16.06.1995

Die Vergessenen am Horn von Afrika

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Die Vergessenen am Horn von Afrika

AUSGELAUGT von einem der ältesten Konflikte des afrikanischen Kontinents – eine Million Tote und drei Millionen Flüchtlinge im Lauf der letzten zwölf Jahre –, ist der Süd-Sudan Schauplatz einer Auseinandersetzung zwischen einer geisterhaften Armee und einer unsichtbaren Guerilla. In diesem „Krieg der leeren Räume“ am Ende der Welt stehen die Einheit des Sudan, das Überleben eines Staates und die kleine Chance einer ethnischen und religiösen Koexistenz auf dem Spiel, die sowohl von den Theokraten des Nordens als auch von den Rebellenführern des Südens abgelehnt wird.

Von CARMEN BADER und SYLVIE COMA *

Selbst bei äußerst geringer Flughöhe ist nichts zu sehen. Alles verschmilzt und verschwimmt. In dieser immensen Wüstenei fallen allein die Wasser des Nils auf; sie verlieren sich ganz frei in verschnörkelten Flüßchen, Sümpfen und Seen. In der Ferne heben sich einige Hütten aus brauner Erde vom Gelb der sonnenverbrannten Gräser ab. Es ist schwer, auch nur die geringste Spur von Leben in der desolaten Landschaft des Süd-Sudan zu erkennen, wo seit dreizehn Jahren der zweite Bürgerkrieg zwischen der arabisch-islamischen Regierung des Nordens gegen die christlich-animistischen Rebellen des Südens tobt.

1983 war ein Wendepunkt in der bewegten Geschichte des Landes. In diesem Jahr brach der Diktator Gaafar al- Nemeiry Buchstaben und Geist der Verträge von Addis Abeba, die zum Abschluß eines vorherigen siebzehnjährigen Konflikts dem Süden Religionsfreiheit und eine gewisse regionale Autonomie garantierten; im September erließ er die Scharia, das islamische Recht.1 Die Träume, die aus dem Sturz der Diktatur 1985 und der Errichtung eines parlamentarischen Regimes 1985 wuchsen, waren nicht von Dauer. Die letzten Friedenshoffnungen verflüchtigten sich 1989 mit dem Militärputsch des Generals Omar al-Beschir, unterstützt von den Fundamentalisten der „Islamischen Nationalen Front“ (INF).2 Seitdem leben die Sudanesen im Rhythmus von Repression, Massendeportationen und Krieg. Aber die immense Ausdehnung des Kampfgeländes, wo Bevölkerungen auf immerwährender Flucht herumziehen, dämpft das Waffengeklirr dieser abgeschirmten Tragödie. „Vom Himmel aus gesehen, gibt es keinen Krieg. Man sieht nie Militärkolonnen. Man hört kein einziges Flugabwehrgeschütz. Es ist wirklich ein Krieg der leeren Räume“, wiederholen Ortskundige, so oft man fragt.

Doch dieser „Krieg der leeren Räume“ mobilisiert immer mehr Menschen auf beiden Seiten. Die zuverlässigsten Schätzungen gehen für Khartum von achtzigtausend Soldaten und einer noch höheren Zahl von Volksmilizionären aus. Präsident und General Omar al- Beschir will in diesem Jahr sogar noch mehr als eine Million zusätzliche Sudanesen an der Waffe ausbilden lassen. Die südlichen Rebellen der „Sudanesischen Volksbefreiungsarmee“ (SPLA) zählen ihrerseits fünfzigtausend Kämpfer. In zwölf Jahren hat der Konflikt bereits eine Million Tote und dreimal so viele Vertriebene und Flüchtlinge gefordert. Der Süden, wo vor dem Krieg sechs Millionen Menschen lebten, hat sich entvölkert.

Einst war diese riesige Region von 800.000 Quadratkilometern – anderthalbmal so groß wie Frankreich, mehr als doppelt so groß wie Deutschland – ein Abenteurerland und Sklavenreservoir. Heute haben die Kämpfe zur Verödung des Landes geführt. Die Dörfer sind verlassen. Die kampftüchtigen Menschen ziehen in den Krieg, und die meisten Zivilisten irren von einer Ecke des Landes in die andere, auf der Suche nach Nahrungs- und Gesundheitsversorgung, die von den wenigen präsenten Hilfsorganisationen geleistet wird. Noch nie war es so schwierig, eine Logistik zur Hilfe für gefährdete Bevölkerungen auf die Beine zu stellen: Die enorme Ausdehnung des Terrains, das Fehlen von Straßen, die panische Flucht der Bewohner entfernen die Opfer immer wieder von der Hilfe. Der Großteil der Hilfe läuft über eine Basis der Vereinten Nationen in Kenia, nahe der Grenze. Dort sind vierzig humanitäre Organisationen versammelt, die im Süd-Sudan nur per Flugzeug eingreifen können.

