16.06.1995

Krieg der Zivilisationen?

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Krieg der Zivilisationen?

Von IGNACIO RAMONET

VOR zwei Jahren erklärte der amerikanische Professor Samuel Huntington1 auf die Frage, wie die Welt nach dem Ende des Kalten Krieges beschaffen sein würde, in einem aufsehenerregenden Artikel: „Ich behaupte, daß die Konflikte in der neuen Ära im wesentlichen nicht ideologischer oder wirtschaftlicher Natur sein werden. Die bedeutenden Spaltungen der Menschheit und die hauptsächlichen Konfliktherde werden im Bereich der Kultur liegen. Die Nationalstaaten werden in den internationalen Beziehungen nach wie vor die Hauptrolle spielen, aber die schärfsten politischen Konflikte werden sich zwischen Nationen und Gruppen abspielen, die verschiedenen Kulturen angehören. Die Weltpolitik wird bestimmt sein vom Aufeinanderprallen der Zivilisationen.“

Und weiter: „Das jeweilige Zugehörigkeitsgefühl zu einer Zivilisation wird in Zukunft an Bedeutung gewinnen, und die Welt wird in großem Ausmaß von einem Austausch zwischen sieben oder acht Hauptzivilisationen geprägt sein: der westlichen, konfuzianischen, japanischen, islamischen, hinduistischen, slawisch-orthodoxen, lateinamerikanischen und möglicherweise der afrikanischen. Die wichtigsten Konflikte der Zukunft werden entlang der Bruchlinien dieser Kulturen verlaufen.“2

Im Nu erhob sich ob dieser Thesen eine weltweite Polemik. Die Widerlegungen trugen schließlich den Sieg davon. Zahlreiche Autoren gestanden zwar ein, daß die derzeitigen politischen Konflikte eine bedeutende kulturelle Dimension aufwiesen (etwa Bosnien, Tschetschenien, Algerien, Naher Osten, Südsudan, Kaschmir, Sri Lanka, Chiapas) – doch sie warfen Samuel Huntington vor, er betreibe eine politische Vereinfachung, ziehe viel zu grobe kulturelle Bruchlinien und vor allem: er fordere mit seinen Ausführungen den Westen zum Widerstand auf gegen eine angebliche Offensive des Islam.

Huntingtons Argumente bestärkten viele Leute in den Vereinigten Staaten und diversen europäischen Ländern in ihrerFremdenfeindlichkeit; sie machten die These vom Islam als neuem „absolutem Feind“ des Westens hoffähig – wie sehr, das zeigte die Berichterstattung der amerikanischen (und auch französischen) Medien unmittelbar nach dem schrecklichen Attentat von Oklahoma am 19. April: Sofort wurde ein „islamisches Netz“ hinter dieser Schandtat vermutet. Bis man herausfand, daß die Ungeheuer aus der – weißen, christlichen – extremen Rechten stammten...

Als Höhepunkt dieser Polemik hat die Princeton University vor einigen Wochen im Rahmen eines Kolloquiums3 Experten aus aller Welt versammelt, die ihre Kritik an Huntington in dessen Gegenwart zur Debatte stellten.

Sie warfen ihm vor, daß er nur von den „blutigen Grenzen des Islam“ spreche, wo man doch mit dem gleichen Recht die „blutigen Grenzen des Christentums“ auf dem Balkan oder im Kaukasus, die „blutigen Grenzen des Hinduismus“ in Kaschmir oder Sri Lanka und die „blutigen Grenze des euro-amerikanischen Einflußbereiches“ an der Bruchlinie zwischen Nord und Süd anprangern könnte.

IST es wirklich möglich, die heutige Welt und ihre Geschichte in einige wenige in sich geschlossene Zivilisationen mit klar umrissenen Grenzen zu unterteilen? Basieren derlei globalisierende Vorstellungen nicht auf der – mythischen und irreführenden – Annahme von der Existenz eines reinen Subjektes? Darf man die Auswirkungen der kulturellen Vermischung, der Multikulturalität und schließlich der Modernität übergehen, die die Kolonisierungen mit sich gebracht haben?

Jede menschliche, religiöse und kulturelle Gruppe besitzt einen gewissen Grad an Durchlässigkeit. Die Geschichte der Menschheit gemahnt an die schwarze Sonne – eine Geschichte der Vermischung aller Einflüsse aus allen Gesellschaften.

Heutzutage verdichtet sich dieses Ineinander mit der weltweiten Verbreitung des westlichen Städte-Modells, mit der allgemeinen Übernahme ein und derselben Staatsform und vor allem mit dem Siegeszug der Massenmedien, die allüberall identische Verhaltens-, Konsum- und Unterhaltungsmuster propagieren und eine immer einheitlichere Vorstellungswelt erzeugen.

Das geht so weit, daß einige der Experten gegen Huntingtons Thesen anführten, es gäbe nur noch eine einzige Zivilisation, die des kapitalistischen Systems, und die gesellschaftlichen Konflikte der Zukunft seien gewissermaßen Bürgerkriege ganz neuer Art. Im Schoße einer universalen Zivilisation werde es keine Kriege zwischen einzelnen Nationen oder Zivilisationen mehr geben, sondern vielmehr, bei ständig wachsender Ungleichheit, zunehmend gewalttätigere Konfrontationen zwischen Outsidern und Insidern, zwischen denen, die auf der Strecke bleiben, und denen, die sich zu „neuen Herren der Welt“ aufschwingen.

Jedes Fleckchen unserer Erde ist heutzutage ein Grenzgebiet. Niemand kann sich mehr in der Sicherheit einer stimmigen, geschlossenen Identität wiegen, niemand kann sich vor den anderen Kulturen schützen – ja, die „andere Kultur“, das sind, je nachdem, unsere eigenen Kinder oder die unserer Nachbarn. Diese gegenseitige Durchdringung kann mitunter schmerzhaft sein. Aber sie ist und bleibt notwendig und bereichernd. Und sei es nur, damit wir nicht in die verheerende Versuchung geraten, irgendeine ethnische, kulturelle oder religiöse Reinheit zu postulieren. Und auch, um zu verhindern, daß ein Westen, der sich in der Defensive wähnt, paranoische Allmachtsphantasien entwickelt.

Kann der Westen heute, fünfzig Jahre nach der Öffnung der Vernichtungslager, irgendeine moralische Überlegenheit für sich reklamieren?

1 Leiter des John-M.-Olin-Instituts für strategische Studien an der Harvard-Universität.

2 „The Clash of Civilization?“ in: Foreign Affairs, Band 72, Nr. 3, Sommer 1993.

3 Das Kolloquium „Clash and Dialoge among Cultures and Civilizations“ fand von 5. bis 7. Mai dieses Jahres statt. Organisiert haben es: das Institut pour les études transrégionales sur le Proche-Orient, l'Afrique du Nord et l'Asie centrale contemporaine (Direktor: Abdellah Hammoudi) und das Center of International Studies (Direktor: John Waterbury) der Princeton University, 218 Bendheim Hall, Princeton, NJO 8544, New Jersey, USA.

Le Monde diplomatique vom 16.06.1995, von Von IGNACIO RAMONET