16.06.1995

Palästinenser zwischen den Gräben Von WENDY KRISTIANASEN LEVITT

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Palästinenser zwischen den Gräben Von WENDY KRISTIANASEN LEVITT

Bei ihrem Treffen in Rabat am 28. Mai haben Jassir Arafat, der Vorsitzende der palästinensischen Autonomiebehörde, und Schimon Peres, der israelische Außenminister, ihren Willen bekräftigt, noch vor dem 1. Juli ein Abkommen zu schließen, in dem es insbesondere um den Abzug der israelischen Armee aus dem Westjordanland sowie um die Wahlen zum Rat einer palästinensischen „Selbstverwaltungskörperschaft“ gehen soll. Das widersprüchliche Verhalten der israelischen Regierung und die Fortsetzung der Besiedelung len eine ernsthafte Bedrohung des Nahost-Friedensprozesses dar und kommen nur den Extremisten aller Lager zustatten.

NACHDEM die palästinensische Autonomiebehörde im Mai 1994 die Verwaltung des Gaza-Streifens übernommen hatte, stand die islamistische Bewegung vor einer völlig ungewohnten Situation. Neue politische Köpfe tauchten jetzt in ihr auf, jünger, pragmatischer und nicht mehr so ideologiebesessen. Die scheinbare Irreversibilität des in Oslo geschlossenen Abkommens über eine palästinensische Teilautonomie1 veranlaßte die Bewegung des islamischen Widerstands (Hamas) und den Islamischen Dschihad, in der neu etablierten Ordnung einen Platz für sich zu fordern. Zahlreiche führende Vertreter der Hamas, der nach Arafats Fatah einflußreichsten palästinensischen Organisation, wollen nun auch an den Parlamentswahlen teilnehmen, um die Gewinne der letzten Jahre zu konsolidieren.2 Gleichzeitig aber bleiben Hamas und Dschihad Verfechter des bewaffneten Kampfs, der nach wie vor im Zentrum ihres Denkens steht und, wie sie meinen, den Kampf gegen die den Palästinensern in Oslo aufgezwungen Bedingungen vorantreiben soll.

Diese Entscheidung für die Waffen erschwert einen gemeinsamen Modus vivendi mit der palästinensischen Autonomiebehörde. Ein stillschweigendes Einverständnis, gegen Israel gerichtete Operationen keinesfalls von den autonomen Gebieten aus durchzuführen, erwies sich als brüchig. Nach einer Reihe von Kamikaze-Attentaten gegen Ziele, die hauptsächlich innerhalb des grünen Grenzstreifens lagen, der die Palästinenser vom israelischen Staat trennt, hat Israel seinen Druck auf Jassir Arafat verstärkt, damit dieser den Islamisten endlich Einhalt gebietet.

Die bewaffneten Aktionen der Islamisten begannen nach dem Massaker von Baruch Goldstein in Hebron am 25. Februar 1994, bei dem mindestens 35 Palästinenser ums Leben gekommen waren. Am 11. November 1994 wurden in Gaza drei israelische Soldaten ermordet, ein Racheakt für den – angeblich durch die Hand des israelischen Geheimdienstes begangenen – Mord an Hani Abed, einem Führer des Islamischen Dschihad. So kam es zur ersten schweren Krise zwischen der palästinensischen Autonomiebehörde und den Islamisten. Am 18. November schoß die palästinensische Polizei vor einer Moschee in die Menge und tötete dabei dreizehn Personen.

Im Frühjahr stand der Gaza-Streifen erneut am Rande eines Bürgerkriegs. Am 2. April zerstörte eine gewaltige Explosion ein Mietshaus im Scheich- Radouan-Viertel. Sieben Menschen starben, darunter Kamal Kaheil, einer der Führer der Ezz-edin-al-Kassam-Brigaden, des militärischen Flügels der Hamas. Kamal Kaheil wurde sowohl von der palästinensischen Autonomiebehörde (und zwar wegen Mordes an etwa zwanzig Kollaborateuren) als auch von den israelischen Behörden gesucht, die ihn beschuldigten, im Dezember 1993 Oberstleutnant Meir Minz ermordet zu haben. Minz war der ranghöchste Offizier, der während der Intifada ums Leben kam.

