12.05.2000

Der Weltbürger als Feind des Kapitals

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Der Weltbürger als Feind des Kapitals

Susan George, Präsidentin des Observatoire de la mondialisation in Paris und Vizepräsidentin der Bürgervereinigung Attac, legt mit „Le Rapport Lugano“ ihren ersten Roman vor (soeben erschienen bei Fayard, Paris). In diesem fiktiv-realistischen Buch geht eine Expertengruppe im Auftrag einiger der mächtigsten Männer der Welt der Frage nach: Wie lässt sich der Kapitalismus im 21. Jahrhundert absichern? Die Kopfgeburt dieser Expertengruppe, die unter strengster Geheimhaltung arbeitet, ist eben der „Lugano-Rapport“, dessen zentrale Empfehlung dahin geht, dass jene Teile der Weltbevölkerung, die sich nicht in den globalen Markt integrieren lassen, drastisch zu reduzieren seien. Nachfolgend ein Auszug aus diesem „Rapport“:

ZUNÄCHST müssen wir unser ehrgeiziges Projekt, die Bevölkerungszahl massiv zu reduzieren, auf eine solidere Basis stellen. Diese Basis muss auf vier Pfeiler abgestützt werden, einen ethisch-ideologischen, einen politischen, einen ökonomischen und einen psycologischen. [...]

Um die Akzeptanz einer genuinen Bevölkerungskontrolle zu erhöhen, müssen wir ein neues Denk- und Meinungsklima verbreiten. Ein Klima, das nicht mehr vom Dogma grenzenloser individueller Freiheit geprägt ist, das die Menschenrechte als zentrales Anliegen aufgegeben hat. Wir empfehlen unseren Auftraggebern daher dringendst, ein Korps von Theoretikern, Schriftstellern, Lehrern und Kommunikationsexperten zu schaffen und zu finanzieren, das in der Lage ist, Konzepte, Argumente und Bilder zu entwickeln, die für eine strikte Kontrolle des Bevölkerungswachstums eine geistig-moralische, wirtschaftliche, politische und psychologische Rechtfertigung liefern. Diese Geistesarbeiter hätten überdies eine innovative und pragmatische Ethik für das 21. Jahrhundert auszuarbeiten.

Substantielle Investitionen in einen solchen ideologischen Stoßtrupp würden sich hundertfach bezahlt machen. Gegebenenfalls müssen wir das Gedankengut großer Denker wie Platon, Darwin, Hobbes, Malthus, Nietzsche, Hayek, Nozick entstauben, überarbeiten, dem aktuellen Geschmack anpassen und auf die unterschiedlichen Zielgruppen abstimmen. [...] Wir gehen davon aus, dass unsere Auftraggeber kaum Schwierigkeiten haben dürften, ein solches Korps „ideologischer Legionäre“ aufzustellen, da sie ohne Zweifel enge Kontakte zu den Führern der aktuell expandierenden globalen Medien-Konglomerate und transnationalen Unternehmen pflegen, die über die nötigen „geistig-ideologischen Lautsprecher“ zur Verbreitung der neuen Ideen verfügen.

Die Mitglieder unserer Arbeitsgruppe, die sich in aller Bescheidenheit als die Vorhut des anvisierten Legionärskorps verstehen, räumen ganz offen ein, dass sie dem Reiz der materiellen Gratifikationen erlegen sind, die die Mitwirkung an diesem Unterfangen in Aussicht stellt. In dieser Hinsicht unterscheiden wir uns nicht von anderen Denkern, Wissenschaftlern und berufsmäßigen Schreibern, die die offenkundigen Vorzüge des Liberalismus anerkennen und ihr Wissen und Talent in den Dienst des Markts stellen, sobald es sich als eindeutig vorteilhaft erweist.

