14.04.2000

tanzim al-dauli

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tanzim al-dauli

Von WENDY KRISTIANASEN

FRAGEN Sie mich nicht danach.“ Dr. Ma'mun al-Hodeibi behagt es nicht, nach der Existenz einer internationalen Organisation (tanzim al-dauli) der Muslimbruderschaft befragt zu werden. Der 79-jährige Rechtsanwalt und frühere Parlamentsabgeordnete ist der offizielle Sprecher der Bruderschaft, und sein Schweigen macht aufs Neue deutlich, weshalb man so wenig über dieses heikle Thema weiß, das noch viel geheimer ist als die meisten anderen Geheimnisse der ohnehin höchst zugeknöpften Bewegung.

Al-Hodeibi ist der Stellvertreter des geistlichen Führers (murschid) der gesamten Bewegung, des ebenfalls 79-jährigen Mustafa Masch'hur. Der murschid zeigt sich etwas auskunftsfreudiger: „Es ist nicht einfach, eine wirksame internationale Organisation zu haben, wenn die Bewegung verboten ist und die ägyptische Regierung unseren Führern nicht erlaubt, das Land zu verlassen. Hin und wieder kommen ein paar Brüder aus anderen Ländern, um uns zu treffen, aber im Allgemeinen wollen die ichuan im Ausland keine Hilfe von uns.“

Als Oberhaupt der Bewegung fungiert stets der Führer der ägyptischen Bruderschaft, womit deren historische Rolle als erste Gemeinschaft der Muslimbrüder gewürdigt wird, die 1928 von Hassan al-Banna gegründet wurde. Doch bereits in den Anfängen, als sich die Bewegung auch jenseits der Grenzen Ägyptens ausbreitete, entstanden in verschiedenen arabischen Ländern eigenständige Organisationen. Eine Ausnahme waren die palästinensischen Muslimbrüder: Aufgrund der besonderen geschichtlichen Umstände (des Kriegs von 1948 und der Gründung Israels) unterhielten die palästinensischen Muslimbrüder in Gasa und im Westjordanland stets direkte Verbindungen zu Ägypten bzw. zu Jordanien. Jede dieser eigenständigen Organisationen hat eine weitgehend ähnliche Organisationsstruktur mit drei Ebenen.

In Jordanien zum Beispiel sind alle Mitglieder über Generalversammlungen (haij'a al-umamija) vertreten, die alle zwei Jahre gewählt werden und je nach Region unterschiedlich viele Mitglieder haben. Diese Körperschaften wählen ihren eigenen fünfköpfigen Verwaltungsausschuss (haij'a idarija) und zugleich alle vier Jahre die fünfzig Mitglieder des allgemeinen Rats (madschlis al-schura). Der Rat wiederum bestimmt den Generalsekretär (murraqab al-'am, wie diese höchste Position außerhalb Ägyptens bezeichnet wird), seinen Stellvertreter und ein siebenköpfiges Exekutivkomitee. In Ägypten sind die Strukturen auf allen drei Ebenen etwas anders geartet, vor allem gibt es ein deutlich größeres Führungsgremium (maktab al-irschad).

Dr. Abdelwahab al-Effendi, ein sudanesischer Wissenschaftler, der heute in England lehrt, ruft in Erinnerung, wie die ägyptische Bruderschaft in den Siebzigerjahren, nach der Entlassung ihrer Aktivisten aus dem Gefängnis, eine neue internationale Organisation aufzubauen versuchte. „Die Bruderschaften in Kuwait, Jordanien, Libanon, Syrien und dem Irak waren bereit, sich den Ägyptern anzuschließen, ihre Zentralen nach Ägypten zu verlegen und den murschid als Führer anzuerkennen. Das war der erste Schritt. Den größten Einfluss hatten die Kuwaiter, weil sie die Sache finanzierten. Das Ganze funktionierte, weil damals die einzelnen Gruppen in ihren Ländern nicht besonders aktiv waren.“

