Der Sieg der Volksküche
Von ANNE-SOPHIE LE MAUFF *
La Ensenada de Chillon ist ein wildes Durcheinander aus Wellblech und Pappe, zusammengewürfelt auf den Sandhügeln, die sich am nördlichen Stadtrand von Lima ausbreiten. In diesem Elend vegetieren etwa 23 000 Menschen, von der Welt vergessen. Seit zwölf Jahren durchkreuzt Doktor Ore das Armenviertel am Steuer seines Oldsmobiles, um die Alleingelassenen zu behandeln und ihnen bei der Umsetzung eines Familienplanungsprogramms zu helfen. „Hier gibt es keine Infrastruktur, kein fließendes Wasser, keine Kanalisation. Dies und die Umweltverschmutzung, die Feuchtigkeit, die mangelnde Ernährung und die unhygienischen Bedingungen haben üble Krankheiten zur Folge. Medikamente sind teuer, weshalb die Leute eine medizinische Behandlung häufig wieder abbrechen. Das führt zu Resistenzen und lässt die Krankheiten chronisch werden.“
Es ist, als wäre der Fortschritt in diesen Dünen stecken geblieben, in denen ständig neue Habenichtse stranden. „Peru ist ein Land mit Zukunft“, künden Regierungsparolen von den ausgedörrten Hügeln. Dieselben Worte sind unweit auf die staubigen Mauern gepinselt.
Seit den siebziger Jahren wuchert der Elendsgürtel rund um Lima immer weiter. Die Ensenada gehört zu den vierzehn ärmsten Stadtbezirken der Hauptstadt, die pueblos jóvenes (junge Dörfer) oder asentamientos humanos (menschliche Siedlungen) genannt werden. Sonia, eine Straßenverkäuferin, die sehr jung hierher gekommen ist, erinnert sich: „Vor 25 Jahren gab es hier außer Sandhügeln und Steinen gar nichts. Aus dem Stadtzentrum von Lima, das über eine Stunde entfernt war, mussten wir das Wasser hertransportieren. Heute haben wir hier so gut wie alles. Selbst das Wasser wird in Tankwagen gebracht.“
In der Tat kommt nahezu alles, wenn auch ausschließlich über die Kanäle der Regierung. Der so genannte Fujimorismus ist seit 1992 zu einer Art langem Arm geworden, der bis in den letzten Winkel der Gesellschaft reicht. Er bringt zwar einen gewissen Fortschritt, der aber von einem System von Rechtsverletzungen begleitet ist. Das Regime stützt sich sozial wie politisch auf eine subtile Mischung aus Paternalismus und Autoritarismus, die in La Ensenada exemplarisch zu beobachten ist.
Mit dem nationalen Lebensmittelhilfsprogramm Pronaa hat Fujimori ein Netzwerk von 14 000 Volksküchen aufgebaut, in denen 998 000 Menschen aus den ärmsten Vierteln essen. Damit verfügt er zugleich über ein Wahlbarometer.
Das Herzstück des Pronaa sind die staatlich belieferten comedores populares (Volkskantinen), die sich auf die Arbeitskraft von Frauen aus armen Verhältnissen stützen. Eine der etwa 25 Kantinen, die allein in La Ensenada existieren, wird von Silvia geleitet.
Silvia äußert sich sehr ernüchtert über eine Politik, die mit der einen Hand gibt, was sie mit der anderen nimmt. Sie sitzt auf einem alten Brett, der einzigen Sitzgelegenheit in einer nackten Ziegelhütte. Ihre Stimme muss sich gegen das Gackern der Hühner und den Lärm des ständig laufenden Fernsehers behaupten: „Fujimori zwingt uns Frauen aus den Volksküchen, an seinem Geburtstag auf die Straße zu gehen, um ihm die traditionelle Geburtstagstorte zu überreichen. Die Regierung behauptet, wir würden das freiwillig tun, aber das stimmt nicht. Man droht uns, die Lebensmittelhilfe einzustellen, wenn wir nicht mit unseren Kindern hingehen. Die meisten fügen sich. Ich wurde als Revolutionärin, Senderista und Regierungsfeindin beschimpft, weil ich mich geweigert habe.“
In den Volksküchen arbeiten neben den 14 000 Leiterinnen auch 70 000 Mütter. Als Lohn erhalten sie vier bis fünf Essensrationen am Tag. In jeder Kantine werden täglich 90 Mahlzeiten zubereitet und für weniger als eine Mark verkauft, damit erfüllen sie für die Ernährung, also das Überleben in den Elendsvierteln, eine unverzichtbare soziale Funktion. „Das Problem ist nur“, betont Silvia, „dass wir mit den drei Fünfzigkilosäcken Reis, dem bisschen Nudeln und dem Öl, das wir jeden Monat bekommen, nicht über die Runden kommen.“ Die staatliche Zuteilung ist nicht ausreichend, aber ein elementarer Beitrag zum Überleben. „Sie wissen das und spielen das aus, vor allem in Wahlkampfzeiten.“
Die Menschen, die im Teufelskreis der Armut gefangen sind, leiden unter dieser permanenten und offenkundigen Erpressung. Die Staatsmacht hilft und überwacht immer zugleich, sie liefert Lebensmittel und zieht daraus einen wahlpolitischen Nutzen: „Die Kontrolleure der Regierung sagen uns, wir müssten unseren ,Ernährer` unterstützen“, erzählt Irena. „Sie hindern uns sogar daran, am Eingang der Volksküchen andere Wahlplakate als die von Fujimori aufzuhängen. Ihrer Ansicht nach sind unsere Kantinen Eigentum der Regierung.“
Die Mitarbeiter von Pronaa weisen solche Beschuldigungen natürlich zurück: „Man wirft uns Opportunismus vor, aber das ist falsch. Wir können die Menschen nicht mit einem Kilo Reis kaufen.“ Das mag sein, aber doch entwickelt das System seine Wirkung: „Wir sitzen alle in der Falle, auch ich selbst“, bekennt Silvia. Die Volksküchenfrauen sind ein Trumpf in Fujimoris Hand: gefangen zwischen der Armut auf der einen und der Regierung auf der anderen Seite, die helfend die Hand ausstreckt, um dann ihre Ernte einzufahren: „Sie werden gezwungen, auf Demonstrationen zu gehen, täglich kommen Leute vorbei, um sie zu bearbeiten. Wenn sie seinen Populismus ausnahmsweise nicht mehr schlucken wollen, werden sie bedroht. Dieses Land ist so verrottet wie nie zuvor“, schimpft Germain, ein Priester, der mit den Frauen gearbeitet hat. Eine Krankenschwester bestätigt die Praxis des Gebens, um des Nehmens willen: „Die politische Arbeit konzentriert sich auf die Kantinen. Sagen wir, es gibt fünfzig Kantinen mit jeweils vierzig Mitarbeiterinnen, dann macht das schon zweitausend Wahlkämpferinnen“.
