Warum der Zwerg den Riesen schluckt
Von IBRAHIM WARDE *
DER am 10. Januar 2000 angekündigte Zusammenschluss von America Online (AOL) und Time Warner gilt als größte Unternehmensfusion aller Zeiten. Sie markiert den Beginn einer neuen Ära im Verhältnis zwischen traditioneller Wirtschaft und New Economy, zwischen virtueller Ökonomie und Realwirtschaft. Einer Ära, in der sich die Beziehungen zwischen Telekommunikation, Medien und Internet nachhaltig verändern werden.
Ungeachtet der offiziellen Sprachregelung – laut Pressemitteilung handelt es sich um eine „Fusion gleichberechtigter Partner“ – ist davon auszugehen, dass Time Warner von AOL schlicht geschluckt wurde. Dabei macht Time Warner fünfmal so viel Umsatz wie der Internet-Provider AOL (26,6 Milliarden gegenüber 5,2 Milliarden Dollar), erwirtschaftet zweieinhalbmal so viel Gewinn (1,2 Milliarden gegenüber 0,5 Milliarden Dollar) und beschäftigt sage und schreibe sechsmal so viele Mitarbeiter (70 000 gegenüber 12 100).
Warum lässt sich ein Riese von einem Zwerg vereinnahmen? Weil bei derartigen Transaktionen allein die Börsenkapitalisierung zählt. America Online brachte unmittelbar vor der Fusion 143 Milliarden Dollar, Time Warner hingegen nur 111 Milliarden auf die Waage.
Das neue Unternehmen wird dieses Kräfteverhältnis widerspiegeln: Die Firmenbezeichnung wird AOL-Time Warner lauten, die Aktionäre von AOL werden mit 55 Prozent die Aktienmehrheit halten, an der Börse wird das Unternehmen „AOL“ heißen, der 42-jährige AOL-Chef Steve Case wird Präsident des neuen Unternehmens sein, während sich der derzeitige Kopf von Time Warner, der 60-jährige Gerald Levin, mit dem Posten des Generaldirektors wird begnügen müssen.
Der Kontrast zwischen den beiden Fusionisten könnte nicht größer sein. AOL ist ein blutjunges Unternehmen, dessen Karriere durch kurzfristige Planungen, spektakuläre Krisen und ebenso Aufsehen erregende Neuanfänge geprägt war (siehe den Beitrag von Dan Schiller). Noch vor zwei Jahren hätte der mediale Tausendsassa Time Warner gewiss das Potential gehabt, sich AOL als Trophäe an die Wand zu nageln. Im Dezember 1999 wollte es der Mediengigant dem Konkurrenzunternehmen Disney gleichtun, das einen Anteil am Internet-Portal Infoseek erworben hatte, und reservierte eine halbe Milliarde Dollar für Investitionen im Internet-Bereich. Doch da hatte das Prunkstück der traditionellen Medien die Rechnung ohne die Finanzblase und die neuen Spekulationssitten gemacht. Und plötzlich wurde der Jäger zum Gejagten.
Denn mit dem Börsengang von Netscape hatte sich eine veritable Revolution in der Bewertung börsennotierter Unternehmen vollzogen. Bis dahin galt als ehernes Gesetz, dass jedes Unternehmen vor dem Börsengang seine Marktresistenz zu erweisen hat. Wer nicht in vier Quartalen hintereinander anständige Gewinne verbuchte, brauchte gar nicht erst anzutreten.
Netscape-Gründer Jim Clark aber hatte es eilig, weil er ein aufwendiges Projekt, die größte vollständig computerisierte Jacht der Welt, zu finanzieren hatte. Und so ging er das Publikum um Geld an, obwohl sein Unternehmen gerade ein Jahr alt war und Verluste einfuhr. Die Frechheit machte sich bezahlt. Noch am Tag des Börsengangs schnellte die Aktie von 6 auf 24 Dollar hoch, und schon wenige Monate später – das Unternehmen schrieb noch immer rote Zahlen – pendelte der Kurs bei 140 Dollar.
