14.07.2000

Verseuchte Arktis

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Verseuchte Arktis

DIE lange Polarnacht, die extremen Temperaturen und die langsamen Wachstumszyklen lassen die arktischen Regionen zu einem riesigen „Auffangbecken“ für Schadstoffe werden. Der Bau von Industrie- und Militäranlagen hat die besonders störanfälligen Ökosysteme stark in Mitleidenschaft gezogen. Katastrophal ist die Situation im westlichen Teil der Kola-Halbinsel, auf den Nowaja-Semlja-Inseln und in der Region von Archangelsk und Norilsk. Hauptverursacher sind die Papierfabriken von Archangelsk und die riesigen Metallkombinate zur Verarbeitung der Nickel-, Kupfer- und Phosphorvorkommen. Die zunehmenden Schwefeldioxidmissionen – auf Kola rund 600 000 Tonnen, in der Region von Norilsk rund zwei Mio. Tonnen Ende der achtziger Jahre – belasten mehr und mehr die öffentliche Gesundheit.

Im Umkreis der Industrieanlagen ist die Vegetation auf einer Gesamtfläche von Zehntausenden Hektar völlig zerstört, überall sonst stark beschädigt. Zusätzlich gelangen über atmosphärische Strömungen Schadstoffemissionen aus Westeuropa in die Region und lagern sich hier ab. Die ausgedehnten Nadelwälder sind durch den sauren Regen, aber auch durch übermäßigen Einschlag für die Bedürfnisse der holzverarbeitenden Industrie bedroht. In weiten Gebieten ist der Boden durch kontaminierte Niederschläge hochgradig mit Schwermetallen belastet (Kupfer, Nickel und Zink). Die Wasserqualität der Fließgewässer ist relativ schlecht. Nicht selten finden sich hohe Konzentrationen von Lignosulfonaten (aus der Papierherstellung), Ammoniak, Phenolen und Methanol. Die kleineren Wasserläufe auf der Kola-Halbinsel sind mit Schwermetallen aus den Abwässern von Bergwerken und Gießereien geradezu gesättigt.

Eine weitere Gefahr für die Region ist der massive Einsatz von Atomkraft für zivile und militärische Zwecke. Die meisten der über einhundert Atomversuche in den Jahren 1955 bis 1990 fanden auf dem Inselarchipel von Nowaja Semlja statt. Große Mengen fester und flüssiger radioaktiver Abfälle wurden in der Barents- und in der Karasee versenkt. Die Nordflotte mit ihren atomgetriebenen Eisbrechern und U-Booten, die trotz teilweiser Entwaffnung immer noch ihre Antriebsreaktoren enthalten, ist in der Gegend von Murmansk auf mehrere Stützpunkte entlang der Nordküste der Kola-Halbinsel verteilt. Das Atomkraftwerk von Poljarny wurde von der Internationalen Atomenergie-Organisation (IAEO) als „gefährlich“ eingestuft. Und schließlich hat die UdSSR zwischen 1969 und 1988 zwanzig Atomsprengköpfe beim Bau öffentlicher Infrastrukturanlagen und in Bergwerken eingesetzt. Die meisten dieser Aktivitäten finden in den amtlichen Berichten keine Erwähnung; über die radioaktive Verseuchung der Region ist daher sehr wenig bekannt.

Ph. Re.

Le Monde diplomatique vom 14.07.2000, von Ph. Re.