16.06.1995

Jerusalem – Die Siedler, die sie riefen...

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Jerusalem – Die Siedler, die sie riefen...

Von

ISABELLE

AVRAN *

UM einen drohenden Sturz seiner Regierung zu verhindern, hat der israelische Premierminister Jitzhak Rabin am 22. Mai 1995 „vorerst“ den Beschluß aufgehoben, 53 Hektar palästinensisches Land zu beschlagnahmen, um dort neue Wohnungen für israelische Siedler zu bauen: 33 Hektar nahe Beit Hanina und 20 Hektar nahe Beit Safafa. Die beiden Dörfer liegen innerhalb der Grenzen Groß-Jerusalems, dessen östlichen Teil Israel 1967 eroberte und 1980 per Gesetz annektierte.

Diese Entscheidung Rabins ändert aber nichts an der allgemeinen Strategie der israelischen Regierung, eine vollendete Tatsache an die andere zu reihen, wie es etwa die Anfang Mai erfolgte Konfiszierung von Land nahe Gilo und Pisgat Ze'ev zeigt. Nun wird der Rahmen für alle Friedensgespräche in Nahost aber von der Resolution 242 des Sicherheitsrats der Vereinten Nationen gesetzt, die es für unzulässig erklärt, sich fremde Territorien durch Krieg und Gewalt anzueignen. Und im Artikel V der israelisch-palästinensischen Grundsatzerklärung heißt es weiter: Israelis und Palästinenser werden im Laufe der Verhandlungen über einen dauerhaften Status verschiedene offene Fragen behandeln wie „Jerusalem, Flüchtlinge, Siedlungen, Sicherheitsregelungen, Grenzen, Beziehungen zu und Zusammenarbeit mit Nachbarn sowie andere Fragen von gemeinsamem Interesse. Die beiden Parteien stimmen darin überein, daß das Ergebnis der Verhandlungen über den dauerhaften Status nicht durch Vereinbarungen, die für die Übergangsperiode geschlossen werden, vorweggenommen oder beeinflußt werden darf.“

Diese Formulierung drückt bereits einen Kompromiß aus: die palästinensische Seite wünschte sofortige Verhandlungen über den Status der Stadt, die israelische Seite lehnte dies ab. Doch weit davon entfernt, wenigstens den territorialen und demographischen Status quo zu respektieren, hat Rabin seit der Unterzeichnung des Osloer Abkommens jene Besiedlungspolitik intensiv fortgeführt, die 1967 vom damaligen Bürgermeister Teddy Kollek, Mitglied der Arbeiterpartei, mit einem deutlich ausgesprochenen Ziel begonnen wurde: Die Annexion der Altstadt und ihrer gesamten Umgebung sollte nicht mehr rückgängig gemacht werden können.

Am 22. Januar dieses Jahres trat die Regierung zu einer Sondersitzung zusammen, die dem explosiven Thema „Groß-Jerusalem“ gewidmet war. Zwei Jahre zuvor, fast am gleichen Tag, dem 24. Januar 1993, hatte die damalige Likud-Regierung die Empfehlungen einer Kommission angenommen, die Schimon Scheves leitete. Die Kommission schlug vor, „Groß-Jerusalem“ (zu dem neben dem jüdischen West-Jerusalem das 1967 eroberte Ost-Jerusalem sowie ein Teil des Westjordanlandes gehört) zu „einer vorrangigen Entwicklungszone“ zu erklären. Diese Zone schließt eine Reihe israelischer Siedlungen ein wie Givat Ze'ev, Goush Etzion, Betar, Efrat und erstreckt sich bis zur Grenze von Ramallah im Norden, bis zu Bethlehem im Süden und Ma'al Adumim im Osten. Insgesamt liegen in ihr mehr als 15 Prozent des Westjordanlandes.

Am 22. Januar 1995 nun bildete die Regierung von Jitzhak Rabin einen Sonderausschuß, der untersuchen soll, wie sich die Besiedlung in dieser ganzen Region entwickelt. Am 28. Januar stellte Benjamin Ben Eliezer, der Wohnungsbauminister, das Budget vor, das für die Siedlungen vorgesehen ist. Nach Angaben der israelischen Friedensbewegung „Peace Now“ soll es sich gegenüber dem Vorjahr um 70 Prozent erhöht haben. Glaubt man den Zahlen der Tageszeitung Ha'aretz1 und der Washingtoner Stiftung für den Frieden in Nahost2, dann hat Benyamin Ben Eliezer vor, 1995 insgesamt 35 Millionen Dollar in die Siedlungen im Westjordanland zu investieren, davon 17,5 Millionen in die Siedlungen am Ostrand Jerusalems.3 Das bedeutet 4.100 zusätzliche Wohnungen für neue Siedler in der Umgebung der Stadt, mitsamt der zugehörigen Infrastruktur und einem Straßennetz, das diese Siedlungen mit Israel verbindet.

