16.06.1995

Die UNO auf dem Prüfstand

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Die UNO auf dem Prüfstand

MITTE Juli wird der Sicherheitsrat der Vereinten Nationen, wie alle vier Monate, die Sanktionen gegen den Irak erneut überprüfen. Alles deutet darauf hin, daß ohne Debatte eine Verlängerung beschlossen wird. Nachdem die ursprünglichen Kriterien für die Sanktionen längst entfallen sind, werden immer neue nachgeschoben. Offenbar sind wir weit entfernt von einer auf die Einhaltung der Rechtsnormen aufgebauten neuen Weltordnung, wie sie vor einigen Jahren propagiert wurde. Nach dem Ende des Kalten Krieges hat der Golfkrieg vor allem im Süden eine Ära von Ungerechtigkeit und Willkür der Mächtigsten eingeleitet.

Von MONIQUE CHEMILLIER-GENDREAU *

Im August 1990 beging die Bagdader Regierung einen offensichtlichen Akt der Aggression, dessen Einstufung nach internationalem Recht keinerlei Zweifel zuließ. Die Invasion und Annexion Kuwaits war in der Tat ein Friedensbruch, der angesichts der Verpflichtungen der Charta der Vereinten Nationen nicht geduldet werden konnte. Doch heute, vier Jahre nach Kriegsende, organisiert man in aller Stille unter dem Deckmäntelchen des internationalen Rechts den Abstieg eines ganzen Volkes in die Hölle. Seit 1990 hat der Sicherheitsrat der Vereinten Nationen etwa dreißig Resolutionen zum Irak verabschiedet. Doch wenn man die drei Hauptschienen dieser Texte herausarbeitet, zeigt sich ihr willkürlicher Charakter.

Es beginnt mit dem 2. August 1990. Die internationale Gemeinschaft kann die Invasion und Annexion Kuwaits nicht geschehen lassen, ohne zu reagieren (es wäre noch besser, wenn sie niemals eine Invasion oder Aggression geschehen ließe, ohne zu reagieren). Auf der Grundlage von Artikel 41 seiner Charta beschließt der Sicherheitsrat mit der Resolution 661 wirtschaftliche Sanktionen: Embargo gegen die aus dem Irak (und dem annektierten Kuwait) ausgeführten Güter und gegen alle Waren, die in diese Territorien eingeführt werden sollen; Einfrieren der irakischen Gelder. Dazu kommt ab der Resolution 670 vom 25. September 1990 eine Blockade für alle Transportmittel. Auch wenn diese Blockade eigentlich wegen Export und Import erlassen wurde und sich nicht auf den Transport von Personen beziehen sollte, wird sie in der Praxis so ausgelegt, daß man sich (auch heute noch) nur über Land von Amman aus nach Bagdad begeben kann, eine fünfzehnstündige Fahrt durch die Wüste.

Das Ziel ist klar ausgesprochen worden: Man will den Irak zwingen, den Paragraphen 2 der Resolution 660 einzuhalten, der den Rückzug aus Kuwait sowie die Wiedereinsetzung einer legitimen Regierung in Kuwait fordert. Dafür wurden sehr schwerwiegende Maßnahmen beschlossen. Das Embargo erstickt die Wirtschaft eines Landes, beraubt ein ganzes Volk eines Teils seiner normalen Tätigkeiten und hat tiefgreifende Auswirkungen auf die Ausübung der individuellen Rechte und Freiheiten.

Eine Blockade, die im Gegensatz zu den allgemeinen internationalen Handelsverpflichtungen (unter anderem des GATT) sowie zu den grundlegenden Normen der Unabhängigkeit und Souveränität jedes Staates steht, kann zu gravierenden Menschenrechtsverletzungen führen, wenn sie die Bevölkerung aushungert, ihr notwendige medizinische Versorgung vorenthält, die Sterblichkeitsrate erhöht, die Unterernährung verstärkt und das Bildungssystem lahmlegt. Sie kann auch die Wirtschaften anderer Länder, die bis dahin in enger Beziehung zum bestraften Land standen, in erhebliche Schwierigkeiten bringen.

