16.06.1995

Wer besitzt das Land?

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Wer besitzt das Land?

IM ZUGE der wirtschaftlichen Liberalisierung hatte der indonesische Präsident Suharto auch eine politische „Öffnung“ angekündigt. Doch Unterdrückung der Meinungsfreiheit und Selbstzensur der Medien funktionieren in dem durch unterschwellige Machtkämpfe gelähmten Land wie gewohnt. Suharto sucht zur Zeit seine Hausmacht zu erweitern und die wirtschaftlichen Interessen seiner Familie zu sichern, indem er sich auf einen wachsenden sektiererischen Islam abstützt.

Von Francoise Cayrac-Blanchard *

„Sind wir jetzt wieder dort angekommen, wo wir angefangen haben?“ Das fragt sich Arief Budiman, der 1965 als Student den Sturz des Sukarno-Regimes durch die Armee unterstützt hatte, in der Hoffnung, das neue Regime werde die Meinungsfreiheit wiedereinführen, die im Namen der „Revolution“ unterdrückt worden war. Heute, dreißig Jahre danach, hat er soeben seinen Lehrstuhl für Soziologie an der protestantischen Universität von Satya Wacana in Zentral- Java verloren – wegen angeblich zu kritischer Äußerungen über die derzeitigen Machthaber. Er beklagt, noch immer werde die Meinungsfreiheit in Indonesien unterdrückt, dieses Mal im Namen von Sicherheit und Stabilität.

Seit fast dreißig Jahren liegt die Macht in den Händen von Präsident Suharto, der 1998, am Ende seiner sechsten Amtszeit, 77 Jahre alt sein wird. Der einstige „lächelnde General“, der im Jahr 1965 etwa 500.000 Kommunisten umbringen ließ, hat sich zu einem gutmütig erscheinenden Patriarchen gewandelt, der nicht ohne Erfolg die wirtschaftliche Entwicklung im Land ankurbelte: Mit 6 bis 7 Prozent Wachstum jährlich folgt Indonesien dem Vorbild der asiatischen „Tiger“ und empfängt regelmäßig die Glückwünsche der Weltbank. Doch die die Schattenseiten sind unübersehbar.

Seit Ende der achtziger Jahre beruhte die Steigerung der Exportmengen an Fertigprodukten, ermöglicht durch den Zustrom ausländischer Investitionen, zumeist auf der großen Zahl1 billiger Arbeitskräfte: Der tägliche Mindestlohn von 5 Dollar wird nur selten gezahlt. Mit der zunehmenden sozialen Ungleichheit zwischen den Ausgebeuteten und denen, die sich wahre Finanzimperien errichten – darunter vor allem die Kinder Präsident Suhartos –, wächst auch die Zahl der Streiks, die immer sogleich unterdrückt werden. Auch die Bauern versuchen vergeblich, sich dem Druck zu widersetzen, ihr Land gegen geringe Summen verkaufen zu müssen, sei es nun für ein Entwicklungsprojekt vorgesehen – oder aber für einen Golfplatz.

Im Zuge der ökonomischen Liberalisierung und als Antwort auf das Drängen der neuen Mittelschicht nach mehr Demokratie hatte Präsident Suharto zu Beginn dieses Jahrzehnts eine politische „Öffnung“ angekündigt. Es sollte „keine Zensur mehr“ geben, hatte er versichert. Zwar stellte niemand das Wahlsystem in Frage, das der Regierungspartei, Golkar, alle fünf Jahre einen sicheren Sieg garantierte. Doch mehrere Zeitungen verstanden es, die neue Entwicklung zu nutzen, und berichteten über soziale Auseinandersetzungen.

Der Fall Marsinah etwa hielt die Presse lange Zeit in Atem. Eine junge Arbeiterin hatte im Mai 1993 einen Streik organisiert, um eine Lohnerhöhung von einem knappen halben Dollar am Tag zu erreichen. Kurz danach fand man ihre verstümmelte Leiche. Marsinah wurde alsbald zu einem Symbol des Widerstands. Die Unregelmäßigkeiten bei der Untersuchung des Falles sowie bei der Verhaftung und dem Verhör einzelner leitender Angestellter aus ihrer Fabrik wurden in vielen Zeitungen verfolgt und kommentiert: Die schnellen Urteile, die gegen die Betriebsangehörigen gefällt wurden, legten die Vermutung nahe, daß der wirklich Schuldige – möglicherweise ein Angehöriger der Streitkräfte – gedeckt werden sollte.