Die Autonomieregierung warf Hamas vor, sie habe ohne Rücksicht auf die Sicherheit der Anwohner mitten in einem der am dichtest bevölkerten Viertel von Gaza eine Bombenwerkstatt eingerichtet. Die Islamisten ihrerseits sprachen von einem Komplott „Arafats und der Zionisten“, das die Hamas zu diskreditieren und ihre Aktivisten zu eliminieren versuche; sie kündigten an, daß „die Ezz-edin-al-Kassam-Einheiten hart und rasch auf diese kriminelle Aktion antworten würden“3. Die palästinensische Autonomiebehörde trug nicht gerade dazu bei, die Wogen zu glätten: sie weigerte sich, den Familien die Leichname der Opfer zu überlassen; sie vermochte das Verschwinden von Nidal Dababich, einem Hauptzeugen und Hamas-Mitglied, nicht aufzuklären; und sie verhaftete Taher Nunuh, einen Journalisten, der für die Tageszeitung an-Nahar in der Angelegenheit recherchierte.

Die blutige Antwort kam tatsächlich rasch. Am 9. April schlugen im Abstand von nur zwei Stunden Selbstmörderkommandos der Hamas und des Dschihad in Gaza zu. Acht Menschen wurden getötet (sieben Soldaten und eine junge amerikanische Touristin), etwa vierzig Personen wurden verletzt. Der militärische Flügel des Dschihad nannte diesen Anschlag eine „heroische Selbstmörderoperation“ und sprach von einem „Geschenk für die Seelen der Märtyrer des kriminellen Massakers im Scheich- Radouan-Viertel“, während Hamas die Siedler aufforderte, Gaza zu verlassen, „ehe sie dort begraben würden“4.

Jassir Arafat reagierte umgehend auf diese Herausforderung Israels und der Autonomieregierung: zweihundert Islamisten wurden auf brutale Weise festgenommen; neun von ihnen, in Attentate verwickelt, wurden vor das neu geschaffene Sicherheitsgericht gestellt; alle radikalen Gruppierungen wurden ultimativ aufgefordert, ihre Waffen abzugeben. Doch nachdem sie kräftig auf den Tisch gehauen hatte, war die Autonomieregierung bereit, einige Konzessionen zu machen. Sie ließ die Hälfte der verhafteten Personen wieder frei und knüpfte mit den verschiedenen radikalen Gruppierungen Gespräche über die Waffenfrage an.

Die Krise ließ eine gewisse Uneinigkeit innerhalb der Hamas sichtbar werden. Die Büros in Amman und Damaskus und die Ezz-edin-al-Kassam-Brigaden veröffentlichten noch am Tag des Attentats im Scheich-Radouan-Viertel hetzerische Verlautbarungen. Nach den scharfen Maßnahmen, die die palästinensische Autonomiebehörde ergriffen hatte, warf das Büro der Hamas in Amman Arafat vor, er habe „die rote Linie überschritten“ und „spiele mit dem Feuer“. Die Drohung schien so ernst zu sein, daß Jassir Arafat bei den jordanischen Behörden darum nachsuchte, die Aktivitäten der Hamas im haschemitischen Königreich Jordanien einzudämmen.

Im Gaza-Streifen dagegen waren die Reaktionen der politischen Führer im allgemeinen viel moderater, und Hamas beschränkte sich nach dem Attentat vom 2. April darauf, die Bildung einer Untersuchungskommission zu beantragen. Die Autonomiebehörde versteht es übrigens, sich die Divergenzen in der Organisation zunutze zu machen: Nachdem die Verhandlungen der Fatah mit Mahmud Zahar, dem bekanntesten Sprecher der Hamas – und ihrem unnachgiebigsten Unterhändler –, gescheitert waren, gelang es Abdel Rahim Tayeb, dem Generalsekretär der Autonomiebehörde, das Gespräch mit anderen Führern fortzusetzen. Khaled al-Hindi und Imad Faludschi sind die bekanntesten unter den „Gemäßigten“ von Hamas, während Ahmad Bahar und Said Abu Mussaymah die Mitte repräsentieren.

Doch trotz der zahlreichen Kommunikationskanäle waren die Islamisten und Arafat im Laufe des Monats Mai nicht in der Lage, ihre Differenzen beizulegen. Am 14. und 15. Mai startete die Autonomieregierung wieder eine Offensive gegen Hamas: In fünf Moscheen wurden Razzien durchgeführt; etwa zwanzig Mitglieder der Hamas wurden festgenommen, darunter Mohamed Chamaa, einer der Gründer der Organisation, und Said Abu Mussaymah, der mit der Autonomieregierung verhandelte und zu zwei Jahren Gefängnis verurteilt worden ist; ihre Zeitung al-Watan wurde vorerst verboten.

