16.06.1995

Von Singapur lernen

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Von Singapur lernen

MALAYSIAS Ministerpräsident Mohamad Mahathir, der sich gerne hinter „asiatischen Werten“ versteckt, wenn er Kritik aus dem Westen zurückweist, hat sein Land zu einem richtigen Mitglied der asiatischen „Tiger“-Familie gemacht. Jetzt will das gelobte Land der Elektronikkonzerne sich nicht mehr mit der Rolle des Zulieferers zufriedengeben. Malaysias eigene multinationale Konzerne, von zentraler staatlicher Planung unterstützt, setzen zum Sprung in die Nachbarländer an.

Von FRÉDÉRIC F. CLAIRMONT *

Einst war Malaysia ein Juwel der britischen Krone, denn natürliche Reichtümer gab es dort im Überfluß: Minerale, Erdöl, Fisch, Plantagen, Edelhölzer. Sie wurden von den Kolonisatoren gemeinsam mit den vor Ort herrschenden Sultanen geplündert.1 Die Malaysische Föderation, seit 1957 unabhängig, hat 19 Millionen Einwohner, die sich auf verschiedene ethnische Gruppen verteilen: Nach der offiziellen Bevölkerungsstatistik von 1985 sind 56,5 Prozent der Bewohner der Halbinsel Bumipatras (oder Bumis, das heißt „Söhne der Erde“), im wesentlichen Malaien; 32,8 Prozent sind Chinesen, und 10,1 Prozent stammen vom indischen Subkontinent, sind aber zum Teil schon seit vier Generationen in Malaysia ansässig2. Vom Ende des 19. bis in die dreißiger Jahre dieses Jahrhunderts hatten die Briten die Einwanderung von Angehörigen der beiden Gruppen toleriert, ja sogar unterstützt: Die einen brauchte man in den Zinnminen und im Kleinhandel, die anderen ließ man auf den Plantagen arbeiten. Probleme mit der Zuwanderung gab es kaum, immer noch ist die Bevölkerungsdichte nur halb so groß wie in Thailand.

Malaysia, dessen jährliches Wachstum zwischen 1980 und 1994 durchschnittlich 7,4 Prozent betrug (zwischen 1970 und 1980 sogar 8 Prozent), liegt im Epizentrum3 tiefgreifender wirtschaftlicher und sozialer Umwälzungen, die ganz Asien erfaßt haben. Für das Jahr 2020 sieht die „große Vision“ der malaysischen Führung ein vollindustrialisiertes kapitalistisches Wirtschaftssystem vor. Dieser ehrgeizige Plan ist eng mit dem Aufschwung des asiatischen Kapitalismus insgesamt verknüpft.

In Europa ist das System der zentralen Planung seit dem Untergang der Sowjetunion tot, in Malaysia lebt es – wie auch in Singapur – fort. Das, so erklärte kürzlich ein malaysischer Hochschullehrer einer russischen Delegation, die Kuala Lumpur besuchte, habe den wirtschaftlichen Erfolg des Landes möglich gemacht: „Hier geschieht nicht etwa ein Wunder. Sie in Rußland sind einfach nicht mehr in der Lage, kurz-, mittel- oder langfristige Ziele festzulegen. Sie haben faktisch darauf verzichtet, die politische Zentralisierung zur Grundlage des Wachstums zu machen. Ja, Sie wollen gar nichts mehr unternehmen. Ihre Währung verliert ständig an Wert, sie existiert eigentlich schon nicht mehr. Ihr Transportsystem steht vor dem Zusammenbruch. Und die gesellschaftliche Ethik ist bei Ihnen völlig heruntergekommen. All das sind Gründe dafür, daß unser Lebensstandard weit über dem Ihres Landes liegt und daß der Abstand zwischen uns größer wird.“

Für die politisch Verantwortlichen in Malaysia gibt es in der Tat keinen Widerspruch zwischen zentraler Planung und der Dynamik der Märkte: Wenn man den Markt den anarchischen Kräften des Geldes und des Profits überließe, dann würde er sich selbst zerstören. Die zentrale Planung dient dazu, Initiativen in die richtigen Bahnen zu leiten und langfristig orientierte rationale Entscheidungen zu begünstigen. So wird das verarbeitende Gewerbe, das eine solide Basis für die gesamte Wirtschaft darstellt, sowohl von der Privatwirtschaft des Landes wie auch vom Staat und den multinationalen Unternehmen finanziell gefördert. Der aktuelle Entwicklungsplan, der dieses Jahr endet, gehört zu einer Planung, die bis ins Jahr 2020 reicht.