Als wär's eine neue Grenze

DER israelische Geograph Jan de Jong unterscheidet mehrere privilegierte Entwicklungsachsen für die Besiedlung. Zunächst sollen die Grenzen der Stadt erweitert und der Gürtel, der sie umgibt, geschlossen werden. Mehrere tausend Wohnungen und ein neues Industriegebiet werden zur Zeit im Süden und Osten von Ma'al Adumim geschaffen. Die Siedlung hat zwanzigtausend Einwohner, und 1991 wurde ihr das Stadtrecht verliehen. Im Norden wird die Siedlung Givat Ze'ev um sechshundert Wohnungen erweitert. Im Süden wird die Straße Nummer 60 gebaut, die die Siedlungen von Etzion mit Jerusalem verbinden soll. Ein Straßennetz im Osten mit einer Umgehungsstraße soll die Stadt vom übrigen Westjordanland abtrennen.

Die zweite Entwicklungsachse verläuft entlang der grünen Linie, die den Westen vom Osten der Stadt trennt. Zu ihr gehören die Siedlungen Ramat Rachel, Talpiot Center, ein neues Viertel namens Davidstadt und Ramat Shoafat, das neue Viertel der Orthodoxen, an dem gerade gebaut wird. Ziel dieser Bebauungsmaßnahmen ist es, einen territorialen Zusammenhalt zwischen West- und Ost-Jerusalem zu schaffen und Ost-Jerusalem von seinem palästinensischen Hinterland abzuschneiden.

Die völlige Schließung Jerusalems für Palästinenser, die am 30. März 1993 erfolgte, ist ebenfalls Teil dieser Strategie. Seit mehr als zwei Jahren gibt es jetzt an allen Einfallstraßen, die vom Westjordanland aus in die Stadt führen, Sperren. Diese Blockade stellt eine Art neue Grenze dar und hält die Palästinenser des übrigen Westjordanlandes, die Ost-Jerusalem als Hauptstadt ihres entstehenden Staates betrachten, von ihrem administrativen, kulturellen, religiösen, sozialen und ökonomischen Zentrum fern. Darüber hinaus haben sich aber auch in der Altstadt und den Vierteln, in denen die Palästinenser wohnen, Siedler niedergelassen – ganz im Sinne des neuen Bürgermeisters Ehud Olmert und seines Likud-Magistrats.4

Erbaut werden diese Siedlerhäuser auf beschlagnahmtem Land. Die gewaltsamen Enteignungen begannen bereits 1967, nachdem sich die Mehrheit der Palästinenser geweigert hatte, ihr Land zu verkaufen. Ha'aretz berichtet in der Ausgabe vom 20. Januar 1995 vom Fall eines Bewohners aus dem Dorf Batir, nahe Bethlehem, der ein Gerichtsverfahren eingeleitet hatte, um sein Land zurückzubekommen, das man konfisziert hatte, um eine Straße zur Siedlung Efrat zu bauen. Der Staatsanwalt Michel Blass plädierte dafür, die Klage abzuweisen. Sein Argument:Dem Dorfbewohner recht zu geben, würde einer Rückkehr zu den Verhältnissen vor dem Juni 1967 gleichkommen.

Mit dieser Politik der Landnahme wird die palästinensische Bevölkerung nach und nach verdrängt. Nach Angaben des palästinensischen „Informationszentrums Menschenrechte“ lebten 1993 in Ost-Jerusalem 155.000 „Nichtjuden“ (so die offizielle israelische Bezeichnung) und 160.000 Juden, die erst seit knapp drei Jahren in der Überzahl sind. Diese demographische Umwälzung ist das Ergebnis einer forcierten Politik der Judaisierung.

Achtundzwanzig Jahre nach dem völligen Abriß des Moughrabi-Viertels (nahe der Klagemauer) müssen die Palästinenser immer noch einen Hindernislauf absolvieren, um „ständige Bewohner der Stadt“ und damit „ständige Bewohner Israels“ (nicht jedoch israelische Staatsbürger) zu werden. Um 1967 den Status „Bewohner der Stadt“ zu bekommen, mußte man ebendort nachweislich wohnen. Heute häufen sich die Schwierigkeiten für die junge Generation. Ein Regierungserlaß von 1982 machte es einem Kind, von dem nur die Mutter „Bewohnerin der Stadt“ war, unmöglich, diesen Status zu erlangen. Der Druck von Menschenrechtsorganisationen führte im Januar 1993 dazu, daß dieser Beschluß aufgehoben wurde, doch die Mütter stoßen auf eine Vielzahl verwaltungstechnischer Schwierigkeiten. Eine Verordnung vom April 1994 erlaubt es den Ehemännern von Jerusalemer Frauen, im Zuge der Familienzusammenführung selbst zu Jerusalemern zu werden. Dennoch werden 70 Prozent der Anträge aus „Sicherheitsgründen“ abgelehnt.