Daraus ergibt sich, daß wirtschaftliche Sanktionen mit Vorsicht angewendet werden müssen und in keinem Fall über den zur Beendigung der strafwürdigen Fakten notwendigen Zeitraum hinaus aufrechterhalten werden dürfen. Am 29. November 1990 beschloß der Sicherheitsrat mit der Resolution 678, die Staaten vom 15. Januar 1991 an zu mandatieren, alle notwendigen Mittel inklusive Waffengewalt anzuwenden, um das zu erreichen, was man damals als mit wirtschaftlichen Mitteln undurchführbar ansah. Im April 1991 war der Krieg gegen den Irak beendet, Kuwait befreit und dessenRegierung wieder im Amt. Die Einhaltung der Bestimmungen der Charta hätte zu diesem Zeitpunkt unverzüglich zur Beendigung der wirtschaftlichen Sanktionen führen müssen.

Der Artikel 41 sagt nicht, daß der Sicherheitsrat willkürlich Sanktionen beschließen kann. Er bestimmt, daß „er entscheiden kann, welche Maßnahmen außerhalb der Anwendung von Waffengewalt ergriffen werden müssen, um seinen Beschlüssen zu Wirksamkeit zu verhelfen...“ Wer die Sanktionen aufrechterhält, wenn die Beschlüsse bereits umgesetzt sind, begeht, was die Juristen als Machtmißbrauch bezeichnen. Die zweite wichtige Etappe eines Systems der verlängerten Sanktionen wurde am 3. April 1991 eingeleitet: der Sicherheitsrat verabschiedete unter der Nummer 687 eine neue, ausführliche Resolution, die einen doppelten logischen Fehler beinhaltet und die deshalb von einem kompetenten Richter in jedem Rechtsstaat sofort aufgehoben worden wäre.

Einerseits beglückwünscht sich der Sicherheitsrat „zur Wiederherstellung der Souveränität, der Unabhängigkeit und der territorialen Integrität Kuwaits, sowie zur Rückkehr seiner legitimen Regierung“. Das ist eine Feststellung. Andererseits beschließt er, daß, „wenn er dem Programm zugestimmt haben wird, dessen Umsetzung er in Paragraph 19 fordert (bezüglich des Entschädigungsfonds für die Kriegsschäden), und wenn er festgestellt haben wird, daß der Irak alle in den Paragraphen 8 bis 13 vorgesehenen Maßnahmen ergriffen hat (bezüglich der vollständigen Entwaffnung Iraks auf nuklearem, chemischem, biologischem Gebiet sowie bei den Raketen), die in Resolution 661 (1990) ausgesprochenen Verbote zum Import von Basisprodukten und Waren irakischer Herkunft sowie der dazugehörigen Transaktionen aufgehoben werden können“.

Von Osttimor bis nach Westjordanland

DIE Anwendung des ersten Kriteriums kann den Sicherheitsrat nur zu einer Entscheidung veranlassen: Die Sanktionen müssen aufgehoben werden, denn sein Strafmandat ist nicht unumschränkt, sondern mit einer Zielsetzung verbunden. Doch nichts dergleichen geschieht. Der zweite Teil der Resolution erneuert die Sanktion und gibt hierfür zwei neue Beweggründe an. Der Sicherheitsrat beruft sich auf Kapitel VII, sagt aber nicht, welche neue Bedrohung des Friedens, welchen Friedensbruch oder Aggressionsakt er von irakischer Seite festgestellt hat. Tatsächlich hätte ihn von Rechts wegen nur eine solche Feststellung legitimiert, die Einführung neuer Sanktionen zu veranlassen

In Wirklichkeit handelt es sich um die Substituierung real zu strafender Fakten, die jedoch zu diesem Zeitpunkt nicht mehr bestanden, durch andere Fakten, die eventuell eintreten könnten, oder solche, die nicht erwiesen sind: daß der Irak die ihm auferlegten Kriegsentschädigungen nicht bezahlen werde1 und daß dieser Staat durch den Grad seiner Bewaffnung eine Bedrohung für den Frieden darstelle.