Der Dschihad zögerte, sich wie alle übrigen palästinensischen Organisationen an den Verhandlungstisch zu setzen, und weigerte sich als einzige Organisation, den ersten Entwurf eines Vertrags zu unterzeichnen, der nach den Anschlägen vom 9. April ratifiziert wurde. Da der Dschihad für den ungleich schrecklicheren der beiden Anschläge verantwortlich war, für den, der acht Todesopfer forderte, zog er den Zorn von Arafat auf sich, der sich entschloß, ihm eine Lektion zu erteilen. Bereits am 10. April sprach das von der palästinensischen Autonomiebehörde geschaffene Sicherheitsgericht sein erstes Urteil: fünfzehn Jahre Haft für den Dschihad-Funktionär Samir Ali Jedi. Er war angeklagt, Jugendliche lebendig in abgedeckte Gräber gelegt zu haben, um so zu prüfen, ob sie für Selbstmordkommandos geeignet seien, eine Anschuldigung, die von seiner Familie zurückgewiesen wurde. Zwei weitere Beschuldigte wurden in den folgenden Tagen zu fünfundzwanzig und fünfzehn Jahren Haft verurteilt, nachdem ihnen in nächtlichen Sitzungen ebenfalls ein kurzer Prozeß gemacht worden war, an dessen Ergebnis nur noch Arafat etwas ändern könnte.

Die vermehrten Festnahmen durch israelische wie palästinensische Behörden haben den Dschihad stark erschüttert. Sein wichtigster Sprecher innerhalb des Landes, Scheich Abdallah al-Chami, war verhaftet worden, nachdem sich der Dschihad zu dem blutigen Attentat von Beit Lid bekannt hatte, bei dem am 22. Januar 1995 einundzwanzig Israelis starben. Die Organisation hatte also ein Interesse daran, sich mit Arafat zu verständigen, schon allein um ihre Mitglieder freizubekommen.

Das erste Entspannungszeichen wurde sichtbar, als einer der Hauptunterhändler des Dschihad, Ali Saftawi, am 18. April bekanntgab, daß seine Organisation ihre militärische Taktik überdenken werde, wenn die palästinensische Autonomiebehörde „garantiere, daß Israel keine feindseligen Handlungen auf palästinensischen Gebieten begehe“. Diese Erklärung öffnete den Weg zu Verhandlungen, die am 13. Mai zur Freilassung von Scheich al-Chami führten, der sich mit einer provisorischen Einstellung bewaffneter Aktionen einverstanden zeigte. „Der dschihad [der heilige Krieg]“, sagte er, „ist unsere offizielle Politik, [doch] wir können ihn eine Zeitlang ruhen lassen..., um die Interessen des palästinensischen Volks zu wahren.“5

Nafis Asam, ein anderer Führer des Dschihad, widersprach dieser sehr gemäßigten Proklamation und drohte damit, den bewaffneten Kampf auch dann fortzusetzen, wenn das Westjordanland unter der Kontrolle der Autonomieregierung stehen sollte. Diese internen Querelen veranlaßten Scheich al-Chami dazu, sich gegen den „Medienrummel“ um „angebliche Spaltungen und Divergenzen innerhalb der Bewegung“ zu wenden und seine Ablehnung des Osloer Abkommens zu bekräftigen. Er wies jedoch darauf hin, daß „die aus dem Osloer Abkommen hervorgegangene palästinensische Autonomiebehörde eine Realität geworden“ sei und daß sein Aufruf zum Dialog darauf ziele, „unserem Volk das schreckliche Schauspiel einer Teilung zu ersparen“.

