11.02.2000

Die Avantgarde der Arbeiterklasse

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Die Avantgarde der Arbeiterklasse

EBENSO wie der Marktsozialismus Deng Xiaopings das Ziel verfolgte, wirtschaftliche Reformen ohne einen Machtverlust der Kommunistischen Partei Chinas voranzutreiben, sollte auch die im Jahre 1986 beschlossene vietnamesische Liberalisierungspolitik das Regime auf keinen Fall gefährden. Das Hauptziel war der Machterhalt, der auch um den Preis offensichtlicher - wiewohl uneingestandener - ideologischer Umdeutungen betrieben wurde. In einem Land, das über keinerlei demokratische Tradition verfügt, erhofft sich das Volk heute Wohlstand und Wachstum von seinen Regierenden, so wie es nach dem Zweiten Weltkrieg mit der Unabhängigkeit gerechnet hatte.

In der „Sozialistischen Republik“ Vietnam spielt die Kommunistische Partei (KPV) eine wichtige Rolle. Laut Artikel 4 der Verfassung von 1992 „ist die Kommunistische Partei Vietnams - die Avantgarde der Arbeiterklasse, getreuer Repräsentant der Arbeiterklasse, des arbeitenden Volkes und der ganzen Nation, erleuchtet durch die marxistisch-leninistische Lehre und das Denken Ho Chi Minhs - die führende Macht in Staat und Gesellschaft“.

Zwischen Partei und Volk vermittelt die Patriotische Front, eine Massenorganisation, die neben der KPV Organisationen wie den Frauenverband, Gewerkschaften und verschiedene Glaubensgemeinschaften unter einem Dach vereinigt. Eine wichtige Rolle spielt die Patriotische Front bei den Wahlen zur Nationalversammlung, weil sie der Nominierung der Kandidaten zustimmen muss, von denen allerdings einige von vornherein durch Partei und Regierung ernannt werden. So standen etwa bei den Wahlen vom Juli 1997 141 zentral berufene Kandidaten 525 regional nominierten gegenüber.

1997 wurde auch erstmals eine gewisse Wahlfreiheit eingeführt: Zum einen standen mehr Kandidaten zur Wahl (666), als Sitze zu vergeben waren, zum anderen wurde eine kleine Anzahl „autonom ernannter“ Kandidaten zugelassen, die ihre Kandidatur bei der Patriotischen Front nicht über eine der einschlägigen Organisationen hinterlegt hatten (drei von elf zur Wahl Stehenden wurden ins Parlament gewählt). Das heißt also, dass nicht notwendigerweise alle offiziellen Kandidaten der Nationalversammlung Mitglieder der Partei sein müssen.

Die KPV, die über sämtliche Schlüsselpositionen in Politik, Verwaltung und öffentlichem Sektor verfügt, zählt gerade einmal 2 Millionen Mitglieder (bei knapp 80 Millionen Einwohnern). Ganz besonders schwach ist ihre Verankerung im Süden des Landes, wo nur 1 Prozent der Bevölkerung, im Vergleich zu immerhin 9 im Norden, Parteimitglied ist.

Eine nicht zu unterschätzende Kraft stellt nach wie vor die Armee dar, die knapp eine halbe Million Angehörige umfasst. Auch sie wird von der Partei kontrolliert.

Dass die Partei uneingeschränkt über das politische Leben herrscht, belegt das Schicksal der wenigen Oppositionellen. Trotz zaghafter Fortschritte auf dem Gebiet der individuellen Freiheiten ist es um die Meinungsfreiheit schlecht bestellt. Artikel 69 und 70 der Verfassung verweisen auf den Unterschied zwischen der als absolut gesetzten Glaubens- und Religionsfreiheit und der Meinungs-, Informations- und Versammlungsfreiheit, die das Gesetz einschränkt.

Jeder, dessen schriftliche oder sonstigen Äußerungen Missfallen erregen, sieht sich schonungslosen Repressalien ausgesetzt. Erinnert sei hier etwa an den Schriftsteller Duong Thu Huong, der 1990 aus der Kommunistischen Partei ausgeschlossen worden war und für viele Jahre Schreibverbot hatte, oder an die Inhaftierung des buddhistischen Führers Thich Quang Do im Jahre 1994, der erst Ende 1998 wieder auf freien Fuß gesetzt wurde.M. H.

Le Monde diplomatique vom 11.02.2000, von M. H.