14.01.2000

Nun müssen die Parlamente handeln

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Nun müssen die Parlamente handeln

Von RICCARDO PETRELLA *

NACH dem Erfolg von Seattle steht als nächste Aufgabe an, eine andere Zukunft aufzubauen. Die Niederlage der Globalisierer von Markt und Kapital, die sich noch lange nicht geschlagen geben werden, macht es dringend erforderlich, an Regeln und Institutionen für eine politische Steuerung der Weltwirtschaft zu arbeiten. Vordringlich ist dabei der Aufbau einer weltweiten Demokratie samt deren organisatorischen Strukturen und Instrumenten. Dazu müssen zunächst differenzierte und vielfältige Formen “lokaler“ Demokratie auf kommunaler, nationaler und multinationaler Ebene entwickelt werden. Des Weiteren ist eine soziale Entwicklung anzustreben, die jedem Menschen alle existentiellen - individuellen wie kollektiven - Rechte gewährleistet. Die Durchsetzung des Rechtsanspruchs jedes Menschen auf Trinkwasser bis zum Jahr 2020 könnte ein Test darauf sein, ob die auf allen internationalen Foren immer wieder proklamierten Prinzipien auch tatsächlich umgesetzt werden.

Während der vergangenen zehn Jahre haben tausende Bürgervereinigungen, Nichtregierungsorganisationen (NGOs) und Initiativen dazu beigetragen, eine Art Weltgewissen zu begründen und zu festigen, eine soziale Nachfrage nach einem neuen weltpolitischen Angebot zu erzeugen. Diese Organisationen demonstrieren auf lebendige Weise die Vielfalt und die kreative Phantasie im Widerstand und in den Kämpfen von Bevölkerungsgruppen, die zwar leiden, aber nie aufgehört haben zu träumen. Die leben und eine bessere Welt aufbauen wollen, in der Platz für alle Menschen ist, eine Welt jenseits der zynischen Realpolitik der Reichen und Mächtigen. Das Multilaterale Abkommen über Investitionen im Oktober 1998 wie die Millenniums-Runde der Welthandelsorganisation im Dezember 1999 mussten letzten Endes scheitern, weil eine ebenfalls globalisierte Weltöffentlichkeit ausreichend Druck ausgeübt hat. Doch Zivilgesellschaft ist das eine, Politik das andere. Jetzt ist es Sache der Volksvertreter, den Stafettenstab zu übernehmen und den Vorrang demokratischer Prinzipien gegenüber der herrschenden Logik von Handel, Finanz und Technokratie durchzusetzen. Es ist an ihnen, das Regierungsinstrumentarium für die Weltgesellschaft von morgen zu erfinden und anzuwenden.

Dabei muss verhindert werden, dass ein „Comeback der Parlamente“ in eine Sackgasse führt. Dies würde dann passieren, wenn es zu einem aus Abgeordneten der nationalen Parlamente zusammengesetzten WTO-Parlament kommen sollte. Dieser Repräsentationsmodus hatte bis zu den ersten Europawahlen 1979 für das Europaparlament gegolten. Und er gilt bis heute für die parlamentarische Versammlung des Europarats, die von den Volksvertretern der 40 Mitgliedstaaten gewählt wird. Ganz unabhängig von den Qualitäten ihrer jeweiligen Mitglieder besitzt diese Versammlung, deren Existenz kaum bekannt ist, nicht den geringsten Einfluss in der Öffentlichkeit. Gewiss, sie hat wie das Europaparlament vor 1979 nur beratende Funktion. Doch genau diesen Status, der eng mit einem zweistufigen Wahlmodus verknüpft ist, haben gewisse Kreise für eine künftige parlamentarische Versammlung der WTO im Auge. Damit wären aber Entscheidungen mit dem Deckmantel demokratischer Legitimität umgeben, ohne von den Abgeordneten beeinflusst zu werden - und die Öffentlichkeit würde den letzten Rest an Vertrauen in die politischen Repräsentationsorgane verlieren.

Eine echtes „Comeback der Parlamente“ würde voraussetzen, dass die Abgeordneten an der Ausarbeitung und Verabschiedung der neuen Richtlinien für unseren Planeten direkt beteiligt sind. Langfristig könnte diese Mitwirkung vielfältige institutionelle Formen annehmen, die man sich noch ausdenken muss. Fürs erste sollten wir interparlamentarische Arbeitsgruppen zu Themen wie Handel, geistiges Eigentum, Forstwirtschaft, Wasserversorgung, Ausbeutung von Kindern, Gesundheit usw. bilden. Diese Schritte sollten, damit sie umfassend legitimiert sind, von einer Weltversammlung der Parlamente angestoßen und organisiert werden. Eine solche Versammlung müsste von den nationalen Parlamenten einberufen werden, möglichst mit Zustimmung ihrer Regierungen, notfalls aber auch ohne sie. Leider gibt es noch kaum Erfahrungen auf diesem Gebiet, denn die internationale Demokratie als politische Praxis steckt noch in den Kinderschuhen, mit der bemerkenswerten Ausnahme der Europäische Union. Doch wir müssen uns beeilen. Wenn wir keine raschen Fortschritte erzielen, werden die wichtigen Entscheidungen weiterhin von den Sachverständigen und Kapitaleignern getroffen und nicht von uns.

dt. Bodo Schulze

* Professor an der Katholischen Universität von Louvain (Belgien).

Le Monde diplomatique vom 14.01.2000, von RICCARDO PETRELLA