Was tun in dieser neuen Lage? Politische Parteien gründen oder den dschihad fortsetzen? Um diese Frage hat sich in der Hamas und im Dschihad eine lebhafte Debatte entsponnen, in der die „Tauben“ und „Falken“ beider Organisationen aufeinanderprallen. Die „Falken“, zu denen natürlich vor allem die Angehörigen des militärischen Flügels zählen, finden Anklang bei Jugendlichen, die durch die Schule der bewaffneten Aktionen während der Intifada gegangen sind, sowie bei einem Teil der Diaspora-Palästinenser, die die Erfahrung der Besatzung nicht gemacht haben, keine materiellen Interessen in den besetzten Gebieten haben und immer noch an die Rückeroberung ganz Palästinas glauben. Zu ihren Galionsfiguren zählen Abdelasis Rantissi, ehemaliger Sprecher der 415 Islamisten, die im Dezember 1992 in den Libanon deportiert worden waren, der jetzt in Israel im Gefängnis sitzt, sowie Ibrahim Ghosheh, der in Jordanien lebende Hamassprecher.

Die Verfolgung schon bald erreichbarer Ziele im Westjordanland und in Gaza – zuungunsten der längerfristigen Ziele, die das ganze frühere Mandatsgebiet Palästina6 betreffen – kennzeichnet die „Tauben“. Diese Generation von Männern zwischen dreißig und vierzig war aktiv an der Intifada beteiligt und hat sich im Gefängnis die Zellen mit Kämpfern der Fatah geteilt. Sie will die politischen Gewinne der Hamas nicht verspielen und versucht, die Institutionen, die die Organisation geschaffen hat (eine islamische Universität, soziale und wohltätige Einrichtungen usw.) zu bewahren und auszubauen. Diese „Gemäßigten“ treffen Vorkehrungen, um auf einer demokratischen Grundlage die Macht mit anderen zu teilen. Hinter den Kulissen haben sie einen Dialog mit der Fatah begonnen, um in den Bereichen Gesundheit, Erziehung und Sicherheit zusammenzuarbeiten.

Sie sehen im Gründer ihrer Bewegung, dem inhaftierten Scheich Ahmed Jassin, nur ein Symbol und stimmen mit ihm, auch wenn er als Pragmatiker gilt, keineswegs in allen Punkten überein. Vor allem sind sie mit ihm in der Frage uneins, ob es angeraten ist, schnell eine politische Partei zu gründen. Der Scheich sprach sich im Februar 1995 dagegen aus: „Dies ist nicht der richtige Moment. Dies ist die Stunde des dschihad gegen den Feind, und erst wenn wir einen unabhängigen Staat haben, erst wenn wir Sicherheit und Stabilität haben, können wir daran denken, eine Partei zu bilden und unsere Kraft der Politik zu widmen.“7

Viele Hamas-Funktionäre im Gaza- Streifen lehnen diesen Standpunkt ab. Sie sind überzeugt davon, daß die Bildung einer Partei es ihnen erlauben würde, ihre Organisation weiteren Kreisen zu öffnen, und dies wiederum würde ihre politische Rolle stärken. Überdies trüge eine Parteigründung dazu bei, der Organisation ihr „Terroristen“-Image zu nehmen. Als einen ersten Schritt in die Richtung einer größeren Öffnung wünschen sich die Gemäßigten, daß die fünfundzwanzig Seiten lange Charta, auf die man sich im August 1988 geeinigt hat, um einen Text ergänzt wird, der die Strategie und das Programm der Organisation genauer festlegt. Des weiteren meinen sie, daß es seit dem Ende der Intifada und der Unterzeichnung des Osloer Abkommens nicht mehr nötig sei, die Trennung von den Muslimbrüdern8 aufrechtzuerhalten, und daß man – trotz des wertvollen Markenzeichens Hamas und obwohl viele ihrer Mitglieder nicht den Muslimbrüdern angehören – eine Vereinigung anstreben sollte.

Die Führer der Hamas im Westjordanland sind zurückhaltender, beginnen aber, sich dem pragmatischen Flügel anzuschließen. Ihre Position wurde gestärkt, als sich Scheich Hamid Bitawi aus Nablus, der wichtigste geistliche Führer der Organisation nach Scheich Ahmad Jassin, entschied, das Amt eines beigeordneten Oberrichters an den Scharia-Gerichten anzutreten, die jetzt unter der Aufsicht der palästinensischen Autonomiebehörde stehen.9 Andere einflußreiche Islamisten, wie Scheich Said Bilal aus Nablus und Scheich Taysir Bayud aus Hebron haben Posten im Ministerium für Erbrechtsfragen und religiöse Angelegenheiten.

