11.08.2000

Hilfe, Herr Doktor, ich finde keinen Schlaf!

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Hilfe, Herr Doktor, ich finde keinen Schlaf!

Von EDUARDO GALEANO *

SECHS Fliegen brummen in meinem Schädel und lassen mich nicht schlafen. Der Schwarm ist in Wahrheit viel größer, aber ich sage sechs, um mich kurz zu fassen. Nun beschreibe ich einige der Ängste, die mich nachts plagen. Absolut kein Fliegendreck, wie man gleich sehen wird. Immerhin geht es um das Schicksal der ganzen Welt.

Wird die Welt ohne Lehrer auskommen müssen?

NACH einem Bericht der Zeitung The Times of India gibt es in der Stadt Muzaffarnagar, im Westen des Bundesstaates Uttar Pradesh, eine Schule des Verbrechens, die sich großer Beliebtheit erfreut.

Dort wird den Jugendlichen eine Ausbildung auf höchstem Niveau geboten, dank derer man leicht zu Geld kommen kann. Einer der drei Direktoren, der Pädagoge Susheel Mooch, leitet einen Speziallehrgang, in dem neben anderen Fächern die Gegenstände Menschenraub, Erpressung und Hinrichtung unterrichtet werden. Seine beiden Kollegen widmen sich eher herkömmlichen Lernstoffen. Für alle Klassen sind Praktika vorgeschrieben. Zum Beispiel wird das Fach Diebstahl auf Autobahnen und Landstraßen auch außerhalb des Schulgebäudes gelehrt: Die Schüler müssen in geduckter Stellung vom Straßenrand aus einen Metallgegenstand auf das von ihnen gewählte Auto werfen. Sobald der Fahrer auf das Geräusch aufmerksam geworden ist und den Wagen anhält, fallen die Schüler unter Aufsicht der Lehrkraft über ihn her.

Laut Auskunft der Direktoren erfüllt die Schule ein Bedürfnis des Marktes und eine soziale Funktion. Der Markt verlangt eine immer höhere Spezialisierung auf dem Gebiet des Verbrechens, und die Erziehung zum Kriminellen ist die einzige, die den Jugendlichen eine gutbezahlte und dauerhafte Arbeit garantiert.

Ich fürchte sehr, sie haben Recht. Und mich schreckt die Vorstellung, dass das Beispiel in Indien und überall sonst auf Erden Nachahmer finden könnte. Was wird, frage ich mich, aus den armen Lehrern in den traditionellen Schulen, die schon jetzt mit Hungerlöhnen und dem geringen oder gänzlich fehlenden Interesse ihrer Schüler bestraft sind? Wie vielen Lehrern wird es gelingen, sich umschulen zu lassen und den Erfordernissen der modernen Gesellschaft gerecht zu werden? In meinem Bekanntenkreis ist keiner dazu imstande. Ich weiß mit Sicherheit, dass sie unfähig sind, auch nur einer Fliege etwas zu Leide zu tun, und ihr Talent reicht nicht einmal aus, um eine allein stehende lahme alte Frau zu überfallen. Was werden diese Nichtsnutze in der Welt von morgen unterrichten?

Wird die Welt ohne Präsidenten auskommen müssen?

MAN sagt, sagt man, sagte jemand, dass der Präsident eines lateinamerikanischen Staates eines Tages nach Washington fuhr, um die Auslandsschulden neu zu verhandeln. Nach seiner Rückkehr gab er den Bürgern seines Landes eine gute und eine schlechte Nachricht bekannt: „Die gute Nachricht ist die, dass unsere Schulden bis auf den letzten Centavo getilgt sind. Die schlechte, dass alle Einwohner unser Land binnen vierundzwanzig Stunden verlassen müssen.“

Die Länder gehören ihren Gläubigern. Die Schuldner schulden Gehorsam. Und gutes Benehmen zeigt man, indem man den Sozialismus praktiziert, aber den verkehrten Sozialismus, bei dem die Gewinne privatisiert und die Verluste sozialisiert werden.

„Wir machen brav unsere Hausaufgaben.“ Diesen Satz habe ich, binnen weniger Monate, von Carlos Menem, damals noch Präsident Argentiniens, und von seinem mexikanischen Kollegen Ernesto Zedillo vernommen.

Bei dem Tempo, das wir vorlegen, wird bald auch die Luft privatisiert sein, und dann werden die Experten eintreffen und erklären, dass diejenigen, die Luft gratis verbrauchen, ihren Wert nicht zu schätzen wissen und es deshalb nicht verdienen zu atmen. Alles oder fast alles ist privatisiert, beispielsweise in Argentinien, Brasilien, Chile und Mexiko. In diesen Ländern hieß es, um die Auslandsverschuldung loszuwerden, müsse eben privatisiert werden – und heute sind ihre Schulden doppelt so hoch wie vor zehn Jahren.