Ein anderes Beispiel: Im September 1993 tötete die Armee vier Bauern aus Madura, die gegen den Bau eines Staudamms auf ihren Ländereien demonstriert hatten. Der Protest der örtlichen Ulemas gegen diese Morde erregte großes Aufsehen und ermutigte die Angehörigen von Opfern eines anderen Massakers, das schon länger zurücklag, nämlich das an muslimischen Demonstranten im September 1984, endlich Rechenschaft von den Behörden einzuklagen.

Die Tatsache, daß ein Zivilist, der Informationsminister Harmoko, zum Vorsitzenden des Golkar ernannt wurde, hat bei den Militärs heftige Reaktionen hervorgerufen. Am 27. Oktober 1993 zitierte die Wochenzeitung Detik einen General, der äußerte, daß bei einem Abtreten Präsident Suhartos die Armee die Nachfolge regeln werde. Auch über die Machtkämpfe im Vorfeld der Ernennung von Megawati Sukarnoputri, der Tochter des ehemaligen Präsidenten Sukarno, zur Vorsitzenden der Demokratischen Partei Indonesiens (DPI) hat die Presse mehr oder weniger offen berichtet – ein Engagement, das höheren Orts nur widerwillig akzeptiert wurde.

Die Zeitungen haben auch über ein 450-Millionen-Dollar-Darlehen berichtet, das ein indonesisch-chinesischer Geschäftsmann von einer staatlichen Bank, der Bapindo, ergaunert hatte; ein riesiger Skandal, in den hochgestellte Persönlichkeiten verwickelt waren. In diesem Zusammenhang äußerte sich der Finanzminister öffentlich über zweifelhafte Bürgschaften (21 Prozent der von staatlichen Banken überhaupt vergebenen Kredite) an Personen aus dem Umkreis des Präsidenten.2 Zwischen dem Finanzminister und seinem Kabinettskollegen, dem Forschungsminister Jusuf Habibie, einem möglichen Nachfolger des Präsidenten, kam es zum Streit, bei dem es um die überhöhten Reparaturkosten für 39 Kriegsschiffe ging, die letzterer der ehemaligen DDR abgekauft hatte (mehr als eine Milliarde Dollar, eine Summe, die der Finanzminister auf 319 Millionen Dollar reduzierte). Ferner konnte man in der Presse die nicht ungeschickten Bemühungen Jakartas verfolgen, von den Philippinen das Verbot einer internationalen Timor-Konferenz zu erwirken.3

Verhaftung von Studenten und Gewerkschaftern

DAS alles wurde für den Präsidenten immer unerträglicher: Handelte es sich nicht um eine gegen ihn gerichtete Kampagne? Hinzu kam ein Machtkampf zwischen Suharto und der Armee. Ursprünglich sollte die politische Öffnung die Stellung des Staatschefs stärken und zugleich die in ihren Positionen erstarrte Armee aufrütteln. Die Militärs profitierten von der Situation: Gegen das Wochenblatt Tempo beispielsweise wurde der Vorwurf erhoben, im Fall der von Habibie gekauften Schiffe das Spiel des Militärs gespielt zu haben.

Die Repressionsmaßnahmen ließen nicht lange auf sich warten: demonstrierende Studenten wurden verhaftet (wobei darauf geachtet wurde, sie nicht zu Märtyrern zu machen), die unabhängige Gewerkschaft Prosperität wurde nach einem heftigen Streik in Medan auf Sumatra verhaftet, ihr Vorsitzender wurde zu vier Jahren Gefängnis verurteilt. Noch brutaler und vor allem noch unerwarteter – angesichts des bevorstehenden Gipfeltreffens der Länder der asiatisch-pazifischen Wirtschaftszusammenarbeit (APEC) in Djakarta im November – war im Juni 1994 das Verbot der drei wichtigsten Wochenblätter Indonesiens: Tempo (das seit 23 Jahren erschien und eine Auflage von 200.000 Exemplaren hatte), Editor (Auflage 90.000) und Detik (Auflage über 450.000), das seit einem Jahr alle Popularitätsrekorde schlug wegen der mit großer Hartnäckigkeit geführten politischen Interviews. Die Demonstrationen für die Pressefreiheit, die daraufhin stattfanden, wurden als illegal erklärt und aufgelöst, viele Zeitungen erhielten den Rat, sich „verantwortungsbewußt“ zu zeigen. Die Selbstzensur wurde wieder zum Normalfall.