In der geplanten Dachorganisation sollten die einzelnen Bruderschaften je nach ihrem Mitgliederstand repräsentiert sein. Aber die ägyptische Bruderschaft, die ja auch den murschid stellte, sicherte sich eine Vormachtstellung und reservierte sich auf allen drei Ebenen des tanzim al-dauli relativ viele Sitze. Die Ägypter konnten jedoch nicht ins Ausland reisen. Das Oberhaupt saß in Kairo fest und wurde deshalb durch Hassan Huweidi ersetzt, einen in Amman lebender Syrer. Ihm fällt im Grunde nur eine zeremonielle Rolle zu, da das internationale Gremium nur unregelmäßig zusammentritt und sich darauf beschränkt, beratend oder schlichtend tätig zu werden. Zwar tritt man noch zusammen und koordiniert die Bewegung, doch der Schwung der Siebzigerjahre ist dahin, und auch die in London erscheinenden Publikationsorgane, die Wochenzeitung al-Risalat al-Ikhwan und die Monatszeitschrift al-Da'wa finden kaum noch Resonanz.

Ein Sprecher für den Westen

DOCH im Juli 1995 sah es nach einem Neubeginn aus: Die Bruderschaft ernannte einen „Sprecher für den Westen“. Kamal al-Helbawi, ein umgänglicher, aber nicht unumstrittener Ägypter, war nach London gekommen, nachdem seinem Zentrum für die Erforschung des Kriegs in Afghanistan das Geld ausgegangen war. Die Führung in Kairo nutzte die Gelegenheit und gründete zum ersten Mal in der Geschichte der Bewegung ein Informationsbüro außerhalb der Nahostregion. Doch nach zwei Jahren wurde das Londoner Experiment stillschweigend, wenn auch nicht konfliktlos beendet.

Helbawi selbst meint dazu: „Ich habe versucht, in der Wasat-Affäre (siehe den Artikel links) zu vermitteln, und kam dabei unter Beschuss von beiden Seiten. Es war eine schwierige Situation, und es fielen heftige Worte, also habe ich den murschid gebeten, mich abzulösen.“ Der Führer der Bruderschaft erklärt heute, er habe Helbawi überhaupt nicht eingesetzt: „Die Bruderschaft in Großbritannien hat ihn ernannt, und ich weiß nicht, warum sie das wieder rückgängig gemacht haben. Ich glaube, es gibt keinen neuen Sprecher, jedenfalls hat man mir davon nichts gesagt.“

Was ist geschehen? Azzam Tamimi, ein jordanischer Wissenschaftler, der als Mitglied der Bruderschaft in London lebt, sieht es so: „Keiner von uns wusste so recht, ob dieser Sprecher wirklich autorisiert war, die Muslimbruderschaft außerhalb Ägyptens zu vertreten. Auch über seine Verbindungen zur internationalen Organisation waren wir nicht informiert. Außerdem ging es um seine Haltung in der Wasat-Krise und seine Qualifikation für den Posten – wir haben einfach nichts erfahren.“

Auch Hebawi beklagt sich über die Geheimniskrämerei: „Eigentlich kann man die tanzim al-dauli nicht als Organisation bezeichnen, sie hat im Grunde nur Koordinierungsfunktion. Sie müsste in der Öffentlichkeit wirken, Kontakt mit politischen Persönlichkeiten pflegen – jetzt sind über ihre führenden Leute eigentlich nur die Geheimdienste informiert. Nirgendwo im Westen gibt es ein vernünftiges Forschungsinstitut oder eine Fernsehstation. Wir müssten mehr Aktivitäten entfalten und ein internationales Diskussionsforum schaffen. Diese Isolation ist nicht gut für die Bewegung. Ich stehe noch immer hinter den Zielen der Muslimbruderschaft, aber was ihre organisatorischen Qualitäten betrifft, da habe ich meine Zweifel.“

