16.06.1995

Intellektuelle, Laizisten und Feministinnen im Aufwind

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Intellektuelle, Laizisten und Feministinnen im Aufwind

IN Islamschahr, einer Vorstadt von Teheran, kam es Anfang April aus Anlaß der Preissteigerungen zu Unruhen. Gewaltsame Proteste haben die Islamische Republik schon häufiger erschüttert, zumal die wirtschaftliche und soziale Lage der Bevölkerung sich zunehmend verschlechtert. Seit langem ist die Reform des politischen Systems zentrales Thema innenpolitischer Auseinandersetzungen. Selbst die Rolle der Mullahs wird mittlerweile kritisch betrachtet. Das US-Wirtschaftsembargo gegen den Iran, das jüngst in Washington beschlossen wurde, läuft Gefahr, jede weitere Entwicklung zu blockieren: Womöglich stiftet es einen neuen Pakt zwischen den iranischen Machthabern und der Bevölkerung.

Von unserem Sonderkorrespondenten ÉRIC ROULEAU *

Wer wissen möchte, wie sich die zivile Gesellschaft der Islamischen Republik in den vergangenen Jahren entwickelt hat, sollte nach Qom fahren. In dieser heiligen Stadt der Schiiten hatte vor über dreißig Jahren die von Chomeini geführte Bewegung ihren Anfang genommen, der es 1979 schließlich gelang, eine Monarchie mit zweitausendjähriger Tradition zu stürzen. Für das Regime in Teheran ist Qom seither politisch-religiöses Zentrum und ideologisches Versuchslabor zugleich. Nichts im Lande geschieht ohne die Zustimmung einer Korona von Ajatollahs, die über die Universitäten, Schulen und geistlichen Lehranstalten der Stadt gebieten, wo fuqaha (Rechtsgelehrte), ulama (Theologen) und tulab (Studenten) im Dienste der Gemeinschaft der Gläubigen die heiligen Schriften studieren.

Der „schiitische Vatikan“, wie Qom gelegentlich genannt wird, hat sich auf den ersten Blick kaum verändert. Nach wie vor sieht man überall Geistliche mit ihren Turbanen und weiten grauen oder braunen Mänteln, Frauen zeigen sich auf der Straße nur im schwarzen Tschador, der sie von Kopf bis Fuß verhüllt. Aber man stellt rasch fest, daß hinter diesem Erscheinungsbild ganz erstaunliche Dinge vorgehen.

Ein typisches Beispiel ist der Einsatz von Datenverarbeitung im Umgang mit den heiligen Schriften. Die theologische Universität Golpayegani, Hochburg des Konservativismus, hat in einem eigens umgebauten Stockwerk eine ganze Batterie von Computern aufstellen lassen. Dem Besucher bietet sich ein etwas überraschender Anblick: Mullahs in geistlichen Gewändern, die vor der Doppelreihe von Bildschirmen sitzen und mit flinken Fingern die Tastatur bedienen. „In weniger als fünf Jahren“, erklärt der Direktor des Computerzentrums, Ajatollah Ali al-Kawrani, „haben wir eintausendfünfhundert Bände des fiqh (der religiösen Jurisprudenz) eingegeben und Register angelegt – Werke der sunnitischen wie der schiitischen Richtung. Sobald wir neue Scanner haben, die arabische und persische Schrift verarbeiten können, werden wir Hunderte weiterer Bücher einlesen, darunter kostbare Manuskripte, die viele hundert Jahre alt sind.“

„Völlig autonom“ sei das Zentrum, das demnächst auch ans Internet angeschlossen werden soll, bemerkt der Direktor nicht ohne Stolz. Alle seien sie Mullahs, von den Informatikern und Programmierern bis hin zu den Technikern, die für die Wartung der Geräte (eines US-amerikanischen Herstellers) zuständig sind. Eine Reihe hoher geistlicher Würdenträger, aber auch Studenten haben sich PCs angeschafft, um auf bereits vorhandene oder im Aufbau befindliche Datenbanken zurückgreifen zu können.