„Wir müssen unsere Flugpläne allen Kriegsparteien vorlegen. Wenn diese Hürde einmal überwunden ist, gleicht jede Bewegung einer regelrechten Expedition, und die Evakuierung eines einzigen Verwundeten kostet im Durchschnitt 1.000 Dollar.“ Für die Verantwortlichen des Internationalen Komitees vom Roten Kreuz (IKRK) ist humanitäre Hilfe im Süd-Sudan nur um den Preis enormer Frustration zu verwirklichen: Nur einem winzigen Bruchteil der Opfer kann geholfen werden. Das Kriegshospital von Lopiding in Kenia hat etwa vierhundert Verwundete aufgenommen, die jüngsten davon zehn Jahre alt. „Aber wie viele der Evakuierten sterben allein auf dem Weg! Wir übernehmen diejenigen, die auf dem Rücken eines anderen transportiert worden sind oder die die Kraft hatten, bis zu der improvisierten Piste zu laufen, die wir durch den Busch geschlagen haben... Im Krankenhaus kommen lediglich die Leichtverletzten an. Die müssen wir aber meistens amputieren, wegen der Infektionen, die sie sich unterwegs zugezogen haben. Das ist um so trauriger, als man ihr Bein oder ihren Arm am Anfang hätte retten können. Es handelt sich meistens um Schußverletzungen, da Anti-Personen-Minen in diesem Konflikt sehr wenig verwendet werden.“

Die Gewißheit, nur wenige Opfer versorgen zu können, wird zum eigentlichen Gewissensnot, wenn auch unter den „Privilegierten“ noch ausgewählt werden muß. An den Rändern der Buschpisten hoffen Gruppen von Kranken, Hungernden, Hyänen- und Schlangenopfern umsonst auf ihre Evakuierung. Nur ein extrem besorgniserregender Zustand erlaubt Organisationen wie dem IKRK, die Regel zu verletzen, nach der nur Kriegsversehrte mitgenommen werden sollen. Das Schicksal der Hungernden und Kranken ist von vornherein besiegelt: Tod binnen kürzester Zeit. Da die Staatsmacht in Khartum außerdem die Vergabe von Hilfsgütern in Zonen blockiert, die sie nicht kontrolliert, ist die großangelegte „Operation Lifeline Sudan“, die die Vereinten Nationen 1989 starteten, zum Teil gescheitert.

In Kongor, in der Dinka-Zone, wo 1983 der Aufstand gegen die Zentralmacht begann, ernähren sich die Bewohner von Wildkastanien. „Seit langem wird nichts mehr angebaut. Viele Einwohner sind geflohen. Die Kindersterblichkeit übersteigt fünfzig Prozent...“ Der Redner zeigt mit dem Finger auf die Zerstörungen, die die Luftangriffe der Regierung verursacht haben. Um ihn herum bildet sich eine stille Gruppe abgestumpfter Kranker. Ihre Bäuche sind aufgebläht, die Augen matt, die Beine übersät mit Ödemen. Hier haben die Bewohner mehr als anderswo unter den Angriffen der Armee und Bruderkämpfen zwischen Rebellen gelitten, die nach dem Sturz des äthiopischen Präsidenten Haile Mariam Mengistu im Mai 1991 losgingen.

Im Abseits der Staatengemeinschaft

DER Regimewechsel in Addis Abeba nahm den sudanesischen Rebellen ihre wichtigste Rückzugsbasis und ließ tiefsitzende ethnische Rivalitäten wieder aufbrechen: Die bis dahin geeinte SPLA zerbrach in Stücke. Und die Zivilisten gerieten in die Zange zwischen dem Führungsclan des historischen Rebellenführers John Garang, der mehrheitlich aus Dinka besteht, und den hauptsächlich aus Nuer bestehenden Separatisten unter Riek Mashar in der „Südsudanesischen Unabhängigkeitsarmee“ (SSIA). In Kongor hat man alles gesehen, alles erlitten: „Im September 1991 griffen die Nuer an. Sie töteten, plünderten, legten Feuer... Ein Jahr später waren die Regierungstruppen an der Reihe. Sie kidnappten hundertfünfzig Jugendliche, die man nie mehr gesehen hat... Khartum will Soldaten.“ Auch wenn Khartum der ewige Feind in dieser Stadt bleibt, die vor zwei Jahren wieder unter Kontrolle der SPLA fiel, ist das Ressentiment gegen den „Bruderfeind“ ebenfalls sehr heftig. Und trotz des Waffenstillstandsabkommens, das John Garang und Riek Machar am 12. Februar schlossen, nennen Nuer-Verantwortliche in der Rivalenfraktion ihrerseits John Garang einen „megalomanen Potentaten“.