Solche Klagen kann man überall hören. Offensichtlich läuft zwischen den jüngeren Reformern und der überalterten und verknöcherten Führung in Ägypten eine grundsätzliche Auseinandersetzung. Die ständige Repression durch den ägyptischen Staat hat die Geheimhaltung zur Obsession werden lassen, und obwohl die ägyptische Bruderschaft inzwischen nicht mehr die Führung in der internationalen Organisation beansprucht, belasten ihre Probleme die Bewegung als Ganze. Doch abgesehen von diesen Schwierigkeiten ist eine eindeutige Veränderung eingetreten: Überall waren die Muslimbrüder gezwungen, ihr Vorgehen stärker auf die Situation im eigenen Lande abzustimmen. Der Golfkrieg von 1990/91 hat dies deutlich werden lassen: Den jordanischen Muslimbrüdern blieb keine andere Wahl, als den Irak zu unterstützen, die ägyptische Bruderschaft hingegen konnte es sich leisten, Saddam Hussein zu kritisieren, und hat nicht einmal offene Kritik an der amerikanischen Intervention geübt. Die Anhänger der Bruderschaft in Algerien, dem Jemen, Syrien, Tunesien, Sudan oder Kuwait haben es mit jeweils völlig unterschiedlichen und zuweilen ganz gegensätzlichen lokalen Verhältnissen zu tun.

Mehr noch: Inzwischen leben Millionen von Muslimen in westlichen Ländern. Obwohl auch sie Vertreter in die internationale Organisation entsenden, sind sie vornehmlich damit beschäftigt, in ihrer neuen Heimat Fuß zu fassen. So bestreitet Dr.Tamimi gar nicht, dass etwa in Großbritannien die Bruderschaft für junge Muslime keine große Anziehungskraft besitzt: „In den letzten zehn Jahren haben sich, vor allem im studentischen Milieu, viele der Organisationen aufgelöst, die Immigranten in den Siebzigern gegründet hatten. Entweder haben die Mitglieder das Land wieder verlassen, oder sie haben sich integriert und politisch offeneren Organisationen angeschlossen. Hier gibt es zahlreiche Mitglieder der Bruderschaft, die sich in Organisationen wie dem Muslim Council of Britain engagieren, der alle Muslime des Landes vertritt.“

Islamische Großorganisationen

IN ähnlicher Weise verlief die Entwicklung in den Vereinigten Staaten, wo es ebenfalls eine große Gemeinschaft von Muslimen gibt. Der syrische Islamist Louay Safi, Forschungsdirektor am International Institute of Islamic Thought in der Nähe von Washington, meint dazu: „Die meisten Muslime, die in die Vereinigten Staaten kommen – viele von ihnen gut ausgebildete Spezialisten – fühlen sich freundlich aufgenommen. Sie haben hier weniger Probleme, sich zu ihrer Religion zu bekennen und sich politisch zu betätigen, als in ihren Herkunftsländern. Also sind neue Organisationen entstanden, wie die äußerst erfolgreiche Muslim Students Association, die 1963 gegründet wurde. Daraus entwickelte sich dann die Islamic Society of North America (ISNA), zu deren Kundgebungen bis zu 30.000 Menschen kamen. Inzwischen gibt es noch größere Vereinigungen, wie das Islamic Center of Southern California, das einen eigenen Radio- und Fernsehsender betreibt, Publikationen herausgibt usw.“

Haben die Muslimbrüder unter diesen Umständen noch eine Zukunft? Ein religiöses Thema, dass alle Islamisten eint, ist die Jerusalemfrage: die Souveränität von Ungläubigen über die heiligen Stätten des Islam stößt auf einhellige Ablehnung. Aber die Zukunft Palästinas wird politisch entschieden, und immer mehr modern gesinnte Islamisten würden, zumal wenn sie in westlichen Ländern leben, einer Lösung zustimmen, die auf ein stabiles Nebeneinander eines jüdischen und eines palästinensischen Staates hinausliefe.

Kann die Muslimbruderschaft mit ihrem Beharren auf der vollständigen Befreiung Palästinas in Zukunft unter diesen Muslimen im Westen noch Anhänger gewinnen? Laith Kubba, ein irakischer Islamist, der beim National Endowment for Democracy in Washington arbeitet, meint: „Ein gewaltsames Vorgehen gegen Menschen, die seit Generationen an einem Ort leben, ist mit islamischer Argumentation nicht zu rechtfertigen. Werden die Muslimbrüder sich um diese Frage drücken könne?“

dt. Edgar Peinelt

Le Monde diplomatique vom 14.04.2000, von WENDY KRISTIANASEN