„Die Folgen dieser stillen Revolution sind kaum abzusehen“, erklärt Ajatollah Kawrani. Sein würdevolles Gesicht wird von einem langen graumelierten Bart eingefaßt. Kawrani schenkt seinem Gesprächspartner einen wohlwollenden Blick durch die schmalrandige Brille und erläutert nicht ohne Verve drei wesentliche Vorzüge: Was in jahrelanger Forschungsarbeit zusammengetragen worden sei, könne dann endlich, durch die vorhandenen Datenbanken, jederzeit abgerufen werden. Für die theologische Wissenschaft beginne damit eine beispiellose Blütezeit. Hinzu komme, daß die Fülle und Genauigkeit der Information, wie sie allein der Computer biete, vermutlich sogar zu einem Wandel in den überkommenen Vorstellungen führen werde. Dies hätte zur Folge, daß unzureichend fundierte Überzeugungen ins Wanken gerieten.

Wenn die Information allgemein zugänglich werde, führt Kawrani weiter aus, verlören die Theologen ihr Wissensmonopol, und damit schwände allmählich auch die geistige Macht, die sie seit den Anfängen des Islam innegehabt hätten.

Um den Einfluß der Geistlichkeit in der Gesellschaft zu erhalten, ist vor fünf Jahren eine Universität geschaffen worden, die in ihrer Art einmalig ist. Sie solle Brücken schlagen zwischen dem Islam und der Moderne, erklärt ihr Begründer, Ajatollah Mussavi Ardabilli. Mit ihren geräumigen, hellen und zweckmäßig eingerichteten Gebäuden erinnert die al-Mufid-Universität an einen Campus in den USA. Es gibt Hörsäle und Wohnheime, eine Cafeteria und Freizeiträume, ein Stück weiter wird eine Bibliothek gebaut, die eine Million Bücher fassen soll. Dazwischen viel Grün, viele Blumen. Neben ihren theologischen Studien werden die Studenten in weltlichen Fächern ausgebildet, die hier, ohne abwertenden Beiklang, als die „westlichen“ Disziplinen gelten: Man kann in Ökonomie, Soziologie, Philosophie, Jura und Politik promovieren. Der Professor für Philosophie, der mich eingeladen hat, sein Seminar zu besuchen, erläutert mir den Lehrplan: Das Spektrum reicht von den antiken griechischen Denkern über Kant, Hegel und Marx bis zu Heidegger. Einige der Studenten haben auch Saint-Simon und Comte gelesen, und sie fragen sich mit Bedauern, weshalb Michel Foucault noch nicht ins Persische übersetzt ist.

Die iranischen Intellektuellen, ob religiös oder nicht, führen derzeit philosophische Debatten von ungeahnter Heftigkeit. Mit scharfen Polemiken treten zwei Lager gegeneinander an: auf der einen Seite die Heideggerianer, die den Machthabern nahestehen und erstaunlicherweise deutliche Affinitäten zwischen dem Denken des deutschen Philosophen und den großen Mystikern des Islam zu entdecken glauben, auf der anderen Seite die Verfechter der Moderne, die sich auf Karl Popper berufen. Diese Auseinandersetzungen sind keineswegs theoretischer Art, sondern sie werden geradezu erbittert geführt. Hier und da kommt es sogar vor, daß sich die streitenden Parteien in Zeitschriftenartikeln gegenseitig als „Nazi“ oder „verwestlicht und dekadent“ beschimpfen.

Der sicherlich umstrittenste Denker im Iran ist allerdings der muslimische Philosoph Abdel Karim Surusch, dessen Thesen weitreichende politische Wirkung haben. Seine Anhänger verehren ihn als großen Erneuerer; die Konservativen hingehen nehmen es ihm übel, daß er sich in die öffentliche Debatte eingemischt hat. Als die Islamische Republik gegründet wurde, gehörte er dem „Rat der Kulturrevolution“ an und trat vor allem in den Medien als glühender Verfechter des Systems auf. Inzwischen hat er Sendeverbot, aber zu seinen Vorträgen in der Universität und den Reden, die er jeden Freitagabend in einer Moschee der Hauptstadt hält, strömen noch immer die Massen.