Bei den jungen Funktionären des Gaza-Streifens, die sich in der Alltagspolitik engagieren, finden die Verlautbarungen von Scheich Ahmad Jassin nur wenig Anklang. Einige meinen gar, daß er nur noch eine symbolische Rolle spielen wird, wenn er aus dem Gefängnis kommt. Dennoch könnte seine Position der Mitte der Bewegung helfen, einen Konsens zu finden. Immerhin hat er die pragmatische Entwicklung der Hamas befördert, besonders durch seine Erklärungen vor zwei Jahren, in denen er die Möglichkeit der Teilnahme an Wahlen einräumte.

Im Februar 1995 hat er erneut davon gesprochen, daß ein zehnjähriger Waffenstillstand mit Israel denkbar wäre, wenn dieses sich aus jenen Gebieten zurückzöge, die es 1967 besetzt hat; nachdem sich die Lage wieder verschlechtert hat, hat er dieses Angebot zurückgezogen: „Was man uns heute vorschlägt, hat nichts mit einem Friedensvertrag oder einer Waffenruhe zu tun. Man will, daß wir die widerrechtlichen Gebietsaneignungen des Feinds Palästinas für legitim erklären.“ Bleibt also nur der dschihad als einziger Weg.

Für die Pragmatiker von Hamas ist die Einstellung bewaffneter Aktionen an zwei Bedingungen geknüpft: Israel muß sich aus dem ganzen Gaza-Streifen, dem Westjordanland und Ost-Jerusalem zurückziehen und seine Siedlungen aufgeben. Was das begrenztere, aber dringlichere Problem militärischer Operationen anbetrifft, die von Gaza aus geführt werden, so versichern sie, daß diese aufhören werden, sobald der jüdische Staat dort seine Siedlungen räume – Israel hält immer noch 40 Prozent des Streifens besetzt.

Seit Jassir Arafat wieder auf heimatlichem Boden weilt und hier die Autonomieregierung führt, hat sich die Lage für Hamas stark verändert: Nach einer Periode, in der im Ausland, vor allem in Jordanien lebende Funktionäre die Szene beherrschten, hat sich der Schwerpunkt der Bewegung wieder nach Gaza verlagert – gewissermaßen eine Rückkehr zum Ursprung.

Bedenkt man, wie geheimnisumwittert die Organisation bisher war, muß einen die neue Öffnung überraschen, die man in Gaza seit dem Ende der Besatzung beobachten kann. Die Islamisten haben den Untergrund verlassen und besitzen jetzt ihre offiziellen Presseorgane: Hamas hat die Zeitung al-Watan, der Dschihad hat al-Istiklal, während Falastin, ein drittes, unabhängiges Blatt, das ihren Standpunkten aber freundlich gesonnen war, wieder vom Markt verschwunden ist. Das unberechenbare Verhalten der sultah (der Macht), d.h. der palästinensischen Autonomiebehörde, hat diese ungewöhnliche Freiheit allerdings wieder beschränkt. Am 8. Februar 1995 hat die Polizei in den Räumen von al-Istiklal eine Haussuchung durchgeführt und danach den Chefredakteur, Ali Saftawi, dreiundzwanzig Tage unter Arrest gestellt.

Breite Unterstützung für Arafat

DIE Kriegsmüdigkeit der Palästinenser in den besetzten Gebieten, die endlich Frieden wollen, hat die Hamas dazu bewegt, sich auf die Rolle einer parlamentarischen Opposition vorzubereiten. Längst sind die schwerwiegenden Mängel der Autonomieregierung für alle deutlich geworden, und überall macht sich Verzweiflung breit, zumal die Friedensgespräche so schleppend verlaufen, daß ein Frieden für die Bewohner in weite Ferne gerückt scheint. Auch die offenkundige Unzuverlässigkeit der israelischen Regierung trägt weiter zur Beunruhigung bei. All dies jedoch bewirkt keine grundlegenden Erschütterungen. Immer noch hat Jassir Arafat die Mehrheit der in der Heimat lebenden Palästinenser hinter sich. Die jüngste Meinungsumfrage des Palästinensischen Forschungszentrums von Nablus ergab, daß 49,4 Prozent der palästinensischen Bewohner (der höchste Prozentsatz seit der Unterzeichnung des Osloer Abkommens) für die Fatah waren, 12,4 Prozent für Hamas und 2,1 Prozent für den Islamischen Dschihad, während 13 Prozent erklärten, daß sie unentschieden seien. Kaum unterstützt wurden die verschiedenen laizistischen Oppositionsgruppen, mit Ausnahme der Volksfront für die Befreiung Palästinas (PFLP) von George Habasch, die auf 3,6 Prozent kam.10

