engagements als Bürger zu entheben und ihm den Rückzug ins Private zu erleichtern. Dabei ist die Republik doch dazu da, durch Gesetz zu regeln, daß Gemeinnutz vor Eigennutz geht.

Als legitimes Kind dieser Diktatur des Marktes ist die soziale Spaltung auch deshalb nicht zu akzeptieren, weil sie zu einer anderen, weit größeren Spaltung gehört. 1992 teilten sich die reichsten 20% der Weltbevölkerung 82,7% des globalen Einkommens, die ärmsten 20% erhielten davon nur 1,4%. Heutzutage sind diese Zahlen noch weiter auseinandergerückt: 84,7% und 1,1%.

Für die Ungleichheit im globalen und im nationalen Maßstab sind dieselben Mechanismen des Wirtschaftsliberalismus verantwortlich. Das allgemeine Wahlrecht, die Gewerkschaften, die Meinungsfreiheit und die ganze Skala der sozialen Forderungen haben in den Ländern mit demokratischer Tradition die Ungerechtigkeit mühsam eingeschränkt, die Privilegien beschnitten und mehr Gleichheit eingeführt. Deshalb beträgt das Einkommen des oberen Fünftels der französischen Bevölkerung nur das Siebenfache von dem des unteren Fünftels und nicht das 77fache wie im Weltmaßstab. Der Kampf um die Gleichheit ist nie zu Ende. Er bildet den Kern des „republikanischen Pakts“.

Le Monde diplomatique vom 16.06.1995, von Claude Julien