11.02.2000

Tschetschenien

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Tschetschenien

Von Ignacio Ramonet

UNMENSCHLICH ist der Krieg der russischen Generäle in Tschetschenien, der nunmehr seit September 1999 andauert. Über ein Drittel der Bevölkerung – rund 200 000 Menschen – mussten wegen der Kämpfe ins benachbarte Inguschetien fliehen. Nach Angaben humanitärer Organisationen, denen seitens der russischen Behörden jeder Zugang zur Front verweigert wird, fielen den Bombenangriffen der föderalen Armee bereits hunderte Zivilisten zum Opfer. In einigen Dörfern sollen die Soldaten Plünderungen, Vergewaltigungen und andere Kriegsverbrechen begangen haben.

Tschetschenien muss zum zweiten Mal voll Schrecken erleben, wie seine wichtigsten Infrastrukturanlagen systematisch zerstört werden. Nachdem die kleine Kaukasus-Republik bereits im ersten Krieg 1994 bis 1996 an die 80 000 Menschen verloren hatte und großenteils verwüstet worden war, scheint es nun, als sei sie in ihrer Entwicklung um hundert Jahre zurückgeworfen.

Wie konnte es zu diesem entsetzlichen Desaster kommen? Warum sieht die internationale Staatengemeinschaft dieser menschlichen, wirtschaftlichen und ökologischen Tragödie ungerührt zu, während sie im Kosovo unter Berufung auf das Recht auf Einmischung unverzüglich eingegriffen hat?

Die Hauptverantwortung trifft sicherlich die russische Regierung. Beim Zerfall der Sowjetunion in den Jahren 1991/1992 war der Kreml außerstande, den in der Russischen Föderation verbleibenden Republiken einen angemessenen Autonomiestatus auf der Grundlage genuin demokratischer Kriterien anzubieten. Mit dem stillschweigenden Einverständnis des Westens, der Russland zur möglichst raschen Einführung der freien Marktwirtschaft drängte, improvisierte der Kreml einen Föderalismus à la carte und macht in jeder Region – als Gegenleistung für politische Unterstützung – die örtlichen Mafiabanden und Clans zu einer Art „Generalpächter“ der gewinnträchtigsten Wirtschaftsbereiche (Öl, Devisen, Alkohol, Tabak, Kaviar, Drogen, Waffen usw.). Solche Praktiken konnten die sozialen Spannungen nur verschärfen, zumal in Tschetschenien, dessen ökonomischer Niedergang unaufhaltsam ist. Bis 1940 lieferte das Land an die 45 Prozent des sowjetischen Erdöls, derzeit sind es nur noch knapp 1 Prozent.

Mit dem Aufstieg der diversen Mafiagruppen wurde neben der nationalistischen Gesinnung auch der sunnitische Islam wieder lebendig – wiewohl beides nie ganz verschwunden war in einem Land, das sich über hundert Jahre lang dem Expansionsstreben Moskaus widersetzt hatte und erst 1859 als letzte Kaukasus-Bastion an die Russen fiel.

Vor allem die verarmten Bevölkerungsgruppen zeigten sich empfänglich für die Lehren der mit erheblichen Geldmitteln ausgestatteten wahhabitischen Missionare aus Saudi-Arabien, deren fundamentalistische Botschaft in den achtziger Jahren bereits einen Teil der afghanischen Widerstandskämpfer fasziniert hatte. Anfang der neunziger Jahre waren alle führenden Widerstandskräfte Tschetscheniens Anhänger dieser Bewegung, namentlich der Rebellenführer Schamil Bassajew.

Nachdem die Tschetschenen 1996 Moskau besiegt hatten, begann ihre heilige Allianz zu bröckeln, und durch die russische Isolation fehlte es der Regierung unter Präsident Aslan Maschadow an den nötigen Mitteln zum Wiederaufbau des Landes. Die Wahhabiten bildeten islamische Hochburgen, wo gegen den Willen zahlreicher Familienclans das islamische Recht, die Scharia, eingeführt wurde. Im Schutze dieser chaotischen Verhältnisse entstand ein mafiöses Bandenwesen, das eine allgemeine Raub- und Beuteökonomie etablierte: Plünderung von isolierten Gehöften, Schmuggel aller Art, Entführung von hunderten Personen, darunter etliche Ausländer, und Erpressung von Lösegeldern.

SO versank Tschetschenien immer mehr in einem unregierbaren Chaos, das nicht nur die Nachbarstaaten aufs Höchste beunruhigte, sondern auch die eigene Bevölkerung abwandern ließ. Darüber hinaus wurde im Mai 1999 mit dem Segen des Westens die Ölpipeline zwischen Baku in Aserbaidschan und dem georgischen Schwarzmeerhafen Supsa offiziell wiedereröffnet. Russland sah sich ausgebootet. Noch gravierender war jedoch die Unterzeichnung eines Abkommens zwischen der Türkei, Aserbaidschan und Georgien im November 1999 über den Bau einer weiteren Pipeline, die Baku mit dem türkischen Mittelmeerhafen Ceyhan verbinden soll und damit definitiv nicht über russisches Territorium verlaufen wird. Nach diesem geopolitischen Affront fürchtete Moskau um seinen Einfluss im Kaukasus – zumal die neue Pipeline automatisch in das Sicherheitssystem der Nato eingebunden sein wird.

Der Übergriff des tschetschenischen Islamisten-Führers Bassajew auf die benachbarte Teilrepublik Dagestan im August 1999 bewies in den Augen der Russen vollends, dass ein unabhängiges Tschetschenien die gesamte Kaukasus-Region anstecken würde. Obwohl die Invasion Bassajews rasch eingedämmt und niedergeschlagen werden konnte, sah der Kreml die Kontrolle über den strategisch so überaus wichtigen Nordkaukasus immer mehr bedroht.

Im Herbst 1999 schließlich forderte eine Reihe von Bombenattentaten in mehreren russischen Städten rund 300 Menschenleben. Die Regierung schob die Schuld für die Attentate ohne stichhaltige Beweise den „tschetschenischen Banditen“ in die Schuhe und hetzte die Bevölkerung auf.

Wladimir Putin hat die Gelegenheit ergriffen, sich als der starke Mann zu profilieren, auf den die Russen warten. Diese innenpolitische Dimension bestimmt die strategischen Kriegsziele. Dem Kreml geht es nicht nur um die Rückeroberung Tschetscheniens, sondern um die Vormachtstellung im gesamten Kaukasus. Und wenn es sein muss, kämpft man bis zum letzten Tschetschenen.

Le Monde diplomatique vom 11.02.2000, von Ignacio Ramonet