16.06.1995

Einsamkeiten des französischen Kinos

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Einsamkeiten des französischen Kinos

DEM französischen Kino geht es schlecht. Die Besucherzahlen bröckeln, und der Marktanteil französischer Produktionen liegt zum ersten Mal unter 30 Prozent. Immer schlechter kann sich die heimische Produktion gegen die Hollywoodfilme behaupten. Drei unabhängig produzierte Spielfilme – unterstützt von engagierten Produzenten wie Philippe Martin und Maurice Bernart – beweisen jeodch in jüngster Zeit, daß eine neue Generation von Cineasten antritt, die über ungeheures Talent verfügt.

Jeder dieser Filme wirft in seiner Weise einen unbestechlichen Blick auf die soziale Malaise und die Einsamkeit des einzelnen. Zum Beispiel der Film von Marcel Poirier. Vor seinen ersten Kinoversuchen arbeitete dieser vierzigjährige Filmemacher in verschiedenen Berufen: er war Erzieher, Sozialarbeiter im Gefängnis, und Kunsttischler. Als Arbeitsloser hat sich Poirier vor ein paar Jahren entschlossen, Paris, „diese Stadt der physischen, moralischen und sozialen Aggression“, zu verlassen und aufs Land zu ziehen. Hier schöpfte er die Kraft, um seinen ersten abendfüllenden Spielfilm zu schreiben und zu drehen, „La Petite amie d'Antonio“ (Antonios Freundin, 1993). Am großen Publikum ging der Film vorbei, nicht aber an Maurice Bernart, der Poirier anbot, seinen nächsten Film zu produzieren.

Daraus wurde „...à la campagne“ (Auf dem Land), ein Kleinod der Detailgenauigkeit und künstlerischen Freiheit. Sein Drehbuch ist sehr durchkomponiert, dennoch läßt der Film Durchblicke aufs Leben zu. Die Hauptperson Benoit ist so alt wie der Regisseur und hat sich wie er in ein kleines Dorf in der Normandie geflüchtet. Dort arbeitet er als Kunsttischler und besucht die „Hauptstadt der Schmerzen“ nur, um die Früchte seiner Arbeit zu verkaufen. Weiter geht die psychologische Differenzierung dieser Figur nicht. Auch über Lila erfährt man wenig. Sie kommt aus dem Gefängnis und unterbricht Benoits ruhiges Leben. Die drei Pünktchen vor dem Titel haben den Zuschauer schon vorgewarnt – sie deuten das Leben der Protagonisten vor dem Moment an, ab dem sich Poirier für sie interessiert.

Diese beiden Einsamen lieben sich nur für die Dauer einer Fata Morgana, weiter können sie sich dem anderen nicht öffnen. Aber niemals legt Poirier auf dieses Scheitern der Liebe Nachdruck – darin liegt das Wesen von „...à la campagne“: er beharrt auf seiner Freiheit, geht Nebenwege, hält an scheinbar banalen Szenen fest, die ohne offensichtliche Bedeutung für den Gang der Filmerzählung sind.

In der Provinz mag die Einsamkeit grausamer, weil schlechter kaschierbar sein – in der Stadt aber bringt sie beziehungsarme Personen leichter aus dem Gleichgewicht. Die zwanzigjährige Marie und ihre Mutter um die Fünfzig sind die Heldinnen in „Circuit Carole“, von Emmanuelle Cuau, die gleich in ihrem ersten Film ihre Sensibilität unter Beweis stellt.

Jeanne hat ihr Kind alleine großgezogen. Ihr Leben hat sich irgendwo zwischen ihrer Sekretärinnenexistenz und ihrem Selbstbild, das sie nur mehr in ihrer Tochter wiederfindet, verflüchtigt.

