16.06.2000

Der kalte Frieden – eine Debatte

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Der kalte Frieden – eine Debatte

AUS globaler Perspektive lässt sich der heutige Zustand der Welt – trotz wachsender kriegerischer Auseinandersetzungen auf allen Kontinenten – als ein „kalter Frieden“ bezeichnen, denn nach der Auflösung der Blöcke des Kalten Krieges ist derzeit keine globale Konfrontationslinie in Sicht. Doch die Kälte dieses Friedens ist weltweit offensichtlich: Nicht Regierungen, sondern global operierende Unternehmen dominieren die politischen Entscheidungsprozesse, gewachsene Solidargemeinschaften lösen sich auf, die Kluft zwischen Arm und Reich wächst im globalen Maßstab wie innerhalb der Gesellschaften, eine zunehmend uniformierte Weltkultur verbreitet kalte Monotonie, die Umweltzerstörung schreitet allenthalben voran. Welches sind die treibenden Kräfte dieser Globalisierung? Ist die Erkaltung der sozialen Beziehungen unaufhaltsam? Oder lässt sich die Entwicklung noch politisch beeinflussen und demokratisch kontrollieren?

Fragen an die Podiumsteilnehmer Ignacio Ramonet, Susan George, Richard Sennett und Alex de Waal.

Ignacio Ramonet

Herausgeber des französischen Monde diplomatique, Professor für Kommunikationswissenschaften.

Was wir derzeit erleben, ist eine zweite Kapitalistische Revolution. Nach den Entdeckungs- und Eroberungswellen des 16. bzw. des 19. Jahrhunderts ist die Eroberung in ein neues Stadium getreten. Doch während die Akteure früher die Staaten waren, sind es heute Konzerne und Kapitalgruppen. Globalisierung bedeutet aber auch und vor allem, dass sämtliche Lebensbereiche dem Markt einverleibt werden. Der Markt verallgemeinert Worte und Dinge, Körper und Geist, Natur und Kultur, er macht sie konsumfähig. Der maßlose Produktivismus ist der wichtigste Grund für die Ausplünderung unseres Planeten, nachhaltige Entwicklung statt schneller Beute ist das wichtigste Entwicklungsziel.

Die neue Hierarchie der Staaten beruht nicht mehr auf militärischer Macht und der Verfügung über Rohstoffe, sondern auf der Fähigkeit, die technologischen Veränderungen zu beherrschen und die Finanzwelt zu dominieren. Der Niedergang nationaler Märkte beraubt die Nationalstaaten ihrer Basis. Die Regierenden befolgen die wirtschaftspolitischen Vorgaben globaler Organisationen wie IWF oder WTO, die staatliche Politik einer regelrechten Diktatur unterwerfen.

Die verantwortlichen Politiker haben in den letzten zwanzig Jahren die totale Liberalisierung des Kapitalverkehrs und massenhafte Privatisierungen unterstützt, also zugelassen, dass wesentliche Entscheidungen (über Investitionen, Arbeitsplätze, Gesundheit, Bildung, Kultur und Umweltfragen) aus dem Öffentlichen ins Private abgewandert sind. Unter den 200 größten volkswirtschaftlichen Einheiten der Welt sind die Hälfte nicht Staaten, sondern Unternehmen. Das Engagement der Bürger richtet sich also gegen die Zerstörung der Gemeinschaften, gegen die Aneignung des privaten Lebens durch den Markt.

Richard Sennett

Musikwissenschaftler und Soziologe, Gründer des Instituts für Humanwissenschaften an der New York University.

Ich befasse mich vor allem mit der Frage, wie die Menschen in der „neuen Ökonomie“ mit dem enormen kulturellen Wandel zurechtkommen, der aus der Fragmentierung der Lebensarbeitszeit resultiert: Die Menschen sehen keine langfristige berufliche Laufbahn mehr, keine Lebensaufgabe. Die Arbeit ist kurzatmig und episodenhaft, und zwar innerhalb beruflicher Strukturen, die ihrerseits kurzatmig und episodenhaft sind. Dieses Arbeitsregime zerstört bei den Menschen jede Erfahrung von Brüderlichkeit. Diese setzt ja voraus, dass man erstens merkt, die anderen haben dieselben Interessen, und dass man sie zweitens als menschliche Wesen kennen lernt. In den modernen hochflexiblen Organisationen ist dies unmöglich, weil jeder längere Kontakt mit anderen Menschen unterbunden ist.

Aber warum revoltiert niemand gegen dieses System? Wie kommt es, dass die Leute unterhalb der Führungseliten, die derart desorientiert und mit ihren Arbeitsbedingungen unzufrieden sind, nicht in die Gewerkschaften strömen? Diese politische Frage hat eine kulturelle Dimension. Das Versprechen der Modernität war nie das Versprechen, Solidarität und kollektive Zugehörigkeit zu erfahren, sondern das Versprechen, sich verweigern und abschotten zu können.