Im Rahmen des „Kampfs um die Herzen und Köpfe“ der Menschen können auch gruppen- oder individualpsychologische Ansätze dazu beitragen, ein feindseliges Klima zwischen den verschiedenen Bevölkerungsgruppen zu erzeugen, was dem Ziel einer drastischen Bevölkerungsreduktion nur dienlich sein kann. Es mag paradox erscheinen, doch auch die Individualpsychologie lässt sich für die Zwecke der Globalisierung einspannen.

Den psychologisch größten Nutzen verspricht dabei die „Identitätspolitik“, wie man im Westen sagt. Im Idealfall sollten sich alle Menschen möglichst nahtlos mit einer ethnischen, geschlechtlichen, sprachlichen, rassischen oder religiösen Teilgruppe identifizieren. Die Zugehörigkeit zu einem Land, einer sozialen Schicht, einer Berufsgruppe oder gar zum „Menschengeschlecht“ muss aus den Köpfen der Menschen verschwinden. Jeder Einzelne muss sich in erster Linie als Angehöriger einer eng definierten Gruppe fühlen und erst in zweiter Linie als Mitglied seiner Berufsgruppe, seines Gemeinwesens, als Elternteil und als Staats- oder Weltbürger.

Als Teil der skizzierten ethisch-ideologischen Offensive sollten wir den aggressivsten und geschicktesten Wortführern sämtlicher geschlechtsbezogenen, rassischen, religiösen und ethnischen Partikularismen alle erdenkliche materielle und moralische Unterstützung gewähren. Wir müssen ihnen über spezielle Kanäle erleichterten Zugang zu den Kommunikationsmitteln verschaffen und gegebenenfalls zusätzliche Finanzmittel zur Verfügung stellen.

An welche Gruppen denken wir hierbei? An die Schwarzen, die Weißen, die Gelben und die Mischlinge, an die Homosexuellen beiderlei Geschlechts, an die Feministinnen und an die Phallokraten, an die Fundamentalisten und Suprematisten unter den Juden, Christen, Muslimen und Hindus, aber auch an schlecht beleumundete Berufsgruppen wie die Lastwagenfahrer und die Polizeibeamten. Jede Gruppe braucht ihre eigene Zeitung, ihre eigene Zeitschrift, ihren eigenen Radio- und Fernsehsender, ihre eigene Website, und jede Gruppe soll sich nur um ihre eigenen „Rechte“ kümmern. Wir denken dabei nicht nur an die negativen Rechte wie den Schutz vor Verfolgung, Gewalt und Diskriminierung, sondern auch an positive Rechte (etwa das Recht auf Sonderbehandlung als Wiedergutmachung für vergangenes oder gegenwärtiges, reales oder eingebildetes Unrecht), bis hin zum Recht auf einen separaten Staat.

Angesichts der Tatsache, dass alle erkennbaren Gruppen irgendwann einmal in einem bestimmten Maß Opfer einer anderen Gruppe oder auch nur besonderer historischer und/oder geographischer Umstände waren, steht zu erwarten, dass sich ein ohrenbetäubendes Stimmengewirr erheben wird, in dem alle weltbürgerlichen Anliegen untergehen. Diese Operation zielt vor allem darauf, die Fragmentierung der Weltbevölkerung zu verstärken, gruppenspezifische Unterschiede in den Vordergrund zu rücken und Ghettos zu bilden. Dabei spielt es keine Rolle, ob diese Differenzen in der Realität oder in der Tradition wurzeln oder nicht.

Entgegen einer erstaunlich weit verbreiteten Ansicht besitzen die meisten Identitäten, insbesondere die vorgeblich ethnischen Identitäten, nur recht schwache historische Wurzeln und sind in den allermeisten Fällen neueren Datums. In gewisser Weise wirken sie daher wie Gott: Auch wenn sie nicht existieren, sind sie doch überaus realitätsmächtig – so sehr, dass Menschen bereit sind, in ihrem Namen andere Menschen umzubringen.