In diesem Vielfrontenkrieg setzt Fujimori alle Waffen ein. Das reicht von der Lebensmittelhilfe bis zu der noch wirksameren Waffe des Landbesitzes. Mit berechnender Großzügigkeit legte er knapp zwei Monate vor den Wahlen ein neues Programm für Familienparzellen auf (Profam), das den Ärmsten der Armen bebaubare Grundstücke anbot. „Jeder Begünstigte musste Fujimori im Schnitt vier zusätzliche Wählerstimmen einbringen“, sagt Avendaño Valdez, ein Abgeordneter der Opposition. Für die Bewohner von La Ensenada, die sich in die Listen für den künftigen Landbesitz eingetragen haben, war Profam eine notwendige Illusion. „Ich habe einen meiner freien Nachmittage damit zugebracht, wie alle anderen in der Schlange zu stehen“, erzählt eine Frau. „Immerhin verliert man dabei nichts. Man gewinnt zwar auch nichts, aber man kann wenigstens hoffen.“
Fujimori ist an allen Fronten persönlich anwesend, und das gilt ganz besonders für die Armutsfront. „Eines ist sicher: Er mischt sich gern unters Volk“, spottet ein Architekt. „Er ist überall, nur nicht im Regierungspalast.“ Der Präsident fährt auf dem Fahrrad durch Armenviertel oder besucht weit oben in den Anden Schulen, die nicht einmal über elektrischen Strom verfügen, um dann vor laufenden Fernsehkameras das Unmögliche zu versprechen: Computer für alle. Die Tatsache, dass er in den abgelegensten und rückständigsten Gebieten eine minimale Infrastruktur aufgebaut hat, hat ihm viel Anerkennung eingebracht: „Seine Regierung hat für die ärmsten Bevölkerungsschichten einiges vollbracht“, meint Giovana Polarolo, Chefredakteurin der Zeitschrift Debate. „Die Leute sehen, dass Schulen gebaut werden, dass Wasser-, Strom- und Abwasserleitungen verlegt werden. So bekommen diese Elendsviertel, die keinerlei städtische Errungenschaften kannten, auf einen Schlag ein paar Annehmlichkeiten und in gewisser Weise einen Zugang zur Moderne.“
Bei den Wahlen im Mai 2000 gewann Fujimori im Stadtbezirk Puente Piedra, zu dem auch La Ensenada gehört, die meisten Stimmen. Dieses Wahlergebnis ist für den Sozialarbeiter Pablo keineswegs schockierend: „Das ist normal, die Leute glauben an Windmühlen. Man verspricht ihnen Lebensmittel und Grundstücke, man ködert sie über den Hunger. Wenn man im Fernsehen Coca-Cola verkaufen kann, warum nicht auch ein bisschen Fujimori?“ Den höchsten Stimmenanteil gewann Fujimori in Lima, und hier vor allem in den armen Bevölkerungsschichten. Hernán Chaparro vom Meinungsforschungsinstitut Apoyo, erklärt diesen Erfolg damit, dass er die Ressourcen der Macht geschickt genutzt hat, „um eine perverse klientelistische Beziehung zwischen Staat und Bürgern aufzubauen, die offenbar eine Zukunft hat. Hinzu kommt noch, dass für die armen Leute Versprechungen wichtiger sind als die demokratische Botschaft an und für sich.“
Der Fujimorismus hat sich so zu einer machtvollen Maschine entwickelt, die sich auf sicherem Terrain bewegt. In den letzten neun Jahren waren seine treuesten Verbündeten der Faktor Zeit und die Institutionen. Wenn wie bei den letzten Wahlen ein Hindernis auftaucht, wischt er es mit einer einzigen Handbewegung weg. Aber vielleicht ist er diesmal etwas zu weit gegangen.
dt. Miriam Lang
* Journalistin