Abdel Karim Surusch kann seine Vorstellungen nicht nur auf persisch, sondern auch in fließendem Englisch erläutern, denn er hat in England studiert. Im Zentrum seiner Theorie steht der Begriff der Relativität. Die heiligen Schriften, so führt er aus, sind per Definition unwandelbar, unsere Auffassungen hingegen sind subjektiv. Daher ist in seinen Augen das Verständnis des göttlichen Gesetzes von verschiedenen Faktoren abhängig, insbesondere von den jeweiligen Strömungen der Zeit und von den Begebenheiten in den einzelnen Ländern, von den verschiedenen sozialen und kulturellen Milieus und dem Stand der Wissenschaft. Der Philosoph lehnt es ab, sich selbst in die politische Arena zu begeben, das überläßt er seinen Freunden, vor allem der Redaktion der Zeitschrift Kian. „Surusch“, schreibt Hossein Ghasian, „befreit den Islam vom Ballast der Vergangenheit und versöhnt ihn mit der Moderne. Indem es für ihn keine absolute Wahrheit gibt, tritt er all jenen entgegen, die ihre Interpretation der heiligen Schriften durchsetzen und sich a fortiori auf göttliches Recht berufen wollen, um die Gemeinschaft der Muslime anzuführen.“

Das ist deutlich. Abdel Karim Surusch bestreitet also die traditionelle Autorität der Geistlichkeit, das alleinige Vorrecht, den Willen des Propheten zu deuten und umzusetzen. Damit stellt er eigentlich die Institution des welayat faqih (wörtlich: „Regierung des Rechtsgelehrten“) in Frage, die als die Säule der Islamischen Republik gilt. Parallel zur Volkssouveränität, die ihren Ausdruck in den Parlaments- und Präsidentschaftswahlen findet, verfügt nämlich auch der Inhaber des welayat faqih (derzeit als Nachfolger des Imam Chomeini der Ajatollah Chamenei) über weitreichende politische und religiöse Machtbefugnisse. Für Abdel Karim Surusch „wird der islamische Staat entweder ein demokratischer und humanitärer sein, oder es wird ihn nicht geben“. Erstaunlicherweise ist sein Angriff von einem Teil der Geistlichkeit positiv aufgenommen worden. Vor allem unter den jüngeren Mullahs ist aus verschiedenen Gründen die Ansicht verbreitet, der Islam dürfe sich nicht zu sehr mit dem Staat identifizieren, weil er sonst „seine Seele verlieren könne“, wie es einer von ihnen formuliert hat.

Hodschatulislam Mohsen Kadivar lehrt islamische Philosophie an verschiedenen theologischen Hochschulen des Landes. Obwohl nach seiner Meinung 98 Prozent der rund 80.000 Geistlichen des Iran keinen Einfluß auf die Lenkung des Staates haben, wird die Geistlichkeit immer unbeliebter – sie muß für die Fehler und den Amtsmißbrauch der machthabenden Minderheit von Mullahs büßen. Abgesehen von jenen, die das welayat faqih schlicht und ergreifend abschaffen möchten, zeigen sich zwei Strömungen: die Konservativen, die den „Religiösen Führer“ als gottgesandt betrachten, und die Reformer, die fordern, daß sich seine Macht auf den Willen des Volkes stützen müsse. Würde er gewählt, wäre er allerdings auch absetzbar.