Diese juristischen Beschränkungen sind aber nicht alles. Es gibt zuwenig Wohnungen, und in den meisten palästinensischen Vierteln darf nicht neu gebaut werden. In bestimmten Zonen der Stadt werden prinzipiell keine Baugenehmigungen erteilt, und siebzehn der dreißig Palästinenser-Viertel befinden sich in solchen Zonen.

Laut einer Umfrage, die das palästinensische „Informationszentrum Menschenrechte“ im Juni 1994 durchgeführt hat, leben 21.000 Jerusalemer Palästinenser in höchst bescheidenen Unterkünften, teilweise sogar in Kellern, Zelten oder Bussen; doch wer sich außerhalb der Stadt etwas Besseres sucht, verliert seinen „Bewohner“-Status. Nur 40 Prozent der von Palästinensern bewohnten Häuser sind an die städtische Kanalisation angeschlossen. Zwar stammen 26 Prozent der Jerusalemer Haushaltmittel aus Steuern, die die Palästinenser zahlen, doch was ihnen in Form von Infrastruktur und Dienstleistungen zugute kommt, beläuft sich im ganzen nur auf 5 Prozent der Ausgaben. Wohngeld beziehen 70.000 jüdische Familien in Siedlungen im Osten der Stadt und nur 555 palästinensische Familien. Dieses Modell, für das sich die Verfechter der Annexion einsetzen, ähnelt fatal dem Modell einer durch „getrennte Entwicklung“ geteilten Stadt. Liegt hier vielleicht einer der Gründe dafür, daß immer mehr Ostjerusalemer Palästinenser die israelische Staatsangehörigkeit beantragen?

Diese Politik löst bislang nur wenige ernstzunehmende internationale Reaktionen aus, auch wenn Frankreich am 2. Mai aus Anlaß der Beschlagnahmung der 53 Hektar Land eine Sitzung des Sicherheitsrates einberufen hat.

Umgekehrt kommt die amerikanische Regierung der israelischen sehr entgegen, wie das Veto zeigte, mit dem am 17. Mai eine beabsichtigte Resolution des Sicherheitsrats der Vereinten Nationen verhindert wurde, in der Israel, in gemäßigtem Ton übrigens, aufgefordert werden sollte, seine Konfiszierungen in Jerusalem rückgängig zu machen.

Umgekehrt kommt die amerikanische Regierung der israelischen sehr entgegen, wie das Veto zeigt, mit dem am 17. Mai eine beabsichtigte Resolution des Weltsicherheitsrates verhindert wurde, in der Israel aufgefordert werden sollte, seine Konfiszierungen in Jerusalem rückgängig zu machen.

Der ehemalige Präsident George Bush nannte die Besiedlung ein „Hindernis für den Frieden“; die Regierung Clinton scheint dies anders zu sehen. Allerdings hat in den USA bereits der Wahlkampf begonnen, und Republikaner und Demokraten überbieten sich ständig in ihrer Unterstützung Israels. In einem Appell an den amerikanischen Außenminister Warren Christopher forderte die Mehrheit der Senatoren unlängst, den Sitz der Botschaft der Vereinigten Staaten von Tel Aviv nach Jerusalem zu verlegen. Sollte dies tatsächlich geschehen, wird man die Hoffnungen auf einen Frieden in Nahost wohl vorerst begraben müssen.

1 Ha'aretz, 23. Januar 1995.

2 Report on Israeli Settlements in the Occupied Territories, Bd. 5, Nr. 2, März 1995.

3 8 Millionen Dollar sind für Givat Ze'ev vorgesehen, 4,6 für Beitar, 3 für Ma'al Adumim und 1,9 für Kiryat Sefer.

4 Der Likud, der den Gedanken einer „Umsiedlung“ (das heißt einer Vertreibung) der Palästinenser nie aufgegeben hat, war schon immer dafür, jüdische Siedlungen mitten in den arabischen Städten anzulegen. Die Arbeiterpartei zog dagegen eine Besiedlung weniger dicht bevölkerter Regionen vor. In einer Stadt wie Jerusalem wird dieser Unterschied allerdings bedeutungslos.

Le Monde diplomatique vom 16.06.1995, von Isabelle Avran