16.06.1995

Ein Ex-Mullah mit neuen Ideen

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Ein Ex-Mullah mit neuen Ideen

MAN sieht es Golam Hossein Karbatchi nicht an, daß er eine außergewöhnliche Persönlichkeit ist. Der schmächtige Mann um die Vierzig wirkt streng, spricht nicht viel und lächelt selten. Er war Mullah, bevor er in die staatliche Verwaltung ging, und er trägt noch immer den typischen Bart. Seine Freizeit widmet er dem Reiten und Bergsteigen, aber häufiger sitzt er am Steuer seines Dienstwagens und fährt durch die Straßen Teherans. Wo er auch auftaucht, die Leute erkennen ihn sofort, und er wird begeistert begrüßt. Teheran ist „seine“ Stadt, seit fünf Jahren ist er Bürgermeister der Hauptstadt.1

Karbatchi ist populär, weil seine Verwaltung funktioniert. In den vornehmen Vierteln erregen seine unorthodoxen Methoden, den Stadtsäckel zu füllen, allerdings Mißfallen. „Er nimmt von den Reichen, um den Armen zu geben“, sagen seine Bewunderer, um die „Vorabsteuern“ zu rechtfertigen, die er auf Wertsteigerung erhebt. Davon sind unter anderem natürlich die Baulöwen betroffen. Was er erreicht hat, läßt keinen gleichgültig. In weniger als fünf Jahren hat er es geschafft, Teheran vom Verkehrschaos zu befreien – eine Riesenstadt mit acht Millionen Einwohnern und rund zwei Millionen Fahrzeugen. Etwa 200 Kilometer städtische Straßen sind gebaut worden, vier-, sechs- und achtspurig, mit Hunderten von Verkehrskreiseln, Tunneln und Parkhäusern. 18.000 Hektar Grünfläche und 700.000 Quadratmeter Sport- und Freizeitanlagen sind angelegt worden, außerdem entstanden Kindergärten und Bibliotheken, in den ärmeren Vierteln sind sieben Kulturzentren eröffnet worden.

Offenbar hat der Bürgermeister von Teheran aber noch andere Ziele. Vor zwei Jahren hat er die Zeitung Hamschari ins Leben gerufen, die inzwischen eine Auflage von 300.000 Exemplaren erreicht hat – mehr als alle anderen Tageszeitungen zusammen. Wenn die neue Druckerei fertig ist, soll die Auflage auf eine Million steigen. „Unpolitisch“ ist die Zeitung nach Auskunft ihres Chefredakteurs, Atrian-Far – damit liegt sie offenbar richtig: drei Viertel ihrer Leser sind jünger als dreißig Jahre, genau die Altersgruppe, die sich vom Islamismus der Machthaber abgewandt hat und die man oft als die „enttäuschte Generation“ bezeichnet.

Wird Karbatchi bei den nächsten Präsidentschaftswahlen antreten, wie viele es erwarten oder hoffen? Er selbst, der sich im politischen Spektrum zur Linken rechnet, sagt dazu: „Die hohe Geistlichkeit hat ihre eigenen Kandidaten, ich gehöre nicht dazu. Im übrigen möchte ich, wenn ich aus dem Amt scheide, nach Qom gehen, um dort als Mullah zu wirken.“

É.R.

1 Siehe: Faribah Adelkhah, „Quand les impôts fleurissent à Téhéran“, in: Les Cahiers du Ceri, Fondation nationale des sciences politiques, Paris 1995.

Le Monde diplomatique vom 16.06.1995, von E.R.