16.06.1995

Für einen Dialog der Zivilisationen

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Für einen Dialog der Zivilisationen

DER muslimische Fundamentalismus ist eine sehr ernste Bedrohung für unser Land, und man muß ihn bekämpfen.“ So denken laut einer neueren Umfrage1 78 Prozent der Franzosen, und bei den Sympathisanten Jean-Marie Le Pens klettert dieser Anteil sogar auf 92 Prozent. Muß man sich darüber wirklich wundern, wo uns doch die Medien ein oberflächliches und grob vereinfachendes Bild des Islams präsentieren und ihn mit Gewalt und Obskurantismus gleichsetzen? Anlaß zu Besorgnis geben diese Zahlen aber allemal, zu einer Zeit, da einige vom „Krieg der Zivilisationen“ reden (vgl. das Editorial Ignacio Ramonets), denn hier wird eine Haltung erkennbar, die schon bald zu Konfrontationen mit den Völkern des südlichen Mittelmeerraums und einem nicht unbeträchtlichen Teil von Bürgern muslimischen Glaubens in Europa führen könnte.

Ikonoklastisch und erfrischend, beleuchtet das Buch von François Burgat, der am Pariser Forschungszentrum CNRS arbeitet, das Problem aus einer ganz anderen Perspektive.2 Es hat das große Verdienst, alle Deutungen des islamistischen Phänomens zu verwerfen, die sich ausschließlich auf eine Exegese von Koranversen stützen und auf die Untersuchung „eines zeitlosen und unantastbaren Islams“. „Wenn heute wieder in Kategorien der islamischen Kultur gedacht wird“, schreibt Burgat, „resultiert daraus nicht ... eine, sondern ein unendlich breites Spektrum von politischen Haltungen, nicht eine, sondern tausendundeine Weisen, Islamist zu sein.“ Die Reise, zu der uns der Autor einlädt, von Ägypten über Gaza nach Algerien, verschafft einen Einblick in die Debatten, Kontroversen und Gegensätze, in denen sich die befinden, die wir mit dem einen Wort „Islamisten“ bezeichnen.

Für den Autor ist das, was diese Bewegungen eint, „vor allem eine Reaktion auf die kulturellen Auswirkungen der Kolonialzeit. Diese Reaktion treibt heute – nach der politischen und ökonomischen „Stufe“ – „die islamistische dritte Stufe der Rakete der Entkolonisierung an“. Denn „was derzeit als das bestimmende Ereignis dieses Fin de siècle über uns hereinbricht, ist nicht so sehr eine ,Rückkehr Gottes‘, sondern eine Rückkehr seiner Söhne aus dem Süden, die man eine Zeitlang vergessen hatte“.

François Burgat versucht, auf solch durchaus berechtigte Fragen zu antworten, wie etwa die Vereinbarkeit von Islam und Demokratie oder den Platz der Frauen im Islam. Er beschäftigt sich auch mit dem Problem der Gewalt. Die Tatsache, daß in den achtziger Jahren „die politische Unterdrückung fast überall in der arabischen Welt an die Stelle der politischen Öffnung getreten ist, erklärt zu weiten Teilen die scheinbar unaufhaltsame Radikalisierung der islamistischen Bewegungen“. Denn verwechseln wir nicht Ursache und Wirkung: Die Gewalt in Algerien, auch wenn man sie verurteilt, ist das Ergebnis für nichtig erklärter Wahlen; die Gewalt in Israel und Palästina, auch wenn man sie verurteilt, ist das Ergebnis der Besatzung.

ZU bedauern ist jedoch, daß Burgats Analyse des arabischen Nationalismus allzu reduktionistisch ausfällt. Nassers Ägypten bestand nicht nur aus Gefängnissen, und über das Algerien der Unabhängigkeit ist mit dem Verweis auf die Korruption der herrschenden Klasse in den achtziger Jahren sicher nicht alles gesagt. Dann könnte man sich auch nur schwer die große Popularität erklären, deren sich der ägyptische Staatschef und Houari Boumedienne in ihren Ländern immer noch erfreuen. Die Freundlichkeit, mit der die westlichen Eliten den arabischen Nationalisten begegnet sein sollen, war übrigens höchst relativ. Man erinnere sich an die scharfe Kritik, die während der Suezkrise 1955 oder des Sechstagekriegs 1967 an Nasser geübt wurde.

Ein anderer Vorbehalt betrifft den mitunter einseitigen Charakter des Buchs. Sicher, der Autor polemisiert gerne, und er zeigt sehr schön die Widersprüche im Diskurs der westlichen Medien auf. Doch der Versuch, die islamistischen Bewegungen zu verstehen und zu erklären, sollte einen nicht daran hindern, auch die Grenzen ihrer Strategie zu sehen, die schlagartig deutlich werden, wenn ihre Anhänger an die Macht kommen, wie im Iran und im Sudan.

Abschließend, in einem Kapitel mit dem Titel „Eine islamistische Gefahr?“, setzt sich François Burgat, und das kann man nur begrüßen, für einen echten Dialog der Zivilisationen ein. „Die französische Kultur“, schreibt er, „wird überleben, wenn es ihr gelingt, ihr einseitiges und herablassendes Verhalten gegenüber den Kulturen der Welt zu überwinden und ein wirkliches Gespräch zu führen.“ Denn bei aller Verteidigung universeller Werte sollte man nicht vergessen, daß der Westen kein Monopol auf sie hat und daß die Welt, die wir uns wünschen, eine pluralistische ist. Wir wollen keine „Weltkultur“, die bloß den „Weltmarkt“ ergänzt. ALAIN GRESH

1 Le Figaro, 11. April 1995.

2 François Burgat, „L'Islamisme en face“, Paris 1995, 262 Seiten.

Le Monde diplomatique vom 16.06.1995, von Alain Gresh