In einer Biographie über Jim Clark (Titel: „The New New Thing“) beschreibt der Journalist Michael Lewis die verzweifelte Suche nach dem „allerneuesten Dreh“, der den Globus verändern soll. Während die Finanzmagnate unserer Welt die Staaten und ihre Bürger zu strengen Sparmaßnahmen anhalten, richten sich die begehrlichen Blicke der Anleger paradoxerweise nicht mehr auf Unternehmen, die stabile Gewinne ausweisen, sondern auf jene, die „auf eine Geschäftsidee setzen“. Ihre Botschaft an die Märkte lautet: „Die Zukunft wird völlig anders aussehen als die Welt von heute. Ihr könnt unseren Wert also nicht nach unserer heutigen Verfassung beurteilen. Schließt lieber die Augen und stellt euch eine neue Welt vor.“ In der Neuen Ökonomie „ist Skepsis kein Zeichen von Intelligenz, sondern eine Sünde“.
Hellsichtig oder einfach nur leichtgläubig treiben die Anleger die Kurse der virtuellen Unternehmen in Schwindel erregende Höhen. Amazon.com beispielsweise wird derzeit höher bewertet als sämtliche amerikanischen Buchhandelsketten zusammen. Der Anbieter preiswerter Flugtickets Priceline.com brachte es noch am Tag des Börsengangs auf 11,7 Milliarden Dollar und wog damit schwerer als jede Fluggesellschaft.
Kaum sind sie gegründet, sehen sich die jungen Unternehmen in der Lage, sich etablierte und rentable Firmen einzuverleiben, für die der Markt das Interesse verloren hat.
Die Börse koppelt sich von der Realwirtschaft ab
EIN weiteres Phänomen sorgt für zusätzliche Marktverzerrungen: In vielen Bereichen der globalen Wirtschaft herrscht neuerdings die Devise „Alles für den Gewinner“ (winner-take-all). Das alte Prinzip, dass die Flut alle Schiffe hebt, hat seine Gültigkeit verloren. Ambitionen zum Superstar haben viele, doch die meisten Aspiranten bleiben auf der Strecke.
Der phänomenale Anstieg der amerikanischen Börsen-Indizes verdeckt gravierende Unterschiede in der Kursentwicklung. Die meisten börsennotierten Unternehmen mussten 1999 Kurseinbußen hinnehmen. Zwar legte der Nasdaq, der Aktienindex für technologische Werte, binnen eines Jahres um 85 Prozent zu, doch über 65 Prozent der Titel verbuchten im selben Zeitraum Kursrückgänge um 30 Prozent und mehr. Der Grund dafür liegt auf der Hand: Die Aktien-Indizes – angeblich ein getreuer Spiegel der allgemeinen Marktentwicklung – fungieren auch und vor allem als Schaufenster, in dem die aktuellen Favoriten ausgestellt werden.
In bestimmten Marktnischen profitieren Superstar-Anwärter daher von einer Art Schneeballeffekt: Je höher ihr Börsenwert steigt, desto deutlicher können sie ihre Position gegenüber ihren Mitbewerbern verbessern. Die börseninduzierte Wertschöpfung erlaubt massive Investitionen (etwa in die Werbung), die ihrerseits wieder neue Anleger anziehen.
So haben die großen Fragen der klassischen politischen Ökonomie schließlich eine völlig verquere Lösung gefunden. Der Markt entscheidet, wer oder was „Wert“ oder „Mehrwert“ schafft, und die legitimen Eigentümer des geschaffenen Werts sind die Aktionäre. Das Resultat: Die Auf- und Abwärtsbewegung an der Börse koppelt sich zwar zusehends von der realwirtschaftlichen Entwicklung ab, greift aber dennoch strukturierend in sie ein.
Der Wert der Unternehmensgruppe AOL-Time Warner schwankt seit dem 10. Januar in geradezu Schwindel erregender Weise. Als die Fusion verkündet wurde, schätzten die beiden Firmenchefs das Transaktionsvolumen auf 350 Milliarden Dollar. Beim Mittagsfixing war der kumulierte Kurswert ihrer Unternehmen auf 280 Milliarden Dollar gesunken. Zwei Tage später hatte die Börsenkapitalisierung der beiden Aktien die Kleinigkeit von 35 Milliarden Dollar eingebüßt (was der gesamten Börsenkapitalisierung von IBM im Jahr 1975 entspricht, als das Unternehmen noch Weltmarktführer war).
Nach Ansicht von Experten liegt der eigentliche Wert der AOL-Time-Warner-Aktie irgendwo zwischen 34 und 114 Dollar – eine satte Spanne, an der sich die Wölfe der New Economy gewiss gütlich tun werden.
dt. Bodo Schulze
* Professor an der University of California, Berkeley. Autor von „Le Monde anglo-saxon en question“, Paris (Economica) 1997 (in Zusammenarbeit mit Richard Farnetti).