Wenn der Sicherheitsrat juristisch korrekt vorgegangen wäre und die Sanktionen vom August 1990 gegen den Irak aufgehoben hätte – weil sie nämlich gegenstandslos geworden waren –, wenn er eine Debatte über die Existenz neuer Gründe eröffnet hätte, die neue Sanktionen rechtfertigten, hätte der Rat dann selbst unter seinen Mitgliedern eine Mehrheit und in der internationalen Öffentlichkeit genügend Zustimmung für eine solche Maßnahme gefunden?

Welche Sanktionen wurden jemals gegen die Vereinigten Staaten erhoben, weil sie für die Kriegsschäden, die sie in Vietnam angerichtet haben, niemals Kriegsentschädigungen entrichteten? Werden alle bewaffneten Staaten als Bedrohung angesehen? Aufgrund welcher Kriterien sollen einige entwaffnet werden und andere nicht? Sicher nicht aufgrund der Tatsache, daß sie illegal fremdes Territorium besetzt haben, denn sonst müßten beispielsweise Indonesien (wegen seiner Interventionspolitik in Osttimor) und Israel (wegen der Besetzung des Westjordanlandes und des Gaza-Streifens) entwaffnet werden.

Dennoch sind die Bezahlung der Reparationen und die vollständige Entwaffnung seit April 1991 die neuen Zielsetzungen der wirtschaftlichen Sanktionen gegen den Irak. Die irakische Regierung hat lange versucht, sich zur Wehr zu setzen, doch ihre Arroganz und ihre Provokationen sind nach und nach angesichts der Härte des Embargos abgestumpft.

Saddam Hussein mußte alle Demütigungen einer peinlich genauen Kontrolle durch das Sanktionskomitee über sich ergehen lassen. Eine bürokratische und höhnische Kontrolle in erster Linie in bezug auf das Embargo – zum Schaden der irakischen Bevölkerung und ohne daß deren humanitären und sanitären Bedürfnissen Beachtung geschenkt worden wäre. Das haben verschiedene in Bagdad vertretene Institutionen der Vereinten Nationen, insbesondere die Unicef, bezeugen können2. Es folgte eine Überwachung der geforderten Entwaffnung.

Der Irak hat sich nach und nach den Bedingungen unterworfen. Aber noch immer monieren die Inspektoren der Vereinten Nationen, es gebe keine formalen Nachweise über die jahrelange Nutzung der siebzehn Tonnen biologischer Produkte, die der Irak vor dem Golfkrieg erhalten hat. Diese Produkte wurden für Laboruntersuchungen von Bakterienkulturen benutzt und deshalb auf verschiedene Krankenhäuser des Landes verteilt. Das Sanktionskomitee runzelt die Stirn und vermutet eine geheime bakteriologische Waffenfabrik. Es verweigert das grüne Licht zur Aufhebung der Strafe. Ebenso verweigert es den Schülern seit fünf Jahren Bleistifte, denn der so an Irak gelieferte Graphit könnte eine Gefahr für den Rest der Welt darstellen3.