Vor allem jüngere Mullahs gehen oft noch einen Schritt weiter. Sie erinnern daran, daß die Geistlichkeit früher, zur Zeit der Monarchie, beträchtlichen Einfluß besaß, gerade weil sie im Rahmen eines weltlich gedachten Systems traditionell als Gegenmacht verstanden wurde. Wie die meisten ihrer Kollegen wenden auch sie sich daher ganz entschieden gegen Pläne von Ajatollah Chamenei, den religiösen Stiftungen, die durch die Wirtschaftskrise in Schwierigkeiten geraten sind, eine Fortführung ihrer Arbeit (in Bildungs- und Wohlfahrtseinrichtungen etc.) durch staatliche Finanzhilfen zu ermöglichen. „Die Geistlichkeit steht heute vor einer entscheidenden Frage“, bemerkt Hodschatulislam Kadivar. „Wie kann sie ihre jahrhundertelang gehütete Unabhängigkeit auch gegenüber einem islamischen Staat bewahren? Es darf ihr nicht so gehen wie einst den marxistischen Parteien in den kommunistischen Staaten.“

Das Jahr 1988, als der achtjährige iranisch-irakische Krieg zu Ende ging, markiert nach Meinung vieler einen Wendepunkt in der Entwicklung der Islamischen Republik. „Das Volk hat damals den Waffenstillstand als demütigende Niederlage empfunden“, meint Professor Nasser Hadian. Er lehrt, genauso wie sein Kollege Hadi Semati, Politische Wissenschaft an der Universität von Teheran. „Die Iraner hatten in dem Glauben, daß sie einen heiligen Krieg führen würden, schwere Opfer gebracht – nahezu eine Million Kriegsopfer, davon 400.000 Tote. Plötzlich mußten sie feststellen, daß Allah den Satan (Saddam Hussein) nicht besiegt hat. Nach diesem Schock begannen sie, den Staat und die Geistlichkeit mit anderen Augen zu sehen. Die Glaubwürdigkeit war dahin.“

Dann stellte sich zusätzlich noch heraus, daß nicht alle die gleichen Opfer gebracht hatten: daß vielmehr die basaris (Händler), Spekulanten und Schmiergeldempfänger sogar in großem Stil verdient hatten. Dr. Es-Atollah Sahabi hat 1989 eine Dokumentation zu diesem Thema veröffentlicht, die großen Absatz fand. Seine Berechnungen stützen sich ausschließlich auf offizielle Angaben. Ihnen zufolge beliefen sich die Kosten der Kriegführung auf rund 30 Milliarden US-Dollar. 100 Milliarden US-Dollar seien durch diese „skandalöse Ausgabenpolitik verschwendet worden“, wie Sahabi im Gespräch ausführt. Und weiter: „Zweifellos sind auf diese Weise Schmiergeldzahlungen, Provisionen und andere Formen der Bestechung verschleiert worden.“

Von offizieller Seite gab es keine Reaktion auf diese Vorwürfe. Dr. Sahabi, ein langjähriger Vorkämpfer der islamischen Bewegung und früheres Mitglied des Revolutionsrates, ist selber Wirtschaftswissenschaftler. Offenbar waren seine Berechnungen und Belege kaum anfechtbar. Den Preis für seine Kühnheit zahlte er ein Jahr darauf. Weil er eine Petition für die Erhaltung der Grundrechte unterzeichnet hatte, wurde er zu einer Gefängnisstrafe von sechs Monaten verurteilt.

Mit dem Ende des Krieges, und bereits zuvor mit dem Tod von Chomeini, begann eine neue Ära. Im Westen sprach man vom „Thermidor“ der Revolution, ein iranischer Journalist nannte die neue Zeit die „Zweite Republik“. Ihr wichtigstes Merkmal war eine als liberal bezeichnete Wirtschaftspolitik, die vor allem in einer unbegrenzt freien Einfuhr von Konsumgütern bestand und das Land in die schwerste Wirtschafts- und Finanzkrise seiner Geschichte stürzte: ab dem kommenden Jahr muß der Staat kurzfristige Schulden in Höhe von 35 Milliarden US-Dollar tilgen, ohne über diese Mittel zu verfügen, die Ölförderanlagen sind in schlechtem Zustand, und die Industrieproduktion stagniert, weil es an Devisen und Investitionen fehlt. Der Rial ist dramatisch gefallen, gegenüber dem US-Dollar steht er bei einem Dreißigstel des Wertes von 1979. Obwohl es in der Landwirtschaft beachtliche Fortschritte gibt, erreicht das Bruttosozialprodukt pro Kopf heute nur 40 Prozent dessen, was vor zwanzig Jahren erwirtschaftet wurde. Seither hat sich allerdings die Bevölkerung verdoppelt, und der Ölpreis ist auf die Hälfte gesunken.