In den letzten zehn Jahren wächst die Industrieproduktion jährlich um 10 Prozent, allerdings wurden die Früchte hiervon nicht gerecht verteilt: Malaysia bleibt ein kapitalistisches Land mit starker gesellschaftlicher Polarisierung. Doch wenigstens wird dies von der Regierung nicht verheimlicht, und man muß der politischen Elite, angeführt von der Partei „United Malay National Organization“ (UMNO), zugestehen, daß sie mit Hilfe malaysischer und ausländischer Investoren immerhin Vollbeschäftigung erreicht hat. Der Konsum nimmt zu, ebenso zeigen alle sozialen Indikatoren deutlich nach oben, was im übrigen keineswegs zu Lasten der Landwirtschaft geht, auch wenn das Ungleichgewicht zwischen Stadt und Land fortbesteht.

Von noch größerer Bedeutung ist die bewußt angestrebte Umverteilung des Volksvermögens zwischen den ethnischen Gruppen, mit der nach den blutigen antichinesischen Unruhen, die sich 1969 in Kuala Lumpur ereigneten, begonnen wurde. Grundlage dafür ist eine Politik der positiven Diskriminierung zugunsten der Malaien. Als Malaysia unabhängig wurde, war das Land wegen der Ungleichheit zwischen den ethnischen Gruppen in einer explosiven Situation: Das chinesische und in einem geringeren Maße das indische Kapital beherrschten das Land. Dies hat sich inzwischen völlig verändert.

Zwar gehorchten die forcierte Industrialisierung und die Zunahme der Exporte seit Beginn der achtziger Jahre auch einer innermalaysischen Logik. Dennoch gab es gewisse Parallelen zu dem, was bei den anderen asiatischen „Tigern“ geschah. Offiziell gibt man in Kuala Lumpur nicht zu, daß man sich damals an einem Modell orientiert hatte. Im benachbarten Singapur gab es jedoch schon damals Stockschläge für „white collar“-Straftäter, lautstarke Kampagnen, mit denen zur Sauberkeit auf öffentlichen Toiletten aufgerufen wurde, und vor allem die entschiedene Ablehnung jeder Laisser-faire-Politik.5 Nicht der Westen ist für Malaysia der Maßstab, die Parole lautet: „Nach Singapur schauen, von Singapur lernen.“ In der Wirtschaft hat man vor allem die Lektion über die entscheidende Rolle der zentralen Planung und über die Entwicklung eines staatlichen Sektors gelernt. Er soll sich in mehrere strategisch wichtige Bereiche ausdifferenzieren, denen man jeweils eine längere Anlaufphase zugesteht, bevor sie sich rentieren müssen.

Malaysias Industrie produziert heute bereits ein Drittel des Bruttoinlandprodukts und beschäftigt ein Viertel der Arbeitskräfte, vor zehn Jahren waren es nur 15 Prozent. Ihr Anteil an den Exporteinnahmen beträgt 70 Prozent und soll bis 1998 auf 76 Prozent steigen. Trotzdem bleibt Malaysia bedeutender Rohstofflieferant, vor allem mit Kautschuk, Holz, Zinn und Palmöl, wo das Land weltweit die Nummer eins ist. Das Symbol für den Aufschwung im industriellen Bereich aber ist das Automodell Proton. Hergestellt wird es von dem gleichnamigen Unternehmen, an dem der japanische Mitsubishi-Konzern eine Beteiligung von 17 Prozent hält, der Rest gehört dem Staat Malaysia. Die Finanzierung liegt in den Händen von malaysischen Investoren und Privatbanken. 70 Prozent der Einzelteile werden heute schon in Malaysia hergestellt, bis 1998 sollen es 78 Prozent werden. In den letzten Jahren wurden jeweils etwa 120.000 Fahrzeuge produziert, für 1995 sind 150.000 geplant. Nicht ohne Grund fürchtet Japan, Märkte zu verlieren. Eine Folge davon ist die Zurückhaltung Mitsubishis beim Technologietransfer. Aber das hat auch seine Kehrseite: Wenn Mitsubishi nicht zuläßt, daß Proton Motoren und Getriebe im Land entwickelt und baut, dann könnte sich das Unternehmen anderen Partnern aus Japan oder Europa zuwenden, Citroän steht schon vor der Tür. Die Malaysier werden nicht zögern, die Konkurrenz zwischen den Großen des Weltkapitalismus für sich auszunutzen.