UM die Identitätsfixierung und Gewaltbereitschaft zu fördern, brauchen wir nur dafür zu sorgen, dass eine hinreichende Zahl von Gruppenmitgliedern durch Angehörige einer anderen Gruppe gedemütigt oder getötet wird, wobei es genügen würde, dass die Gruppe glaubt, einige ihrer Angehörigen seien getötet oder gedemütigt worden. Obgleich solche Spannungen nicht immer leicht zu erzeugen oder zu lenken sind, zeigt die Zeitgeschichte, dass auch höchst zweifelhafte ethnische oder religiöse Unterschiede immer wieder erfolgreich auszunutzen sind. Vor dem Hintergrund wachsender rassistischer Tendenzen ließen sich der Hass und die schwelenden Konflikte zwischen den einzelnen Gruppen durch gezielte Provokationen weiter verstärken. Dies würde unweigerlich zu erhöhter Gewaltbereitschaft führen, was unserem Projekt nur förderlich sein kann.

Identitätspolitik hat zwei überaus bedeutsame Vorteile. Zum einen lassen sich damit innerhalb eines Gemeinwesens beliebige Spannungen schüren und also die Voraussetzungen für gruppeninterne Konflikte und Bürgerkriege schaffen. Auch wenn sich die Spannungen nicht zu offenen Kampfhandlungen zuspitzen, halten sie die wichtigsten Gruppierungen zumindest in einem Zustand hasserfüllter Verblendung und verhindern, dass die eigentlichen Akteure des Weltgeschehens ins Blickfeld geraten. Der zweite Vorteil von Identitätspolitik liegt darin, dass sie solidarisches Verhalten neutralisiert und jeden Widerstand gegen die von uns empfohlenen Strategien außerordentlich erschwert: Nationale und internationale Bündnisse werden immer schwieriger, wenn nicht unmöglich, und genuin politisches Handeln hat keine Chance mehr.

WIR müssen dafür sorgen, dass die Menschen sich nicht mehr fragen, was sie tun können, sondern sich in erster Linie damit beschäftigen, was sie sind. Die Globalisierung von Wirtschaft und Politik wird sich problemlos fortführen lassen, solange die psychologische Verblendung der Menschen anhält, sie nicht merken, was wirklich vor sich geht und es keine Vorstellung von Weltbürgerschaft gibt, auf die sich ein eventueller Widerstand stützen könnte. [...] Führungspersönlichkeiten, die weiterhin am universalistischen Ziel einer gruppenintegrativen Solidargemeinschaft von Staatsbürgern festhalten, müssen als Person um jede Glaubwürdigkeit gebracht werden und das Vertrauen ihrer Nachbarn, ihrer Schüler und Studenten, ihrer Kollegen und Mitarbeiter verlieren. Ob wir zu diesem Zweck auf ihre „Rassenzugehörigkeit“, ihre ethnische Abstammung, ihre sexuellen Vorlieben oder ihre zweifelhafte Ehrbarkeit abstellen, ist gleichgültig und nur eine Frage der Opportunität.

Neuere wissenschaftliche Arbeiten eröffnen für unsere Problematik interessante Perspektiven. Wir sollten sie daher mit Blick auf die Umsetzung des „Imperativs der Bevölkerungsreduktion“ aufmerksam prüfen und weiterverfolgen. Insbesondere die Spieltheorie und die Primatologie haben wertvolle Beiträge zur Klärung der Frage geleistet, wie Menschen kooperieren und in Gesellschaft zusammenleben. Computersimulationen bestimmter Spielstrategien (Vertrauensspiel, Gefangenendilemma, Kampf der Geschlechter, Ultimatumspiel usw.) zeigen, dass man die Spieler versöhnlich stimmen und zu fortgesetzter Kooperation motivieren kann, dass es aber auch möglich ist, eine endlose Folge von immer heftigeren gegenseitigen Anschuldigungen zu provozieren, die schließlich in Hass und einen „Kampf bis aufs Messer“ münden.

SUSAN GEORGE

dt. Bodo Schulze

Le Monde diplomatique vom 12.05.2000, von SUSAN GEORGE