16.06.1995

Israel – Zug um Zug und kein Schritt voran

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Israel – Zug um Zug und kein Schritt voran

SOLL der Frieden mit den Palästinensern vorangetrieben oder die Siedlungspolitik gefördert werden? Soll mit Syrien Frieden geschlossen oder sollen die Golanhöhen gehalten werden? Als Gefangene ihrer eigenen Widersprüche tut sich die israelische Regierung schwer, mutige Entscheidungen zu treffen, und riskiert dadurch die Rückkehr der Rechten an die Macht. Denn schon nächstes Jahr muß sie sich der Entscheidung der Wähler stellen – und die fühlen sich durch das Zögern von Premierminister Jitzhak Rabin desorientiert.

Von AMNON KAPELIUK *

In einem Alarmruf an die israelische Öffentlichkeit stellt sich der berühmte israelische Autor David Grosmann die Frage: „Ist Rabin zu der vollständigen Wandlung fähig, die ihm die neue Situation abverlangt?“1 Tom Segev, den seine bilderstürmerischen Recherchen zu den Ursprüngen des jüdischen Staates bekannt machten2, stellt fest, daß „die Geschichte Rabins die Geschichte Israels ist, gezeichnet durch eine Folge von Kriegen von 1948 bis heute. Von Anfang an hat er an der palästinensischen Tragödie mitgewirkt (insbesondere an der Vertreibung der Einwohner von Lod und Ramleh). Wie die Mehrheit der Israelis ist er unfähig, sich von den Konzepten und Dogmen frei zu machen, von denen dieses Land seit den Ursprüngen der zionistischen Bewegung geleitet wird. Darum ist er nicht der Mann, der den Staat Israel auf einen neuen Weg bringen könnte. Es ist wenig wahrscheinlich, daß Israel unter seiner Führung zum Frieden gelangt.“3

Andere erklären die Ungewißheiten im Verhandlungsprozeß mit den Palästinensern und Syrien mit Jitzhak Rabins zögerlichem Charakter. Er selbst erzählt in seinen Memoiren, mit welchen Worten Ministerpräsident David Ben Gurion Anfang der sechziger Jahre seine Ernennung zum Generalstabschef ablehnte: „Sie sind sehr vorsichtig“, hatte er gesagt, „ich glaube, er wollte sagen, zu vorsichtig“4, ergänzte Rabin.

Fest steht, daß sich der israelische Ministerpräsident zu einer Verlangsamung des Verhandlungsprozesses und der Umsetzung des Osloer Abkommens entschlossen hat. Wenige Monate nach seiner Unterschrift führte er ein Novum in der Außenpolitik ein: „Es gibt keine heiligen Daten“, verkündete er, er fühlte sich also nicht verpflichtet, den Zeitplan eines Textes einzuhalten, den er selbst unterzeichnet hatte.

Einem Journalisten vertraute Rabin an: „Ich habe bereits viel getan. Ich habe die Abkommen von Washington und Kairo mit den Palästinensern und das Abkommen mit Jordanien unterzeichnet. Ich überlasse es den anderen, diesen Weg fortzuführen.“ Anstatt sich also auf die Begeisterung zu stützen, die auf beiden Seiten herrschte, hat er alle weiteren Fortschritte hinausgezögert. Israelischen Friedensfeinden aber begegnete er mit Nachsicht. So weigerte er sich im Februar 1994 nach dem Massaker in der Moschee von Hebron, einige hundert fanatische Siedler aus dem arabischen Stadtzentrum von Hebron auszuweisen, obwohl er die israelische Öffentlichkeit hinter sich hatte.