Auf dem nicht sehr großen und zudem noch abgeschotteten Inlandsmarkt war der Proton ein wirklicher Erfolg. Wie in Südkorea ist der Sättigungspunkt jedoch schnell erreicht, und das Nachfolgemodell namens Wira wird den Verkauf vermutlich nicht spürbar ankurbeln können. Die Expansion des Unternehmens hängt also von einem Durchbruch auf ausländischen Märkten ab. Dabei wird deutlich werden, wie verwundbar eine solche Exportstrategie sein kann. Zusammen mit Japan und der Europäischen Union wäre Washington in der Lage, den malaysischen Expansionsdrang zu bremsen, wenn man eines Tages dafür die Notwendigkeit verspüren sollte. Schon jetzt nehmen die Vereinigten Staaten ein Fünftel der gesamten malaysischen Exporte ab (bei den industriellen Erzeugnissen ist der Anteil noch höher).

Ein frappierendes Bild von der aufstrebenden Wirtschaftsmacht Malaysias kann man in dem Bundesstaat Penang, einer Insel vor der Nordostküste der Halbinsel, gewinnen, wenn man vom internationalen Flugplatz zur Hauptstadt George Town fährt. Entlang der Straße erstreckt sich ein riesiges Industriegebiet, in dem 220.000 Arbeiter beschäftigt sind. Es trägt den Namen Silicon Island und erinnert damit an den Erfolg des kalifornischen Silicon Valley. Silicon Island hat Malaysia zum weltgrößten Exporteur von Halbleitern gemacht. Hier dominieren die Elektronikgiganten der Welt: Texas Instruments, Dell, Hitachi, Intel, Motorola, Thomson, Hewlett- Packard, Seagate, Taiwan's Acer Inc.

Silicon Island ist kein isoliertes Gebilde, sondern hat seinen festen Platz in einem riesigen multinationalen Produktionszusammenhang. Das amerikanische Unternehmen Seagate Technology Inc., einer der größten Hersteller von Festplatten, verfügt zum Beispiel über siebzehn Firmen, die über den ganzen Globus verstreut sind. In Irland und den Vereinigten Staaten stellt das Unternehmen Bauteile für Festplatten her, die per Flugzeug nach Penang geliefert werden, wo sie zusammengebaut und dann nach Thailand geschickt werden. Dort werden sie bearbeitet und dann zur Schlußmontage der Computer nach Singapur transportiert. Durch Steuervergünstigungen, niedrige Arbeitslöhne und den Import ausländischer Arbeitskräfte, darunter zahlreiche Illegale6, hat Malaysia die Elektronikriesen ins Land locken können, und es will diesen Konkurrenzvorteil auch behalten. Um so mehr, als das Land – ebenso wie die anderen asiatischen „Tiger“ – für die multinationalen Konzerne, auch die der Elektronik, noch über einen anderen Vorteil verfügt: ein enormes Reservoir an staatlichen und privaten Spargeldern. Betrachtet man das gesamte in Malaysia angehäufte Kapital, dann zeigt sich zwar ein hoher Anteil an ausländischen Geldern, doch das Bild trügt: das meiste davon ist kurzfristig angelegtes Geld auf der Suche nach einer möglichst hohen Rendite. Bei den von der Regierung gebilligten Industrieinvestitionen (21 Milliarden Dollar 1994 gegenüber 8,6 Milliarden 1993) dagegen stammten nur noch 40 Prozent aus dem Ausland, im wesentlichen flossen sie in Joint-ventures.