Die sozialen Kosten dieser wirtschaftspolitischen „Liberalisierung“ sind hoch, ihr „Erfolg“ bestand vor allem darin, die basaris als Importeure von Konsumgütern reich gemacht zu haben. Dagegen hat die Rezession fast jeden dritten Iraner arbeitslos werden lassen. Als Folge von Währungsverfall, Inflation (mindestens 50 Prozent) und geringen Lohnsteigerungen (für Staatsdiener ist zum Beispiel eine Obergrenze von 5 Prozent pro Jahr festgesetzt) ist der Mittelstand verarmt, die unteren Einkommensschichten sind ins Elend gestürzt worden. Ein Professor der Universität Teheran berichtet, daß sein Gehalt, das 1979 einem Gegenwert von 2.000 Dollar entsprach, heute umgerechnet nur mehr 200 Dollar beträgt. Seine Bezüge sind zwar regelmäßig erhöht worden, aber eben in Rial, und im gleichen Zeitraum hat sich die Miete für sein Haus verfünffacht.

Zugleich sind in dieser „Zweiten Republik“ gewisse Freiräume entstanden, wenn auch eher geduldet als erwünscht. Eine Vielzahl neuer Zeitschriften durfte erscheinen, darunter etwa zwanzig Organe, die man als weltlich orientiert beschreiben könnte. Einige bezeichnen sich selbst als unpolitisch, aber es ist nicht zu übersehen, daß sie sich mit philosophischen, wirtschaftlichen, sozialen, literarischen und künstlerischen Fragen in einer Weise auseinandersetzen, die mit der Ideologie und Politik der Machthaber unvereinbar ist.1 Erstaunlicherweise werden die radikalsten und bissigsten Diskussionsbeiträge in Zeitschriften gedruckt, die sich zum Islam bekennen – zur islamischen Reformbewegung natürlich. „Sie halten uns für ihre schlimmsten Feinde“, klagt Mahmud Chams, der junge dynamische Chefredakteur der Zeitschrift Kian, „dabei sind wir die Kinder der Revolution und der Islamischen Republik.“ Soviel Arglosigkeit kann man ihm nicht recht glauben.

Zur selben Richtung gehören auch zwei Zeitschriften, die für die Rechte der Frau eintreten: Zanan (Frauen) und Farzaneh (Die einfallsreiche Frau). Die eine will das breite Publikum erreichen, die andere zielt auf die gebildeten Schichten. Schala Scherkat, Chefredakteurin von Zanan, schließt aus den Leserinnenbriefen, daß die iranischen Frauen heute viel höhere Erwartungen an ihr Leben stellen als zur Zeit der Monarchie – aus der Erwartung heraus, daß die Revolution ihre gesellschaftliche Stellung hätte verbessern, nicht verschlechtern sollen. Demzufolge versuchen die Frauen, sich von den als islamische Sittengesetze ausgegebenen Traditionen und Bräuchen zu lösen und ihre Interessen gegen die überkommenen Privilegien der Männer durchzusetzen – vor allem im Hinblick auf das Scheidungs- und Erbrecht sowie die Chancengleichheit auf dem Arbeitsmarkt. „Die Frauen im Iran haben in vielen Bereichen längst gezeigt, was sie können“, sagt Schala Scherkat. „Es gibt Ärztinnen, Anwältinnen, Ingenieurinnen, Fernsehansagerinnen, weibliche Abgeordnete, Universitätsprofessorinnen und Firmenchefinnen. Warum sollte ein Frau nicht auch Richterin, Polizistin oder Jagdfliegerin werden können?“