Und das ist ein weiterer Grund meiner Angstzustände: Ich ahne, dass die Gläubigerbanken eines Tages die Präsidenten rauswerfen und dass dann die Bankiers deren Platz einnehmen, mit der Losung: Schluss mit den Mittelsmännern!

Und Nacht für Nacht wälze ich mich im Bett und frage mich, was aus all diesen Leuten werden soll. Wo wird eine so hoch qualifizierte Arbeitskraft wohl unterkommen? Werden die Präsidenten jeden Job annehmen? Vor McDonald’s steht schon eine lange Schlange Arbeitssuchender.

Wird die Welt ohne Gesprächsstoff auskommen müssen?

DIE spektakuläre Entwicklung der Technologie hat es ermöglicht, dass alle globalen Weltbürger mehr als 365 Tage lang, das ganze Jahr 1998 hindurch und sogar noch 1999, voller Spannung das große Ereignis des ausgehenden Jahrhunderts verfolgen durften: die sexuellen Heldentaten der Monica Lewinsky im ovalen Saal des Weißen Hauses.

Die globalisierte Lewinskysierung hat es jedem von uns, noch im entlegensten Winkel der Welt, gestattet, noch am kleinsten Detail dieses wahren Menschheitsepos als Leser, Zuseher und -hörer teilzuhaben. Die großen Kommunikationsmedien haben uns tausende Möglichkeiten geboten, zwischen ein und demselben Thema zu wählen.

Aber das ist vergangen, so wie das Alte Griechenland und das Römische Reich vergangen sind, und seither wissen die großen Zeitungen, die riesigen Fernsehkanäle und Rundfunkanstalten nicht mehr, worüber sie berichten sollen. Ich hatte die Hoffnung, dass ein weiteres Sexgate ausbrechen würde, als mir jemand erzählte, er habe aus gut informierten Kreisen erfahren, Außenministerin Madeleine Albright werde den Präsidenten wegen sexueller Belästigung verklagen. Aber dann habe ich nie mehr was darüber gehört, und ich werde den Verdacht nicht los, dass es sich um ein gemeines Gerücht gehandelt hat, unwürdig, im Mittelpunkt universeller Aufmerksamkeit zu stehen.

Auch das raubt mir den Schlaf, jetzt, wo die Journalisten sich soziale Kommunikatoren nennen: Was werden sie der Gesellschaft kommunizieren? Wovon werden sie ihren Lebensunterhalt bestreiten? Noch eine Menge Arbeitsloser, die auf der Straße landen?

Wird die Welt ohne Feinde auskommen müssen?

DIE Vereinigten Staaten und ihre Bündnispartner in der Nato haben schon seit geraumer Zeit keinen Krieg mehr fabriziert. Die Todesindustrie wird langsam nervös. Die ungeheuren Militärausgaben bedürfen ihrer Rechtfertigung, und die Waffenproduzenten finden keine Gelegenheit, ihre neuen Modelle vorzustellen.

Gegen wen wird sich der nächste humanitäre Einsatz richten? Wer wird der nächste Feind sein? Wer wird im nächsten Film den Bösewicht geben, wer den Satan in der kommenden Hölle? Das macht mir große Sorgen. Ich habe nachgelesen, welche Gründe angeführt wurden, um den Irak und Jugoslawien zu bombardieren, und bin zum alarmierenden Schluss gekommen, dass es ein Land gibt, ein einziges, das alle Voraussetzungen erfüllt, alle, wirklich alle, um in Schutt und Asche gelegt zu werden.

Dieses Land ist der Hauptverursacher für die Instabilität der Demokratie auf dem ganzen Planeten, aufgrund seiner alten Gewohnheit, Staatsstreiche und Militärdiktaturen zu fabrizieren. Dieses Land stellt eine Gefahr für seine Nachbarn dar, die es seit jeher häufig überfällt. Dieses Land produziert, lagert und verkauft die größte Menge an chemischen und bakteriologischen Waffen. In diesem Land gibt es den weltweit größten Drogenmarkt, und in seinen Banken werden Milliarden Dollar aus dem Drogengeschäft weißgewaschen. Die nationale Geschichte dieses Landes ist ein langer Krieg ethnischer Säuberung, zuerst gegen die Ureinwohner, dann gegen die Schwarzen; und dieses Land ist, erst vor ein paar Jahren, hauptverantwortlich für einen ungehemmten Völkermord gewesen, bei dem 200 000 Guatemalteken ausgerottet worden sind, zum überwiegenden Teil Maya-Indianer.

Werden sich die Vereinigten Staaten selbst bombardieren? Werden sie sich selbst überfallen? Werden sie so konsequent sein und gegen sich so vorgehen, wie sie gegen andere vorgehen? Tränen benetzen mein Kissen. Gott möge ein solches Unglück von dieser großen Nation abwenden, die niemals bombardiert worden ist.