Vor diesem Hintergrund von Absurditätenwird am 14. April 1995 die Resolution 986, die dritte Etappe der Aufrechterhaltung der Sanktionen, verabschiedet – unter dem Deckmantel einer scheinbaren Teilaufhebung der Maßnahmen. Das Embargo wird nur gelockert, um den Verkauf einer begrenzten Menge irakischen Erdöls zu ermöglichen (weniger als ein Viertel der Menge, die zur Wiederankurbelung der Wirtschaft eigentlich benötigt würde). Der Erlös soll auf ein Sperrkonto gehen, das Geld soll unter Kontrolle der Vereinten Nationen benutzt werden, mit der Verpflichtung zu einer bestimmten Verteilung der Waren im Lande, zur Abgabe von 30 Prozent des Erlöses an den Kriegsentschädigungsfonds, zur Finanzierung der gesamten Ausgaben für die Inspektionen der Vereinten Nationen, die Sonderkommission und das Sanktionskomitee. Das Prinzip der souveränen Gleichheit der Staaten wird bei diesem ganze Vorgehen vollkommen ignoriert. Der Irak untersteht dem Inspektorat der Vereinten Nationen.

Über die Mißachtung der Souveränität des Staates hinaus werden auch die grundlegenden Rechte des Individuums in Frage gestellt. Dies bezeugen alle Organisationen, die in Bagdad vertreten sind oder dort Missionen durchführen.4 Durch ihre willkürlichen Entscheidungen tragen die Mitgliedsstaaten des Sicherheitsrats den größten Teil der Verantwortung für die heutigen Leiden des irakischen Volkes. Sie verletzen damit eindeutig die Genfer Konvention zum Humanitären Recht, die die Aushungerung einer Zivilbevölkerung klar untersagt.5

Die zwingende Pflicht, menschliche Leben zu retten, hat Vorrang vor jeder anderen Verbindlichkeit. Sie ergibt sich aus den Verpflichtungen, die die Staaten mit den internationalen Menschenrechtsabkommen eingegangen sind, und ist für alle bindend. Die Frage der Reparationen muß zeitweilig zurückgestellt werden (ohne ausgeklammert zu sein). Es ist gerechtfertigt, den Irak für die Schäden zahlen zu lassen, die die illegale Invasion Kuwaits angerichtet hat. Aber dieses Land kann nicht verpflichtet werden, für alle Schäden aufzukommen, die ein – im Verhältnis zu seinen Zielsetzungen – disproportionaler Krieg angerichtet hat. Auch das irakische Volk muß entschädigt werden für die schweren Verwüstungen, die den Menschen und ihrem wirtschaftlichen Potential zugefügt wurden. Alles, was bisher zur irakischen Frage erfolgt ist, war nur eine Karikatur des internationalen Rechts. Es ist dringend notwendig, die Debatte darum, wie legal die Beschlüsse des Sicherheitsrats tatsächlich sind, in die Wege zu leiten.6

1 Die Resolution 687 erlegt Irak alle Kriegsschäden auf, einschließlich derer, die von anderen verursacht wurden. Siehe hierzu, Brigitte Stern, „Les problèmes de responsabilité posés par la crise et la guerre du Golfe“, in: „Les Aspects juridiques de le crise et de la guerre du Golfe“, Monchrestien, Paris 1991.

2 UNICEF Emergency. Activities in Irak 1991–1995, Bagdad, Irak, Januar 1995.

3 Siehe dazu Éric Rouleau, „Le peuple irakien première victime de l'ordre américain“, Le Monde diplomatique, November 1994.

4 Die Autorin berichtet hier als Augenzeugin; sie hat von 12. bis 20. April 1995 im Irak an einer Mission der europäischen Vereinigung der Juristen für Menschenrechte und Demokratie in der Welt (Association européenne des juristes pour les droits de l'homme et la démocratie dans le monde) teilgenommen hat.

5 Artikel 23 der Vierten Genfer Konvention zum Humanitären Recht und Artikel 54 des Protokolls von 1977.

6 Siehe dazu Mohammed Bedjaoui, „Nouvel ordre mondial et contrôle de la légalité des décisions du Conseil de sécurité“, Brüssel 1994.

*Professorin an der Universität Paris-VII

Le Monde diplomatique vom 16.06.1995, von M. Chemillier-Gendreau