Gerade die feministische Bewegung ist innerhalb weniger Jahre sehr viel stärker und selbstbewußter geworden. Sie wird von rund sechzig nichtstaatlichen Organisationen getragen, islamischen, laizistischen, gemäßigten und radikalen Gruppen, die unterschiedliche politische und weltanschauliche Richtungen vertreten, aber gemeinsame Ziele verfolgen. Unter anderem geht es darum, Gesetze zu ändern, und zu diesem Zweck werden die Parlamentarier, die zuständigen Minister und die Medien unter Druck gesetzt. Die Koordination dieser Kampagnen besorgt Mahdubeh Abbas-Gholisadeh, die Chefredakteurin der Zeitschrift Farzaneh. „Wir haben schon beachtliche Fortschritte gemacht, aber auch Rückschläge erlitten“, meint sie, und fügt gleich hinzu: „Wir werden den Dialog auf jeden Fall fortsetzen.“

„Dialog“ – das ist ein Schlüsselbegriff in der zivilen Gesellschaft der iranischen „Zweiten Republik“. Goft-o-Gu – „Dialog“ – nennt sich auch die Zeitschrift, die von Morad Saghafi herausgegeben wird, einem Absolventen der Technischen Hochschule von Lausanne. Goft-o-Gu hat von Anfang an Flagge gezeigt. Seit vor zwei Jahren die erste Nummer erschien, ging es darum, verschiedene Fragen aus weltlicher (auf persisch: nichtreligiöser) Sicht zu behandeln, und zwar in persischer Sprache. Ihr Anliegen ist es, einen „dreifachen Dialog“ zu stiften: zum einen zwischen den Islamisten und den Vertretern weltlicher Überzeugungen, zum zweiten zwischen den Laizisten divergierender Strömungen untereinander und schließlich zwischen der zivilen Gesellschaft und dem Staat. Man ist diesem Ziel ein paar Schritte näher gekommen: In den bislang erschienenen Ausgaben wurde über Fragen der Bürgerrechte, der Toleranz und des Mehrparteiensystems diskutiert.

Das Vorhaben eines solchen „dreifachen Dialogs“ ist durchaus nicht völlig utopisch. Hier könnten sich die Vertreter der zivilen Gesellschaft zusammenfinden, die unter der Zensur (Schriftsteller), der Selbstzensur (Journalisten und Verleger) und den Zwängen, Einschüchterungen und Schikanen (Künstler und Wissenschaftler) zu leiden haben. Seit dem Ende des Krieges gegen den Irak haben sich die Staatsorgane zwar in Zurückhaltung geübt, aber die Islamische Republik ist kein Rechtsstaat – die Rückkehr zu den Gewaltmethoden ist jederzeit möglich. Dennoch findet die Idee der Meinungsfreiheit auch bei Teilen der politischen Elite Zustimmung, sogar unter den Geistlichen. Einige Ajatollahs, zum Beispiel Muntaseri Khoeiniha (der führende Kopf der radikalen Linken) und Mussavi Ardabilli, haben sich eindeutig für eine demokratische Erneuerung ausgesprochen. Ardabilli sagte mir bei einem Gespräch in Qom, sofern die Verfassung es erlaube, sehe er keinen Grund, warum bestimmte weltliche Gruppierungen, wie die Nationale Front (die Mossadegh-Anhänger) oder die Tudeh- Partei (die Kommunisten), nicht wieder zugelassen werden könnten.

Zweifellos befinden sich die Machthaber auf allen Ebenen in einer schweren Krise. Optimisten halten es für möglich, daß sich der Prozeß der Liberalisierung fortsetzt. Solange er das Regime nicht bedroht und solange die Regierung keine bessere Lösung für ihre Probleme findet, könnte diese Politik dazu dienen, national und international um die dringend benötigte Unterstützung zu werben. Andere haben ihre Zweifel, ob ein System, das derart in seine Widersprüche verstrickt ist, noch die Fähigkeit zur Selbsterneuerung besitzt. Wenn sie recht behalten, wird die Auseinandersetzung sich wieder auf die Straße verlagern.

1 Siehe Fariba Adelkhah, „La offensive des intellectuels en Iran“, in: Le Monde diplomatique, Januar 1995.

Le Monde diplomatique vom 16.06.1995, von Eric Rouleau