„Wenn bereits eine dermaßen zurückhaltende Presse verboten wird, was wird dann noch bleiben?“ fragt sich Gunawan Muhammad, der ehemalige Chefredakteur von Tempo, der ein Rechtsverfahren gegen den Informationsminister anstrengte, um seine Publikationserlaubnis zurückzuerhalten. Das neue Wochenblatt Gatra, das von Bob Hassan, einem Gefolgsmann von Suharto, kontrolliert wird, hat keine Probleme gehabt, eine Lizenz zu erhalten. Den Journalisten von Tempo hingegen, die ihre Wochenzeitung unter dem Namen Opini neu herausbringen wollten, wurde die Lizenz verweigert.

Die Machthaber betreiben auf diese Weise die Wiederherstellung der alten Ordnung, zwar immer legalistisch korrekt und vorsichtig, um international nicht unangenehm aufzufallen, aber doch hart genug, um Angst zu erzeugen und Kritiker einzuschüchtern. Bevorzugte Zielscheiben sind laut Suharto „diejenigen, die wie die Kommunisten die Demokratie zu ihrem eigenen Vorteil ausbeuten“ wollen. Damit meint er zum Beispiel die Pijar-Stiftung, eine Studentenvereinigung, die Protestaktionen koordiniert – mehrere ihrer führenden Leute wurden verhaftet; im weiteren die Unabhängige Journalisten-Vereinigung AJI, die Anfang August 1994 von etwa sechzig Nachrichtenfachleuten gegründet wurde, um das Monopol der offiziellen Journalisten-Vereinigung PWI zu brechen. Mit internationaler Unterstützung hat die AJI ohne Lizenz mittlerweile vierzehn Nummern der Zeitschrift Independen herausgebracht. Daraufhin erfolgten im März 1995 Polizeirazzien und Verhaftungen. Dreizehn Mitglieder der AJI wurden aus der PWI ausgeschlossen, was einem Berufsverbot gleichkommt.

Parallel dazu wurden nach einer schon klassisch gewordenen Methode zwei Abgeordnete „abberufen“, die sich kritisch geäußert hatten (ein Mitglied des Golkar und ein Mitglied der Einheits- und Entwicklungspartei, die die Interessen der Moslems vertreten soll). Innerhalb des Parlaments mangelt es notorisch an Courage. Ein Richter des Verwaltungsgerichts in Djakarta hat hingegen Mut bewiesen, als er Anfang Mai das Verbot von Tempo als gesetzeswidrig erklärte. Der Informationsminister hat hiergegen Berufung eingelegt, aber dieses Mal dürfte ihm die Begründung seiner Maßnahme schon schwerer fallen.

Wenn jetzt die Repressionsschraube angezogen werde, so der ehemalige Chefredakteur von Tempo, so geschehe dies im Hinblick auf die Wahldaten von 1997/98, bei denen es um die Regelung der Nachfolge, der suksesi, geht. Sollte Suharto zu diesem Zeitpunkt noch bei guter Gesundheit sein, werde er gewiß noch einmal der einzige Präsidentschaftskandidat sein, schon allein um die finanziellen Interessen seiner Kinder zu verteidigen. Aber es gibt diverse gefährliche politische Manöver, bei denen der Islam gegen die Armee ausgespielt wird.

Die Armee, die gegen Ende der achtziger Jahre Anzeichen einer Gegnerschaft zu Suharto erkennen ließ, ist nach der 1988 erfolgten Ausschaltung ihres einstigen starken Mannes, des Generals Benny Murdani, wieder nach und nach unter Kontrolle gebracht worden; seit der Umstrukturierung der Geheimdienste im Januar 1994 ist ihre Macht erheblich eingeschränkt. Das übrige besorgten die wohlabgestimmten Neuernennungen durch den Präsidenten. Unter den neuen Führungsoffizieren befinden sich mehrere seiner ehemaligen Adjutanten, wie General Hartono, der im Februar 1995 zum Chef der Landstreitkräfte ernannt wurde. Ebenso wie der Befehlshaber der Luftwaffe, General Tanjung, gilt er als ein Verbündeter von Habibie, einem zivilen Politiker und Günstling von Suharto, der auf die Hochtechnologie und die Aeronautik setzt, um das Land ins 21. Jahrhundert zu führen, dessen Projekte aber sehr kostspielig und wenig ergiebig sind, was ihn zu einem roten Tuch für die meisten Militärs gemacht hat.