Wird die Welt ohne Banken auskommen müssen?

AM 14. Dezember 1998 veröffentlichte das Wochenmagazin Time den Bericht des US-Kongresses über das Verschwinden von 100 Millionen Dollar, die aus dem Rauschgifthandel in Mexiko stammten. Der Parlamentsausschuss, der die Angelegenheit untersucht hat, kam zu dem Ergebnis, dass es die Citibank war, die jenen märchenhaften Drogenschatz durch fünf Länder gelotst sowie Phantomfirmen und Phantasienamen erfunden hatte, um jede Spur zu verwischen.

Die nordamerikanischen Gefängnisse, die weltweit am meisten bevölkerten, sind voll mit jungen, armen, schwarzen Drogensüchtigen; aber die Citibank, leuchtender Stern am Firmament der Finanzwelt, wurde nicht eingesperrt. Ehrlich gesagt ist auch niemand auf die Idee gekommen. Trotzdem, die Lektüre des Untersuchungsberichts hat mich nachdenklich gemacht. Es stimmt zwar, dass diese große Bank weiterhin in Freiheit wachsen und gedeihen kann. Und dass die Seife Citibank, das Waschpulver Banque Suisse, der Fleckenlöser Bahamas und viele andere Marken, die in den besten Weißwaschsalons verwendet werden, nach wie vor Rekordverkäufe auf dem Weltmarkt für Reinigungsartikel erzielen, und zwar völlig unbehelligt. Aber ich kann nicht anders, ich muss an die Gefahr denken, die da lauert.

Was würde geschehen, wenn man eines schönen Tages aufhörte, die Drogenindustrie mit einem Krieg gegen die Drogensüchtigen zu bekämpfen, der die Opfer bestraft? Wenn also die Waffen ihr Ziel änderten, weiter nach oben gerichtet würden? Was würde jetzt, wo die Wirtschaft verstorben ist und nur die Finanzen existieren, aus einer Welt ohne Banken? Und was aus dem armen Geld, wenn es dazu verurteilt ist, durch die Straßen zu streunen, wie die Obdachlosen? Beim bloßen Gedanken daran krampft sich mein Herz zusammen.

Wird die Welt ohne Welt auskommen müssen?

IRGENDWANN im Oktober 1998, mitten im Zeitalter Lewinsky, stieß ich auf eine unbedeutende Notiz, die am unteren Rand auf irgendeiner Seite irgendeiner Zeitung versteckt war. Drei Umweltorganisationen – WWF International, New Economics Foundation und World Conservating Monitoring Centre – hatten herausgefunden, dass die Welt in den letzten dreißig Jahren fast ein Drittel ihrer natürlichen Reichtümer verloren hat. Das sei die größte Umweltkatastrophe seit der Zeit der Dinosaurier, und die Wiederbeschaffung der ausgerotteten Pflanzen und Tierarten würde nicht weniger als fünf Millionen Jahre in Anspruch nehmen.

Seit ich diese kleine Notiz gelesen habe, hat eine neue Unruhe von mir Besitz ergriffen. Ich werde das Gefühl nicht los, dass die Pflanzen und Tiere einmal über uns das Jüngste Gericht halten werden. In meinen Wahnvorstellungen sehe ich uns alle vor Anklägern stehen, die mit Pfote oder Zweig auf uns deuten:

„Was haben Sie aus diesem Planeten gemacht? In welchem Supermarkt haben Sie ihn gekauft? Wer hat Ihnen das Recht gegeben, uns zu misshandeln und zu vernichten?“

Und ich sehe ein Hohes Gericht aus Gewürm und Kraut, das die Spezies Mensch zu ewiger Verdammnis verurteilt.

Werden wir zu Recht für unsere Sünden büßen? Werde ich meine Ewigkeit in der Hölle absitzen, in Gesellschaft erfolgreicher Unternehmer, die den Planeten ausgelöscht haben, und ihrer bestechlichen Politiker und Kriegsführer und Marketingexperten, die Gift in grünem Cellophan verkaufen?

Mich plagen kalter Schweiß und Schüttelfrost. Früher war ich der Meinung, das Jüngste Gericht sei eine Sache Gottes. Schlimmstenfalls würde ich einst auf dem ewigen Grill zusammen mit Massenmördern, Talkshowtanten und Literaturpäpsten geröstet werden. Heute kommt mir so ein Schicksal vergleichsweise harmlos vor.

Aus dem Spanischen von Erich Hackl

* Uruguayischer Schriftsteller. Autor von „Die offenen Adern Lateinamerikas“ (1992) und „Das Buch der Umarmungen“ (1991). In diesem Jahr ist „Die Füße nach oben. Zustand und Zukunft einer verkehrten Welt“ erschienen (alle lieferbar beim Peter Hammer Verlag, Wuppertal).

Le Monde diplomatique vom 11.08.2000, von EDUARDO GALEANO