14.01.2000

Morgenröte

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Morgenröte

Von IGNACIO RAMONET

- Wie nennt man das, wenn der Tag aufgeht wie heute und alles verdorben und vernichtet ist und überall der Himmel hereinschaut? - Das heißt Morgenröte. (Jean Giraudoux, Elektra, 1937)

JUST als das Jahrhundert verlosch, erhob sich über Seattle ein Hoffnungsschimmer. Bürger aus aller Welt, die man allzu lange mundtot gemacht oder vor vollendete Tatsachen gestellt hatte, riefen lautstark: „Wir wollen nicht mehr!“ Wir wollen nicht mehr die Globalisierung als Schicksal hinnehmen. Wir wollen nicht mehr tatenlos zusehen, wie der Markt anstelle der Volksvertreter alles entscheidet und wie die Welt sich zunehmend in eine Ware verwandelt. Wir wollen weder Passivität noch Resignation, noch Unterwürfigkeit. Der große Sieg über die Welthandelsorganisation (WTO) verdankt sich weitgehend den Bürgervereinigungen, Nichtregierungsorganisationen (NGOs), Gewerkschaften und Initiativen aus zahlreichen Ländern, die als Keimform einer internationalen Zivilgesellschaft anzusehen sind.

Im Zuge der Globalisierung - und unterstützt durch die Nachlässigkeit der politisch Verantwortlichen - entstand in den letzten zehn Jahren klammheimlich eine Art planetarer Exekutive, eine Weltregierung, bestehend aus vier Hauptakteuren: IWF (Internationaler Währungsfonds) , WTO (Welthandelsorganisation), Weltbank und OECD (Organisation für Wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung). Diese informelle Machtinstanz, die von der demokratischen Debatte ebenso wenig Notiz nimmt wie sie sich allgemeinen Wahlen unterwirft, steuert de facto die Geschicke der Erde und entscheidet über das Los ihrer Bewohner. Und keine Gegenmacht schreitet ein, ihre Entscheidungen zu korrigieren, zu ändern oder abzulehnen. Denn die traditionellen Gegeninstanzen - Parlamente, Parteien und Medien - sind entweder nur lokal zuständig oder mit dem Geschehen stillschweigend einverstanden. So entstand das Bedürfnis nach einer anderen, weltweiten Gegenmacht.

Die Demonstranten von Seattle haben in der Tradition der internationalen Protestbewegung begonnen, diese Gegenmacht aufzubauen. Sie haben in gewisser Weise den Grundstein für eine neue Weltinstitution der repräsentativen Demokratie gelegt. Denn Seattle war in der Tat ein Wendepunkt. Das Verlangen nach Gerechtigkeit und Gleichheit, das die Geschichte der Menschheit untergründig durchzieht, trat hier erneut zu Tage. Angesichts der Verwüstungen durch die Globalisierung fordern die Bürger heute eine neue Generation von Rechten, nämlich kollektive Rechte: das Recht auf Frieden, das Recht auf eine intakte Natur, das Recht auf eine lebenswerte Stadt, das Recht auf Information, das Recht auf Kindheit, das Recht auf Entwicklung im Rahmen gegebener Gemeinschaften.

Undenkbar ist fortan, dass die entstehende internationale Zivilgesellschaft zu den großen internationalen Verhandlungen über Fragen der Umwelt, der Gesundheit, der Vorherrschaft der Finanzmärkte, der humanitären Aktion, der kulturellen Vielfalt oder der Genmanipulation künftig nicht hinzugezogen wird. Denn heute ist es an der Zeit, eine andere Zukunft aufzubauen. Wir werden uns mit dieser Welt nicht mehr abfinden, in der eine Milliarde Menschen in Wohlstand leben, eine weitere Milliarde im schrecklichsten Elend, und vier Milliarden am absoluten Existenzminimum. Es ist an der Zeit zu erkennen, dass die Erde auch anders aussehen könnte. Dass eine andere, solidarischere Wirtschaftsordnung möglich ist, die auf dem Prinzip der nachhaltigen Entwicklung beruht und den Menschen in den Mittelpunkt rückt. Als erster Schritt wäre die Finanzmacht zu entwaffnen. Sie hat sich im Laufe der letzten zwanzig Jahre ein Stück nach dem anderen aus dem Zuständigkeitsbereich der Politik herausgepickt, so dass die Reichweite der Demokratie in besorgniserregendem Maße schrumpfte. Die Machtbeschneidung der Finanzsphäre erfordert eine spürbare Besteuerung der Kapitaleinkünfte, insbesondere der spekulativen Transaktionen auf den Devisenmärkten (Tobin-Steuer). Sodann müsste man die Steueroasen boykottieren und abschaffen, die mit ihrem Bankgeheimnis dazu dienen, Bestechungsgelder und andere Finanzverbrechen zu kaschieren.

DARÜBER hinaus wäre über eine neue Arbeits- und Einkommensverteilung nachzudenken, eine plurale Ökonomie, in der der Markt nur einen Teil des Wirtschaftskreislaufs okkupiert und ansonsten einem solidarwirtschaftlichen Sektor und einem wachsenden Bereich der freien Zeitverfügung Platz macht.

Wir brauchen ein bedingungsloses Grundeinkommen, das jedem Menschen bei seiner Geburt zuerkannt wird - ohne Ansehung seines Zivilstands oder seiner beruflichen Stellung. Das Prinzip dieser revolutionären Maßnahme besteht darin, dass man das Grundeinkommen erhält, weil man existiert - nicht um zu existieren. Dem liegt die Überlegung zugrunde, dass die produktive Kapazität einer Gesellschaft aus dem angehäuften wissenschaftlichen und technischen Wissen aller vorangegangenen Generationen resultiert und die Früchte dieses Erbes deshalb bedingungslos allen Menschen gleichermaßen zugute kommen müssen. Und da bereits eine angemessene Verteilung des derzeitigen Weltsozialprodukts ausreichen würde, um jedem Bewohner dieses Planeten ein annehmliches Auskommen zu sichern, ließe sich dieses Grundeinkommen auf die gesamte Menschheit ausweiten.

In diesem Zusammenhang ist den armen Ländern des Südens ein gebührender Platz einzuräumen. Mit den Strukturanpassungsplänen muss Schluss sein. Ein Großteil der öffentlichen Schulden gehört annulliert. Die Entwicklungshilfe muss erhöht werden, auch wenn der Süden einen anderen Weg einschlägt als der Norden, dessen Modell ökologisch nicht tragbar ist. Wir müssen autozentrierte Entwicklungsstrategien fördern, gerechten Handel unterstützen und massiv in Schulen, Wohnungen und Gesundheitseinrichtungen investieren. Wir müssen unsere Einfuhr vor allem in den nördlichen Ländern an die Einhaltung von Sozial- und Umweltklauseln binden, um den Beschäftigten im Süden anständige Arbeitsbedingungen zu garantieren und die Umwelt zu schützen. Weiterer Handlungsbedarf besteht mit Blick auf die weltweite Emanzipation der Frau und die Durchsetzung des Vorsorgeprinzips gegen jedwede Genmanipulation. Mag sein, dass dies nur Utopien waren, für das beginnende Jahrhundert sind es konkrete politische Ziele. Wie heißt doch gleich dieser Augenblick, wenn überall der Himmel hereinschaut?

Le Monde diplomatique vom 14.01.2000, von IGNACIO RAMONET