Der Habibie-Clan kämpft hartnäckig für eine Schwächung der Armee, die seit Ende der sechziger Jahre ganz offiziell eine „doppelte Funktion“ innehatte, eine zentrale politische ebenso wie eine wirtschaftliche. Suharto hatte beim Nationalen Forschungszentrum eine Studie über das Wahlsystem in Auftrag gegeben und, deren Empfehlung folgend, eine Verringerung der Anzahl Parlamentssitze vorgenommen, die den Streitkräften bei jeder Wahl offiziell zugeteilt werden (von 100 auf 75 bei insgesamt 500 Sitzen). Der Sinn solch plötzlicher demokratischer Skrupel ist offensichtlich. Die Armee ihrerseits hat sich von der Möglichkeit eines Staatsstreiches distanziert und scheint bereit, sich bis zum Zeitpunkt der Nachfolge von Suharto mit einer Einschränkung ihrer Macht abzufinden.

Allerdings spielt der Präsident seit Ende der achtziger Jahre den Islam gegen die Armee aus. Er hat Maßnahmen zu dessen Gunsten ergriffen, hat mit seiner Familie 1991 eine Pilgerfahrt nach Mekka unternommen und hat – dies ist besonders bedeutsam – die Gründung der Vereinigung der islamischen Intellektuellen Indonesiens, die ICMI, zugelassen, die 1995 schon über 25.000 Mitglieder verfügte. Unter Leitung von Habibie verfügt die ICMI über großen Einfluß in der Regierung und auch als gesellschaftliche Interessenvertretung. Der Einfluß der Moslems, die lange Zeit von der Macht ferngehalten worden waren, ist entsprechend gewachsen, und es gibt bereits Anzeichen von gefährlichem Sektierertum, vor allem gegenüber den christlichen Minderheiten, die 1993 aus der Regierung ausgeschlossen wurden und die auch ihren Einfluß innerhalb des Golkar zu verlieren scheinen. Seit den 80er Jahren ist die islamische Erneuerung in Indonesien im Gange, und die vielgerühmte Toleranz ist gefährdet, wie mehrere Zwischenfälle gezeigt haben.

Auf die Gefahr, die dieses Sektierertum vor allem für die Einheit des Landes bedeutet, macht Abdurrahman Wahid aufmerksam, der gegen den Willen der Machthaber als Vorsitzender der wichtigsten moslemischen Vereinigung des Inselstaates wiedergewählt wurde, der Nahdatul Ulama, die sich nicht dem ICMI anschließen will. Die Nahdatul Ulama, die offiziell außerhalb des politischen Lebens steht, wird sich möglicherweise bei den allgemeinen Wahlen von 1997 mit der DPI verbünden. Aber selbst das würde nicht ausreichen, eine Situation zu verändern, deren Spielregeln die Machthaber zu ihren Gunsten festgelegt haben. Die Regelung der Nachfolge von Suharto könnte gleichwohl sehr stürmisch verlaufen. Dies hat zumindest ein Wahrsager aus Java in einer heimlich verbreiteten Videokassette vorhergesagt, woraufhin er sogleich zur Vernehmung vorgeladen wurde.

1 Mit 190 Millionen Einwohnern liegt Indonesien von der Bevölkerungszahl her weltweit an vierter Stelle. Davon leben 60 Prozent auf Java, wo auch die meisten Fabriken für Fertigprodukte zu finden sind.

2 Dazu Éléonore und Gabriel Defert: „190 millions d'Indonésiens en panne de modèle“, in Le Monde diplomatique, September 1994.

3 Über die Situation in Timor unterrichtet Max Stahl: „Timor-Oriental, défaite politique pour Djakarta“, in Le Monde diplomatique, April 1994.

* Centre d'études et de recherches internationales, in der Fondation nationale des sciences politiques, Paris. Verfasserin u.a. von „Indonésie, l'armée et le pouvoir“, Paris 1991 (L'Harmattan)

Le Monde diplomatique vom 16.06.1995, von F. Cayrac-Blanchard