12.05.2000

Der Ruf nach einem internationalen Tribunal

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Der Ruf nach einem internationalen Tribunal

WIE viele Opfer haben die bewaffneten Übergriffe und die massiven Verletzungen der Menschenrechte vom letzten August und September gefordert? Wer sind die Verantwortlichen? Und wer wird über sie richten? Auf diese Fragen hat die Amerikanerin Sydney Jones, Direktorin des Büros für Menschenrechte der Untaet, noch keine Antwort. Aber mit jedem Tag wachsen ihre Befürchtungen, dass die Gerechtigkeit schließlich dem Gebot der Versöhnung zwischen den Timoresen, der Normalisierung der Beziehungen zu Indonesien und einem gewissen Realitätssinn der internationalen Diplomatie zum Opfer fallen wird. „Wieder einmal könnte es so sein, dass eher diejenigen zur Verantwortung gezogen werden, die Befehle ausführten, als jene, die den Befehl für die Verbrechen gegeben haben.“ Die Justiz könnte sich also mehr für die timoresischen Milizen als für die indonesischen Generäle interessieren.

Für Sydney Jones „besteht keinerlei Zweifel, dass die Grausamkeiten systematisch geplant und koordiniert wurden. Um Tausende von Gebäuden auf der gesamten Insel in Brand zu stecken, bedurfte es einer durchdachten militärischen Logistik mit LKWs, auf denen die Brandstifter und die Riesenmengen an Benzin transportiert wurden. Wir haben Beweise“, erklärt die junge Frau, denn sie kennt die Namen sowohl der Offiziere als auch der Einheiten, die an den Gewalttaten beteiligt waren. Als Beispiel nennt sie das überwiegend aus Timoresen bestehende Bataillon 745 der indonesischen Armee, „das über die Insel zog und eine Spur von Massakern, Zerstörung und Vergewaltigungen“ zurückließ. Gewiss sind die Sondereinheiten und die timoresischen Milizen an erster Stelle für die gewalttätigen Übergriffe verantwortlich. Aber sie standen in Verbindung mit Polizei und Armee in Jakarta, und die Befehle kamen „von oben“.

Dies wird bestätigt von im Februar veröffentlichten Berichten zweier Untersuchungskommissionen. Der UNO-Bericht beschuldigt Angehörige des Militärs, die Milizen „rekrutiert, bewaffnet und finanziert“ zu haben, damit sie Terror säen. Die indonesische Menschenrechtskommission wirft verschiedenen Offizieren vor, „Verbrechen gegen die Menschlichkeit“ gedeckt zu haben. Inzwischen laufen Verhandlungen zwischen der Untaet und der Regierung in Jakarta über ein Memorandum, das gegenseitige Rechtshilfe bei Fällen von Menschenrechtsverletzungen, sprich Auslieferung von Verdächtigen, zusichert.

Es ist also keineswegs sicher, dass die indonesischen Militärchefs die Immunität, die sie aufgrund ihrer Vorrangstellung im Suharto-Regime stets genossen, weiterhin behalten, auch wenn einige von ihnen unantastbar erscheinen, wie etwa der Militärkommandant von Westtimor, General Kiki Syahnakri. „Die schlimmsten Verbrechen sind unter seinem Oberbefehl geschehen, und wenn die Milizen heute noch aktiv sind, dann ist das zum Teil ihm zu verdanken“, erklärt ein Diplomat der Untaet. „Und trotzdem nimmt ausgerechnet dieser General an den Verhandlungen mit der Übergangsverwaltung teil!“

NACH welchen Gesetzen aber, nationalen oder internationalen, sollten diese Verbrechen geahndet werden? In Dili, wo die Justiz noch in ihren ersten Anfängen steckt, will der Beratende Nationale Rat ein Sondertribunal einrichten, in dem internationale Richter sitzen sollen. Das Menschenrechtskommissariat der UNO und die auf diese Fälle spezialisierten NGOs plädieren für ein internationales Tribunal. Aber die Regierung in Jakarta sperrt sich dagegen. Der Sicherheitsrat hat daher im Februar empfohlen, Jakarta die Verantwortung für die Strafverfolgung zu überlassen. Auch UN-Generalsekretär Kofi Annan äußerte sich kürzlich in diesem Sinne: „Idealerweise sollte die jeweilige Regierung über die Betroffenen urteilen und sie bestrafen, wenn ihre Schuld erwiesen ist.“ Eine gewisse Einschränkung machte er allerdings: Sollte Indonesien keinen glaubwürdigen Prozess zustande bringen, sollte erneut über ein internationales Tribunal geredet werden.

In der Zwischenzeit setzen rund fünfzehn Menschen, Experten, Gerichtsmediziner und Polizisten der Civpol, ihre Untersuchungen vor Ort fort. Anfang April wurden mehr als 300 Fälle mit 627 Todesopfern geprüft, mehrere Massengräber wurden untersucht (17 Tote in Liquiça, rund 60 in Oecussi). Laut Sydney Jones liegt „die Gesamtzahl der Toten wahrscheinlich bei 1 000 bis 1 200 Menschen“.

R.-P. P.

Le Monde diplomatique vom 12.05.2000, von R.-P. P.