Der Likud-Block (die konservativ- nationalistische Rechte), der das Land zwischen 1977 und 1992 regierte, hat alles getan, um über die Siedlungspolitik eine irreversible Situation in den besetzten Gebieten zu schaffen. Der Erfolg ist offensichtlich. Uri Savir, ein Vertrauter von Außenminister Schimon Peres und einer der Architekten des Osloer Abkommens, brüstete sich zu früh, als er sagte: „Das ist unsere Revanche. Durch die Abkommen mit den Palästinensern und vielleicht bald mit den Syrern schaffen wir eine neue Situation: Falls der Likud 1996 an die Macht kommt, wird er kein Groß-Israel mehr schaffen können.“

Der in Oslo vereinbarte Zeitplan ist also stark verzögert worden (siehe unten). Der Rückzug der israelischen Streitkräfte aus den besiedelten Teilen des Westjordanlands sollte ursprünglich vor dem 13. Juli 1994 Wahlen zum palästinensischen Hoheitsrat ermöglichen, doch er hat noch nicht begonnen. Der Vorschlag, nur zwei oder drei Orte zu räumen – statt aller palästinensischer Siedlungsräume im Westjordanland, wie es der Vertrag vorsieht – und unmittelbar darauf Wahlen abzuhalten, ist von Jassir Arafat zurückgewiesen worden.

Die Kompetenzen, die den Palästinensern in den besetzten Gebieten anvertraut werden sollten, sind bisher nur teilweise übergeben worden. Selbst die Schaffung eines sicheren Durchgangs zwischen dem Gaza-Streifen und Jericho ist nicht verwirklicht. Nur die Hälfte der Häftlinge in den israelischen Gefängnissen ist entlassen worden, noch befinden sich etwa sechstausend hinter Gittern.5

Immer noch wenden die israelischen Geheimdienste Folter an; am 25. April 1995 ist ein achtundzwanzigjähriger Mann, Abdel Samad Harisat, daran gestorben. Er ist das fünfunddreißigste Opfer, das seit Beginn der Intifada im Dezember 1987 der Folter in israelischen Gefängnissen erlegen ist.6 Während nicht einmal das Interimsabkommen umgesetzt ist, sollen die Verhandlungen zur endgültigen Regelung des Zusammenlebens von Palästinensern und Israelis am 4. Mai 1996 beginnen.

Für allgemeine Empörung unter den Palästinensern sorgt jedoch vor allem die Abriegelung der besetzten Gebiete, die ein beispielloses wirtschaftliches Desaster verursacht hat. Etwa 60 Prozent der arbeitsfähigen Bevölkerung sind arbeitslos. Ersetzt wurden sie durch Arbeiter, die man aus Thailand oder Rumänien holte. Nun hängt durch die Besetzungspolitik der Arbeitsmarkt stark von der israelischen Nachfrage ab. Professor Ezra Sadan, ehemaliger Generaldirektor im Finanzministerium, bezeichnete diese Abriegelung als „Zerstörung der palästinensischen Wirtschaft, von der hunderttausend Familien unmittelbar betroffen sind. Es ist wirklich ein Drama.“7

„Gewiß“, fügt er nicht ohne Ironie hinzu, „das Osloer Abkommen hat die Landkarte verändert. Fünfundsiebzigtausend thailändische und osteuropäische Arbeiter sind hierhergebracht worden, während eine noch größere Zahl von Palästinensern vertrieben wurde. Das Abkommen sollte die wirtschaftliche Lage der Palästinenser verbessern, tatsächlich hat es ihnen aber eine Katastrophe beschert.“ Im übrigen widerspricht die Abriegelung der israelisch- palästinensischen Grundsatzerklärung, die ausdrücklich bestimmt, daß in der Übergangszeit keine Wirtschaftsgrenze zwischen Israel und den besetzten Gebieten errichtet wird, und den freien Warenverkehr sowie die Freizügigkeit der Arbeitskraft festlegt.

Verzicht auf den Golan?

EINEN weiteren Grund zur Unzufriedenheit liefert die verstärkte Siedlungspolitik. 1994 sind zu diesem Zweck 46 Millionen Dollar bewilligt worden. Dreißigtausend Wohneinheiten sind für die nächsten fünf Jahre in den besetzten Gebieten vorgesehen. Besonders in Jerusalem dauert die Landnahme an, obwohl Rabin am 22. Mai 1995 einen Stopp verkündete, weil er den Sturz seiner Regierung befürchtete (siehe den Artikel von Isabelle Avran auf Seite 2). Darüber hinaus existiert nach wie vor eine tiefe Mißachtung gegenüber Jassir Arafat, die hier und da auch offiziell bekundet wird. Dabei war gerade er es, der den Israelis die Türen zur arabischen und islamischen Welt geöffnet hat.