Die Rebellion hat für diese interne Krise sehr teuer bezahlt. In den letzten drei Jahren hat die Regierung die meisten Städte des Südens zurückerobert und in Garnisonsstädte verwandelt. Von Juba, der Hauptstadt der Region, bis Kajo Keji über Bor, Wau, Malakal, Torit und Kapoeta gewinnen die Truppen Khartums an Boden gegen die Rebellen, die noch bis vor kurzem den Großteil des Territoriums beherrschten. Um Juba, der symbolischen Festung der Regierung, ist alles in einem Umkreis von 100 Kilometern vermint. Von da heben die Kampfflugzeuge ab. Die Sicherheitsdienste sind allgegenwärtig. Die Ausgangssperre wird von den hundertfünfzigtausend Einwohnern genauestens beachtet. Eine bleierne Schwere lähmt diese Stadt, die einst für ihr leichtes Leben bekannt war. Mit gesenkter Stimme wird erzählt, daß immer mehr Leute verschwinden oder in Haft geraten. Seit 1992, als die SPLA die Stadt zwei Tage lang besetzen konnte, hat sich die Repression verschärft. Die eingeigelte Hauptstadt überlebt nur im Rhythmus der Versorgungsflüge aus dem 1.600 Kilometer entfernten Khartum.

„Wir sind die Leuchtturmwächter in der Mitte des Nichts. Wir haben praktisch keinen Kontakt zur lokalen Bevölkerung. Es ist uns sogar verboten, zu Fuß durch die Stadt zu gehen.“ Müde beschreibt einer der wenigen Ausländer in Juba das Ausmaß der humanitären Aufgaben. Das zivile Hospital ist voller Vertriebener, die in der Stadt gestrandet sind. Das kleine Ärzteteam muß mit allen Symptomen von Hunger und Elend umgehen. So wurden mehrere tausend Tuberkulosekranke registriert, und ihre Zahl wächst unablässig. Das Personal, mit Lebensmittelrationen entlohnt, hat das Gefühl einer sinnlosen und endlosen Arbeit. Die Menge der Vertriebenen wächst in dem Maße, wie das Umland sich entvölkert. Und das ist der Schwachpunkt einer Armee, die sich in der Immensität eines praktisch verödeten Gebiets niedergelassen hat. Klassische Militärstrategie ist diesem Terrain nicht angemessen. Jeden Tag fliegen die wenigen in Juba stationierten Flugzeuge zu oft blinden Bombardierungen aus.

Dieser Krieg nimmt zuweilen Wildwestzüge an: Ein Teil des Nachschubs und des Kriegsmaterials für die im Süden kasernierte Armee wird auf hundert Eisenbahnwagen transportiert, gezogen von drei Lokomotiven auf einer Bahnlinie von über tausend Kilometern Länge. Die Hin- und Rückfahrt von Khartum nach Wau dauert drei Monate. Razzien durch die Milizen, die in Kolonnen auf beiden Seiten der Gleise marschieren, begleiten die Expedition. Die in den Zügen transportierten Pferde dienen ihnen zum Vorstoß gegen die Dorfbewohner, erste Opfer eines sich verhärtenden Konflikts.

Auf beiden Ufern des Aswa-Flusses, nicht weit von der Grenze zu Uganda, treten die Soldaten Khartums und die Rebellen seit Monaten auf der Stelle. Diese Lage hat in den kleinen Clanchefs, die sich allerlei Schmuggeleien widmen, Kriegsherren-Allüren geweckt. Khartum profitiert davon und spielt die Karte der tribalen Spaltung voll aus, indem es den Shilluk, den Murl oder den Toposa hilft.

Alle sind mehr oder weniger besorgt über die Dominanz der Dinka, der Ethnie von John Garang. Manche Kommandanten wie William Nuyon, Kerubino, Martin Keni und noch zehn andere stolpern von einem Bündnis ins nächste und verstärken damit den Prozeß der „Liberianisierung“.