Die „neue Ökonomie“ basiert einzig auf dem Austausch, sie erzeugt unter den Beschäftigten keinerlei Gemeinschaft. In Interviews mit zutiefst unzufriedenen Menschen habe ich herausgefunden, dass sie nach wie vor dem Glauben anhängen, der in der modernen Kultur tief verankert ist: dass diese Art von Kapitalismus auch persönliche Befriedigung bringen müsse. Wenn das nicht der Fall ist, kommen sie zu dem Schluss, dass sie selber etwas falsch machen. Ich habe Leute interviewt, die in so genannten Callcentern arbeiten. Diese Arbeit ist so erniedrigend und anstrengend, dass die Beschäftigten es nur sieben oder acht Monate aushalten. Aber wenn man sie fragt, warum sie sich nicht organisieren, antworten sie: Das ist ein alter Hut. Gewerkschaften sind nicht modern. Wenn ich mich durch meine Arbeit total unterdrückt fühle, muss ich für mich selber eine Lösung finden.

Die Reaktion auf die revolutionäre Veränderung ist also die große Vereinzelung. Hier liegt für mich das große Problem. Wir dürfen also nicht nur die ökonomische Ebene angehen. Wir müssen auch reflektieren und verstehen, wie sehr wir selbst bereits den Begriff „Freiheit“ mit „Flexibilität“ gleichsetzen. So lange diese moderne Überzeugung in uns steckt, bleiben wir politische Gefangene dieses Systems.

Alex de Waal

Mitbegründer der Organisation „African Rights“ und Autor mehrere Bücher über Hunger, Kriege und Menschenrechte in Afrika.

Afrika war schon immer globalisiert. Die erste Ära der Globalisierung begann fünfzig Jahre vor dem Ersten Weltkrieg. Damals entwickelte Afrika seine Exportwirtschaft, die auf Bodenschätzen basiert und sich im Unterschied zu den Industriestaaten im 20. Jahrhundert nicht verändert hat. Afrika exportiert heute nicht so sehr landwirtschaftliche Produkte als vielmehr Bodenschätze wie Diamanten – und vor allem: Kapital und Menschen. Der Wert des Fluchtkapitals übersteigt in vielen afrikanischen Staaten die Höhe der Auslandsschulden. Und der braindrain nach Europa sowie in den Mittleren Osten ist beträchtlich: Das Einkommen der im Ausland Lebenden sichert vielen afrikanischen Familien das Überleben.

Die negativen Auswirkungen der heutigen Entwicklung sind schädlicher als die Folgen der früheren Globalisierungsprozesse. Das hat vor allem zwei Gründe. Zum einen breiten sich als eine Art Antwort auf die Globalisierung ein ethnisch definierter Nationalismus und ein religiöser Extremismus aus. Der zweite negative Aspekt ist die wirtschaftliche Krise der Staaten, und parallel dazu die wachsende Macht von Armeen, die sich selber unterhalten und sich damit zu einem eigenständigen potenten Wirtschaftssektor zu entwickeln drohen.

Damit ist auch der dritte und wichtigste Grund der Kriege in Afrika benannt: die Alltäglichkeit der Gewalt und die Militarisierung der Gesellschaft. Überall gibt es Waffen, überall gibt es Menschen, die militärisch ausgebildet sind, und Gewalt ist als Mittel zur Durchsetzung politischer Interessen in Afrika längst legitimiert.

Susan George

Vorsitzende des Observatoire de la Mondialisation und assoziierte Direktorin des Transnational Institute in Amsterdam.

Wie sehen diejenigen, die gegen die Folgen der Globalisierung opponieren, ihr Verhältnis zu den offiziellen Institutionen und zu den gewählten politischen Repräsentanten? Wir müssen mit ihnen arbeiten, wir sollten sie also nicht einfach abschreiben. Ich schreibe auch die UN nicht ab, aber es ist eben kein Zufall, dass der heutige UN-Generalsekretär verstärkt Kontakte mit den Großunternehmen pflegt. So hat er versucht, im Rahmen des UN-Entwicklungsprogramms mit der Industrie ins Geschäft zu kommen. Das wurde erst gestoppt, als wir eine große Kampagne begannen und ihm schrieben: Was soll das? Sie vergeben ihr Logo und ihr Prestige als UN an diese Firmen und bekommen nichts dafür zurück.

Diese Tendenz resultiert natürlich auch daraus, dass die UNO so arm ist. Sie muss sich also mit der Industrie einlassen, aber sie tut es auf eine naive Weise, denn sie fordert nicht einmal etwas dafür von der anderen Seite. Unser Erfolg zeigt, dass wir mit solchen Institutionen zusammenarbeiten müssen, wo es geht, aber zugleich auch unsere eigenen Institutionen aufbauen. Denn wir können dem IWF, der Weltbank, der WTO nicht trauen. Sie haben sattsam bewiesen, dass sie antidemokratisch und ökologisch destruktiv agieren, dass sie Instrumente der kulturellen Vereinheitlichung sind und aus demokratischer Sicht völlig unakzeptabel.

Im Sender Freies Berlin wird eine einstündige Dokumentation der Veranstaltung zu hören sein. Genaue Angaben siehe www.monde-diplomatique.de.

Le Monde diplomatique vom 16.06.2000