Zwischen Jeanne und Marie hat sich eine Art Komplizenschaft entwickelt, sie leben eine Existenz der Schwerelosigkeit in einer Welt ohne Männer. Während Marie lieber einer Opernarie nachträumt und sich kleine Aufregungen verschafft, wenn sie modisches Glitzerzeug in Kaufhäusern stiehlt, setzt Jeanne Stein und Bein in Bewegung, um ihrer Tochter einen Job zu verschaffen. Und dann passiert, was so häufig in solchen Situationen passiert: Marie, die Bemutterte, von der Außenwelt Abgeschirmte, ergreift die erste Gelegenheit, sich selbständig zu machen. In einer seelenlosen Vorstadt im Norden von Paris entdeckt Marie ein anderes Universum, die Welt von Alex am „Circuit Carole“, dem Treffpunkt der Biker aus der Île de France. Immer weiter entfernt sich Marie von ihrer Mutter, die sich seitdem nur noch in Schreckensbildern von der verunglückten Tochter verzehrt und ihrem eigenen Körper die Wunden des eingebildeten Unfalls beibringt, womit sie sich endgültig von der Außenwelt abschneidet.

Mit leichten, unglaublich feinfühligen Strichen skizziert „Circuit Carole“ den Weg zum Drama. „Ich beharre auf mein Recht zur Langsamkeit, um wirklich von der Welt erzählen zu können, die mich umgibt“, bekennt die junge Regisseurin. „Oft bestehen die Filme, die bei Kritik und Publikum Begeisterung auslösen, nur aus effektvollen Inszenierungen und schnellen Schnitten – aber sie sind in keiner Wirklichkeit verwurzelt.“

Geschwindigkeit, vor allem die der Arbeitswelt, ist das zentrale Thema von „Fast“. Der erste Film von Dante Desarthe erzählt die Geschichte des etwas schwerfälligen und tölpelhaften Jean-Louis. Er geht nach Paris, beseelt von dem verrückten Wunsch, eine junge blonde Frau wiederzufinden – die einzige Frau, die sich, in einem Augenblick der Verwirrung, um ihn „gekümmert“ hat. Frisch angekommen, wird er bei Fast-Burger angestellt, einem Schnellrestaurant, das sich dem französischen Geschmack angepaßt hat. Der Chef lächelt wie ein Hamburger und läßt dieses Lächeln als Endlosschleife über die Bildschirme flimmern. Die „Firmenphilosophie“ prangt auf allen Werbeflächen und schallt in rituellen Formeln aus allen Mündern. Sehr schnell läßt sich Jean-Louis von dieser Welt prägen. In diesem Film begegnet man schwarzen Schauspielern und Beurs, den Einwandererkindern aus Nordafrika – das typische Personal eines Fast-food-Restaurants –, und man trifft eine ganze Ansammlung diverser Randexistenzen, mittellose Kreaturen, wie sie sich an solchen Orten aufhalten. „Immer mehr QHS!“ Diese Abkürzung, unablässig vom Manager der Filiale wiederholt, steht für die Isolation der Angestellten: Qualität, Hygiene, Service. Das magische Dreigespann aus Worten ist Synonym für beruflichen Erfolg. Die Werbung formuliert unsere Sehnsüchte.

Mit großem Vergnügen beschreibt Dante Desarthe diese Firma, deren Slogans für die Mitarbeiter den Rang des Evangeliums haben: „Um untadelig zu sein, muß man der Norm entsprechen.“ Aber das Vergnügen des Filmemachers hat mehrere Dimensionen, er bietet den Zuschauern unterschiedliche Deutungsebenen an. „Ich wollte einen Film machen, der zugleich das große Publikum anspricht und persönlich ist“, bestätigt Dante Desarthe. Wenn Jean-Louis Assistent des Geschäftsführers wird – burleske Szenen –, fällt einem nur noch „Monsieur Hulot muß ins Büro“ ein. Und dann knallen bei einem der Außenseiter die Sicherungen durch. Er verwüstet das Restaurant. Auch Jean-Louis wird „ausflippen“ – der einzige Weg, da rauszukommen –, die latente Gewalt bricht aus und taucht „Fast“ in einen tiefschwarzen Realismus.

Diese drei erstaunlichen Filme sind von der Einsamkeit gezeichnet, in der sie entstanden. Aber sie zeugen von der Widerstandskraft des unabhängigen Films in Frankreich und von der Vitalität einiger isoliert arbeitender Filmemacher.

CARLOS PARDO

Journalist und Filmemacher

Le Monde diplomatique vom 16.06.1995, von Carlos Pardo