Die Daim-Boys in der Offensive

DIE neue malaysische Wirtschaftsordnung stützt sich also auf malaysisches und ausländisches Kapital. Letzteres kommt von den multinationalen Unternehmen und von der chinesischen Diaspora7. Das malaysische Kapital wiederum stammt aus staatlichen und privaten Quellen. Die Konkurrenzsituation zwischen beiden führt sogar schon offenkundig zu Konflikten. Nach 150 Jahren kolonialer Ausbeutung8 kennt die Führung in Kuala Lumpur die Geldgier der ausländischen Investoren nur zu gut. Wo sie sich mit ihnen verbündet, verfolgt sie ihre eigenen Ziele. Begriffen hat man, daß auch die malaysischen Kapitalisten größer werden müssen, wenn sie auf dem Weltmarkt bestehen wollen. Es wird daher alles unternommen, um eine mächtige einheimische Bourgeoisie zu schaffen und zu fördern, in deren Zentrum sechs multinationale malaysische Konzerne stehen. Diese profitieren in großem Umfang von staatlichen Geldern und sind Teil der politischen Strategie der regierenden UMNO-Koalition. Nach dieser Strategie soll ein großer Teil des malaysischen Finanzkapitals in den Händen der Bumis bleiben.

Der Konzern Sim Darby illustriert die Internationalisierung malaysischer Unternehmen. In der viktorianischen Epoche als britischer Plantagenbesitz gegründet, ist Sim Darby zu einem multinationalen Unternehmen geworden, dessen Kapital vollständig in malaysischen Händen liegt (1979 kaufte der Staat den größten Teil des Unternehmens auf). Heute gehören zu ihm mehr als zweihundert Firmen in einundzwanzig Ländern und fünfzigtausend Beschäftigte. Seine Aktiva sind mehr wert als die Singapore Airlines.

China und Vietnam stehen an der Spitze der Staaten, in die Sim Darby Kapital exportiert. Der Konzern engagiert sich in vielen Bereichen: Plantagen und Petrochemie, Erdölexploration und -raffinierung, bedeutende Industriebranchen und Dienstleistungen wie Banken, Versicherungen, Hotels, Tourismus, Immobilien und Handel. Der Chef des Unternehmens, Nik Mohamed Yaacob, ist ein Bumi, ein Malaie. Ein weiterer Prototyp des aggressiven malaysischen Kapitalisten und ebenfalls ein Bumi ist Tajudin Ramli, Generaldirektor von Technology Resources Industries. Seine Karriere hat er in der Fahrradbranche begonnen, als er die Kapitalmehrheit des britischen Raleigh-Konzerns übernahm.

Sein Firmenkonglomerat ist heute in Transport und Telekommunikation tätig, zwei Drittel des rapide wachsenden lokalen Marktes für Fernmeldetechnik hat es sich schon einverleibt. Bei der Privatisierung von Malaysian Airlines hat Ramli 33 Prozent erworben und will das Unternehmen sogar vollständig aufkaufen. Er gehört zu jenem Kreis der großen malaysischen Bosse, die als „Daim Boys“ bekannt sind. Dieser Name geht zurück auf Daim Zainuddin, den ehemaligen Finanzminister, der heute einer der größten Kapitalisten des Landes ist. Ihre Erfolge verdanken die „Daim Boys“ nicht nur ihrem Geschäftssinn, sondern auch ihren engen Verbindungen zu den politisch Mächtigen des Landes.9

Nichts scheint diesen Prozeß der Kapitalkonzentration aufhalten zu können. Zum Ende des Jahrhunderts werden Malaysias Finanz- und Industriestrukturen frappierende Ähnlichkeit mit den Chaebol, den mächtigen Konzernen Südkoreas, haben. Dennoch ist längst noch nicht ausgemacht, ob die Auswirkungen solch radikaler Veränderungen auch dann noch von denen beherrscht werden, die heute davon träumen.

* Finanzanalytiker

Le Monde diplomatique vom 16.06.1995, von Frederic F. Clairmont