Auch in ihrer Strategie des dschihad müssen die Islamisten Rücksicht auf die öffentliche Meinung nehmen.11 Mehr und mehr gehen sie dazu über, jede einzelne der bewaffneten Aktionen, die sie durchführen, durch einzelne vorausgegangene israelische Gewalttaten zu rechtfertigen – vom Massaker von Hebron bis zur Ermordung der Aktivisten. Doch die fortdauernden Landenteignungen, die ständige Anwesenheit von Siedlern in den autonomen Gebieten und eine Wirtschaft, die durch diverse Gängelungen stark angeschlagen ist, haben dazu beigetragen, den Feind zu „entmenschlichen“. Unter den jungen Leuten existiert eine hohe Bereitschaft, Aktionen durchzuführen, bei denen sie selber ihr Leben aufs Spiel setzen, sich in „lebende Bomben“ verwandeln.

In diesem Bereich koordinieren Hamas und Islamischer Dschihad mittlerweile ihre Anstrengungen. Überhaupt ist der Graben zwischen den Programmen beider Organisationen so schmal geworden, daß es bisweilen schwerfällt, ihn wahrzunehmen. Die Auseinandersetzungen erinnern oft an Familienstreitereien: Die Gründer des Dschihad, Fathi Chkaki und Abdelasis Udah, spalteten sich in den siebziger Jahren von den Muslimbrüdern ab, um ihre Bewegung ins Leben zu rufen.

Der Dschihad kritisiert die Beziehungen zwischen der Hamas und den Muslimbrüdern in Ägypten und Jordanien, während ihm Hamas umgekehrt seine Kontakte zu Iran und Syrien vorwirft. Der Dschihad ist an einer Vereinigung der beiden Organisationen nicht interessiert. Er befürchtet, dabei werde er nur Anhänger verlieren, zumal er ohnehin die kleinere der Organisationen ist. Er befürwortet deshalb vielmehr die Bildung einer breiten Einheitsfront, die „allen Gläubigen“ offenstehen soll. Sie könnte an die Stelle der in Damaskus gegründeten sogenannten „Front der zehn“ treten, die sich den Madrider Verhandlungen im Herbst 1991 widersetzte und sich inzwischen als unbrauchbar erwiesen hat.

Die wichtigste Meinungsverschiedenheit betrifft mögliche Wahlen, denn der Dschihad will unter keinen Umständen an ihnen teilnehmen, da sie nur das Osloer Abkommen legitimieren würden. Trotzdem versucht er seinen politischen Flügel zu stärken: Die Unfähigkeit, strikt zwischen politischer und militärischer Führung zu unterscheiden, hat der Organisation schon einmal geschadet; in den ersten Monaten der Intifada hatte sie besonders stark unter Repressionen und Deportationen zu leiden. Eine Minderheit von gemäßigten Dschihad-Funktionären ist daher für die sofortige Gründung einer Partei (deren Statuten bereits ausgearbeitet sein sollen), um eine Konfrontation mit der palästinensischen Autonomiebehörde zu vermeiden.

Wie die übrigen politischen Kräfte sind auch die Islamisten jeglicher Couleur in die Kämpfe um die Macht in Gaza verwickelt. Angesichts der beunruhigenden Konkurrenz der Hamas, seines Hauptgegners, hat Arafat Mitte Mai eine Offensive gegen die gemäßigten Elemente der Organisation gestartet, also gerade gegen diejenigen, die zu Verhandlungen bereit gewesen waren. Doch eine Unterdrückung dieser neuen Generation islamistischer Aktivisten, die in der kommenden Etappe der palästinensischen Geschichte eine Rolle zu spielen bereit war, würde die Zukunft der Demokratie in Gaza schwer belasten und die Stabilität gefährden. Wenn die rote Linie einmal überschritten ist und Hamas die Kontrolle über ihren bewaffneten Flügel verliert, wird niemand mehr die Eskalation der Gewalt aufhalten können.

Journalistin, London

Le Monde diplomatique vom 16.06.1995, von Wendy Kristianasen Levitt