In Kenia, im Flüchtlingslager von Kakuma, leben Dinka und Nuer in getrennten Camps. Andeutungen, Redepausen, Blicke zeugen von einem gegenseitigen Mißtrauen, das durch das jüngste Waffenstillstandsabkommen zwischen SPLA und SSIA nicht ausgeräumt wurde, auch wenn beide Fraktionen jetzt ein wenig zu laut betonen, das Regime in Khartum wäre ihr einziger Feind. John Garang versucht, aus der neuen Lage Kapital zu schlagen, indem er erklärt, „den Bürgerkrieg in den Nord-Sudan tragen“ zu wollen. Vor Ort allerdings werden solche Angebereien durch die Schwäche der einer im wesentlichen auf Guerilla-Aktionen beschränkten Rebellion relativiert. Und die Konzeption eines geeinten laizistischen Staates, die John Garang mehr denn je vertritt, überzeugt die Bewegung von Riek Mashar nicht, die ebenfalls für die Unabhängigkeit des Südens kämpft.

„Die Lage ist auf allen Seiten und Ebenen völlig festgefahren“, erklärt ein hoher UN-Beamter. „Für Khartum ist Zeit unwichtig, das einzige, was zählt, ist die islamische Renaissance, von Afrika bis Südostasien“. Die „Friedensdörfer“, wo Tausende aus dem Süden verschleppter Kinder zusammengeführt sind, zeugen davon. Im Intensivgang bringt man ihnen den Koran bei. Das Regime, in der Person des Präsidenten, beharrt darauf: „Manche mögen zittern, wenn sich die Kräfte der Arroganz mit ihnen anlegen, aber wir im Sudan jauchzen über ihren Zorn, denn er zeigt nur, daß wir auf dem rechten Wege sind.“

Aber jenseits der Reden gibt es noch die Sprache der Tatsachen: Die Auslandsschuld beträgt über 16 Milliarden Dollar und das jährliche Bruttosozialprodukt pro Kopf unter 200 Dollar. Der Sudan ist eines der ärmsten Länder der Welt, trotz beträchtlicher, aber nicht ausgebeuteter Ölreserven, die auf über 20 Milliarden Barrel geschätzt werden. Das Land steht im Abseits der Staatengemeinschaft. Die USA haben die Führung eines Kreuzzugs gegen die „neue Drehscheibe des islamistischen Terrorismus“ übernommen. Mit ihren Verbündeten in Afrika und dem Nahen Osten sind sie von der „Schädlichkeit des sudanesischen Regimes für die israelisch-arabische Szene“ überzeugt. Verantwortliche der palästinensischen Hamas-Bewegung und der Abu-Nidal- Gruppe sollen immer noch in Khartum ein und aus gehen.

Die regionale Isolation Khartums ist beinahe komplett. Abgesehen von ihrem Grenzstreit um Halaib beschuldigen sich Sudan und Ägypten gegenseitig der Unterstützung ihrer jeweiligen Opposition. Mit Uganda herrscht eine offene Krise: Die sudanesische Luftwaffe soll kürzlich den Norden dieses Landes, neues Rückzugsgebiet der sudanesischen Rebellen, bombardiert haben. Eritrea brach im vergangenen Dezember seine diplomatischen Beziehungen zum Sudan ab und schloß mit Äthiopien einen Sicherheitspakt. Der ugandische Präsident kann mit seinen äthiopischen und eritreischen Kollegen – alle christlicher Herkunft – auf amerikanische Unterstützung zählen, um der „islamischen Subversion“ in Afrika zu begegnen.

Angesichts dieses Schulterschlusses und der katastrophalen Wirtschaftslage hat das Regime eine doppelte Offensive gestartet: einerseits in Richtung objektiver Verbündeter wie Libyen und Iran, andererseits in Richtung westlicher Länder, darunter Frankreich, das bis Juli 1995 den EU-Vorsitz einnimmt. Khartum hat begriffen, was für einen Nutzen es aus der französisch-amerikanischen Rivalität in der Region ziehen kann. Die „Auslieferung“ des Terroristen Carlos war ein Schritt, daneben beherbergt das sudanesische Regime regelmäßig französische Unternehmerdelegationen und schickt selber Emissäre nach Paris. Hassan al-Turabi, graue Eminenz der Machthaber, gilt als frankophil. Er ist davon überzeugt, daß sein Land Kanäle zum Westen offenhalten muß, um sein Wirtschaftselend zu überwinden.

Derweil wird die Mehrheit der Sudanesen mit der Krise nur schwer fertig, und mehr und mehr Jugendliche versuchen, dem Militärdienst und der Rekrutierung in die Miliz zu entgehen. Doch die Opposition bleibt gespalten3, und die Armee, beunruhigt über den Aufstieg der Volksmilizen, ist von einigen ihrer Offiziere gesäubert worden. Aber das Ausmaß ihrer Unterstützung für ein Regime, das die Rebellion ein für allemal niederschlagen will, wird sich am Krieg ablesen lassen.

Le Monde diplomatique vom 16.06.1995, von Carmen Bader und S. Coma