Die israelischen Verantwortlichen erklären die Verzögerung in der Anwendung der Grundsatzerklärung durch die Zunahme terroristischer Gewaltakte gegen Israel; Arafat habe keine Kontrolle über die Hamas-Bewegung und den Islamischen Dschihad. Die Palästinenser erwidern, Israel sei mit seiner Armee und seinen allgegenwärtigen Geheimdiensten in den ganzen siebenundzwanzig Jahren Besetzung nicht in der Lage gewesen, die Übergriffe gegen seine Soldaten in Westjordanland und im Gaza- Streifen zu beenden; man könne von ihnen nicht erwarten, daß ihnen das auf Anhieb gelänge, zumal Westjordanland weiterhin besetzt sei.

Der Rückzugsplan der israelischen Streitkräfte im Westjordanland, dessen Einzelheiten im November 1994 veröffentlicht wurden, sieht die Schaffung eines engmaschigen Straßennetzes vor, das alle Siedlungen untereinander und mit Israel verbindet. Ein beträchtliches Budget – eine Milliarde US-Dollar auf drei Jahre verteilt – ist dafür vorgesehen. Nach den Worten des Oberbefehlshabers für die israelische Region Mitte, General Ilan Biran, sieht dieser Plan vor, daß ausnahmslos alle Siedlungen verteidigt werden. Der Plan teilt das Westjordanland in verschiedene arabische Zentren auf, die von Straßen, Siedlungen und Militärbasen umgeben sind. Damit entstünde im Westjordanland eine Reihe von Bantustans, ein Archipel kleiner Enklaven mit stark beschränkter palästinensischer Souveränität.

Alle wissen, daß der Tausch „Land gegen Frieden“ der Schlüssel zum Frieden mit Syrien ist. Schimon Schiffer, einer der besten politischen Kommentatoren Israels, erläutert: „Schon morgen könnte Israel ein Friedensabkommen mit Syrien erreichen. Die Amerikaner wissen das, die israelische Armee weiß das, und das israelische Außenministerium weiß es auch. Aber Israel will oder kann den Preis dafür nicht zahlen. Hafis al-Assad ist zu einem Friedensschluß bereit, und er hat seine Vorstellungen diesbezüglich klar geäußert: die Rückkehr zu den Grenzen von vor dem Sechstagekrieg, eine Normalisierung der Beziehungen, minimale Sicherheitsmaßnahmen und ein rascher israelischen Rückzug.8

Also ist Israel am Zug. Rabin aber gibt immer noch vor, einen Teil der Golanhöhen behalten zu wollen. Zwar hat Außenminister Schimon Peres am 28. Mai erklärt: „Der Golan ist syrischer Boden, und wir befinden uns auf syrischem Boden!“ Dennoch erwägt der Ministerpräsident vorerst nur „einen symbolischen und sehr begrenzten Rückzug“ während der ersten Phase eines Abkommens mit Damaskus.

Rabin träumt von einer Grundsatzerklärung nach dem Osloer Vorbild und einem Händedruck mit Präsident Assad in Washington. Anschließend sollen die Räumung der Golanhöhen und die Normalisierung der Beziehungen mit Damaskus beginnen – und unmittelbar danach könnte in Israel gewählt werden. Über die folgenden Etappen des Friedensprozesses mit Syrien herrscht dann erst mal Unklarheit.

Selbst wenn beiden Seiten ein Abkommen gelingt, muß das Parlament es bestätigen. Die von der Arbeiterpartei geführte Koalition ist aber in der Golanfrage einer Fronde von Widersachern ausgesetzt: Einige Abgeordnete fordern eine Gesetzesabstimmung, die eine Mehrheit von siebzig Abgeordneten (von insgesamt hundertzwanzig) verlangt, um die im Dezember 1981 beschlossene Annexion der Golanhöhen rückgängig zu machen.

