11.02.2000

Die Verdammten des Cyberspace

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Die Verdammten des Cyberspace

OB die so genannte neue Ökonomie den gern beschworenen neuen Typ von Unternehmern und Beschäftigten hervorbringt, ist durchaus fraglich. Witzig, flexibel, unkompliziert, lebensfroh und „libertär“ gesinnt soll es sein, das neue Wesen – das sich fast immer als männliches Wesen herausstellt –, ein künstlerischer Bohemien, der in einer kleinen Garage oder Sozialwohnung sitzt, vor sich einen alten Briefumschlag, auf den er die geniale Idee kritzelt, die ihn vom armen Schlucker zum Cyber-Milliardär befördert. Und dies nur, weil auch die Finanzmärkte verspielt, unkompliziert, genießerisch und dereguliert sind und alte Privilegien und Klassenschranken niederreißen.

Vor einigen Wochen zeichnete die Zeitschrift Management Today den Werdegang der Unternehmensführer der 25 bedeutendsten Start-ups in Großbritannien nach. Danach hat es wahrlich nicht den Anschein, als wären sie einst in Lumpen gegangen. „Gemeinsam ist ihnen eigentlich nur, dass ihre Eltern zur wohlhabenden Mittelschicht gehören, die in Wohnlagen wie dem Londoner Stadtteil Notting Hill residiert“, schreibt John Davison im Independent vom 8. Januar 2000. Und Notting Hill ist nicht gerade als soziales Problemviertel bekannt.

Ihre Angestellten allerdings fristen nicht selten ein Dasein als Cyber-Verdammte. Dieses Wortgebilde ist vielleicht neu, weniger neu ist die Realität. Um sich mit ihr vertraut zu machen, genügt ein Blick auf den Arbeitsalltag beim Starunternehmen der Neuen Ökonomie, dem 1995 gegründeten Online-Bookseller Amazon, den die Börse heute schon höher bewertet als alle amerikanischen Buchhandelsketten zusammen.

Amazon-Gründer Jeff Bezos nennt heute über 4 Milliarden Dollar sein Eigen. Die Arbeit seiner Beschäftigten ist weniger lukrativ – und unendlich weniger kreativ. Mehrere hundert von ihnen, meist junge, ledige und gebildete Leute, arbeiten – häufig zu mehreren – in den winzigen Arbeitswaben der Großraumbüros von Amazon in Seattle. Mit dem Headset über den Ohren und den Blick auf den Bildschirm geheftet, bearbeiten sie Jahr für Jahr Millionen von Online-Buchbestellungen.

Bei manchen Führungskräften von Amazon heißen sie „elektronische Tagelöhner“. Wenn sie einen Kunden in der Leitung haben, sind die literarischen Kenntnisse, die sie haben mögen, überhaupt nicht mehr gefragt. Die Devise der modernen Zeiten lautet Profitmaximierung. Zwölf elektronische Bestellungen pro Stunde sind die Norm; wer weniger als siebeneinhalb schafft, wird wegen mangelnder Produktivität entlassen.

TELEFONGESPRÄCHE dürfen nicht länger als vier Minuten dauern, wobei man „für den Kunden verständlich, für den Kollegen am Nachbartisch aber nicht störend laut zu sprechen hat“ – andernfalls droht eine Abmahnung.

„Es ist wie in China unter Mao“, meint einer der ans Fließband der Neuen Ökonomie geketteten „Amazonianer“. „Dauernd ermahnt man uns, für die Gruppe zu arbeiten. Wer sich nicht daran hält, schadet angeblich der Familie. Nur dass die Familie einer dieser Psycho-Fernsehshows entsprungen scheint, in denen man sich prügelt und sich an den Haaren zieht.“ Die Äußerungen dieses Beschäftigten zeugen von einer besonderen Perfidie. Denn das Unternehmen, das hier beschrieben wird, zeigt sich ständig bemüht, Extra-Veranstaltungen für seine Angestellten, bzw. für seine geschätzten Mitarbeiter zu organisieren. So wurde beispielsweise im September 1999 unter dem witzigen Motto „Schlafen könnt ihr, wenn ihr tot seid“ ein mitternächtlicher Tippwettbewerb veranstaltet. Das unwiderstehliche Spiel lief darauf hinaus, in einer zusätzlichen Nachtschicht möglichst viele liegen gebliebene Cyber-Anfragen abzuarbeiten. Dem Sieger winkten als Preisgeld ganze 100 Dollar.

Richard Howard, ein ehemaliger Angestellter von Amazon, hat so seine Zweifel am neuartigen Charakter der Arbeitsbeziehungen in der Neuen Ökonomie. „Ständig ist davon die Rede, dass das Internet die Geschäftsabläufe revolutioniert. Unsere Arbeit besteht aber im Wesentlichen aus der Wiederholung stereotyper Tätigkeiten, und ständig schaut einem ein Aufpasser über die Schulter. Was soll daran revolutionär sein? Der einzige Unterschied zu früher dürfte darin bestehen, dass die Typen häufig Ohrringe und Lederklamotten tragen.“

SERGE HALIMI

Le Monde diplomatique vom 11.02.2000, von SERGE HALIMI