Zudem hat der Ministerpräsident versprochen, jedes Abkommen in der Golanfrage einem Referendum zu unterziehen, und in der öffentlichen Meinung sind die Gegner einer Rückgabe in der Mehrheit. Viele glauben, die Golanhöhen seien für Israels Sicherheit unverzichtbar. Nicht einmal die im Golfkrieg auf Israel abgeschossenen Raketen, die die sehr relative Bedeutung von Bergstellungen im modernen Krieg aufgezeigt haben, konnten diese Überzeugung erschüttern.

In der Wahlkampfstimmung, die in Israel sehr früh eingesetzt hat, drohen die „Falken“, die Arbeiterpartei zu verlassen, falls die Golanhöhen aufgegeben werden. Die Partei wurde schon vor einem Jahr stark erschüttert, als bei den Wahlen der Histradut-Gewerkschaft der Dissident Chaim Ramon siegte. Die Falken gründeten den „Dritten Weg“, eine politische Bewegung, die vor allem die Fahne der Sicherheit hochhält. Einer ihrer Sprecher, der ehemalige Generalstabschef General Dan Schomron, behauptete gar, die Friedensverhandlungen stellten den Erfolg des Zionismus in Frage. Indirekt arbeitet diese Bewegung mit der Rechten zusammen, die an den Golanhöhen festhält.

Die israelische Rechte hat Verbündete im republikanischen Lager in den Vereinigten Staaten gefunden, wo ebenfalls die Wahlkampfzeit beginnt. Sie will, daß Washington darum bei einem Abkommen mit Syrien die Entsendung von Soldaten ablehnt. Der (republikanische) Vorsitzende des außenpolitischen Senatsausschusses, Jesse Helms, hat Hafis al-Assad bereits angegriffen, weil er seiner Meinung nach nur Frieden wolle, um finanzielle Hilfen zu erhalten. Außerdem behauptete Helms, die israelischen Siedlungen in den besetzten Gebieten stünden im Einklang mit den Genfer Konventionen.9

Robert Dole, Führer der republikanischen Mehrheit im Senat und Präsidentschaftskandidat für 1996, hat einen Gesetzentwurf vorgelegt, der vorsieht, die US-amerikanische Botschaft nach Jerusalem zu verlegen. Zugleich erweist sich Präsident William Clinton als eine der festesten Stützen Israels.

In einem Jahr finden in Israel Parlamentswahlen statt. Angesichts der Zaghaftigkeit einer Regierung, die nach einem Schritt vorwärts zwei zurück gemacht hat, gewinnt die Rechte zunehmend an Boden. Noch weiß man nicht, ob der vierundsiebzigjährige Jitzhak Rabin Spitzenkandidat sein wird. Man redet viel von einer neuen Generation in der Arbeiterpartei, zu deren Galionsfiguren General Ehud Barak gehört, ein ehemaliger Generalstabschef mit dem Ruf eines Falken.

Die neuen russischen Einwanderer könnten bei der nächsten Wahl den Ausschlag geben. 1992 hatten sie aus Unzufriedenheit über die Unfähigkeit der Likud-Regierung, ihre Integration zu erleichtern, mehrheitlich für die Arbeiterpartei gestimmt. Ihre Lage hat sich nicht gebessert, wofür die Arbeiterpartei möglicherweise zahlen wird; ihre Stimmen – 10 Prozent der Wähler – werden allerdings auch das Gewicht der religiösen Parteien mindern. In ihrer großen Mehrheit lehnen die Einwanderer aus der ehemaligen UdSSR die Orthodoxen ab und widersetzen sich dem monopolistischen Einfluß, den diese Parteien über den zivilen Staat auszuüben trachten. Nachhaltig befürworten sie die Trennung von Religion und Staat.

Doch den Ausschlag bei den nächsten Wahlen werden die Beziehungen zu den Palästinensern und der arabischen Welt geben. Der jüdische Staat kann von Frieden, Sicherheit und Stabilität nicht träumen, solange die Palästinenser nicht ihre legitimen Rechte erhalten haben. Leider wollen viele Israelis nicht wahrhaben, daß diese Frage ihre Zukunft bestimmen wird.

Le Monde diplomatique vom 16.06.1995, von Amnon Kapeliuk