15.09.2000

Während Sie träumen

zurück

Während Sie träumen

Von JOHN BERGER *

MONSIEUR le Maire – Sehr geehrter Herr Bürgermeister!

Man hat mich gebeten, Ihnen zu schreiben, während Sie träumen. Keine einfache Aufgabe. Träume haben ihre eigene Art, Sprünge und Umwege zu machen und gewisse Dinge zu verdecken. Sie haben ihre eigene Form von Geheimnis und eine besondere, ebenso innige wie unerklärliche Beziehung zu dem, was wahr sein kann. Ich muss auf Zehenspitzen gehen, um Sie nicht aufzuwecken, und obendrein auf Umwegen, sonst würde Ihr Traum abbrechen. In einem Traum ist nichts ohne Bedeutung.

Das Gefängnis Saint Joseph in Lyon wurde in den Jahren 1829 und 1830 erbaut. Es liegt direkt an der Rhône, kurz vor dem Zusammenfluss mit der Saône.

Vierzig Jahre später wurde neben dem Gefängnis Saint Joseph ein zweites Gefängnis, Saint Paul, errichtet – mit einem sechseckigen Grundriss, unter Anwendung neuer Bautechniken mit viel Eisen. Es sollte als Frauengefängnis dienen. Statt Zellen hatte es vier lange Schlafsäle.

Heute bilden die beiden Gebäude, die durch einen unterirdischen Gang miteinander verbunden sind, die zentrale Haftanstalt von Lyon – für Menschen beiderlei Geschlechts. Die Schlafsäle hat man durch Zellen ersetzt. Leute, die Bekanntschaft mit diesem Gefängniskomplex gemacht haben, nennen ihn La Marmite du diable – „Teufelskochtopf“.

Die meisten Theorien über oder Pläne für das Gefängnis scheitern daran, dass sich die Praxis allem widersetzt – allem, was man sich ausgedacht hat. Das Eingeschlossensein, die Art, wie die verschiedenen Räume miteinander verbunden sind, die Zeitpläne, die Vorschriften, die Isolation und die Überbelegung – das alles fördert Unvorhersehbares zutage, für das manche Häftlinge anfälliger sind als andere, demgegenüber jedoch alle, die drinnen sind – auch die Aufseher und sogar der Direktor – in gewissen Augenblicken machtlos sind.

Die Gefängnisse werden so geplant und so belegt, dass die Überwachung – auch die elektronische – jederzeit eine maximale Kontrolle über die Inhaftierten ausübt. Dennoch ist das Unkontrollierbare in der Praxis ständig gegenwärtig. Es gibt auf dieser Erde keine andere Institution, in der es so schnell hervorbrechen kann wie im Gefängnis.

Am Punkt der tiefsten Verzweiflung werden die Menschen entweder weise, oder sie geraten außer Kontrolle – entgleiten der Kontrolle durch ein System wie der Selbstkontrolle. Das Unkontrollierbare und die Weisheit sind in dieselbe Zelle gesperrt, hinter dieselbe Tür der absoluten Verzweiflung.

Es kommt vor, dass die Unkontrollierbarkeit in den Körper des Gefangenen eindringt. Dieses Phänomen „erklärt“ die häufigen Fälle von Selbstverstümmelung. Die Menschen fügen sich absichtlich Verletzungen zu, weil das Gefängnis und seine Unkontrollierbarkeit in ihren Körper eingedrungen sind. Nichts hält irgendetwas zurück. Nicht dem Ich wird die Verstümmelung angetan, sondern dem, was in das Ich eingedrungen ist, noch bevor der Löffel, die Glasscherbe, das Messer verschluckt ist.

Wer war Delandine? Vielleicht war es der Spitzname einer Frau? Sicher ist, dass nach ihr eine Straße benannt wurde, die kurze, schmale Straße, die die beiden Gefängnisse trennt.

Nach Mitternacht und an Wochenenden füllt sich diese Straße, die tagsüber meist verlassen daliegt, mit Leuten, die gekommen sind, um mit den eingeschlossenen Gefangenen zu sprechen, um ihnen über die hohen Mauern Worte zuzuwerfen. Manche Rufe kehren wie Bumerangs zurück. „Ich liebe dich auch!“ Aus einem anderen Fenster: „Hau ab, lass mich in Ruhe!“

Die Besucher kommen nach Mitternacht in die Rue Delandine, weil dann der Lärm der Stadt nachgelassen hat und man leichter hören und gehört werden kann. Aber montagabends ist oft niemand da. Montags füllt sich die Stille der Straße mit etwas anderem.

Träumen Sie ruhig weiter, Monsieur, vielleicht spüren Sie es dann. Hinter den Mauern, jenseits des schmalen Rinnsteins, auf der rechten und der linken Seite, gleich hinter dem zweiten Mauermantel ahnt man gestapelten Schlaf – und diesem Schlaf gegenüber, ihn fast berührend, die völlige Gleichgültigkeit der behauenen Steine, der Gitterstäbe, der Ziegel – sonderbar kongruent, noch grausamer als die Erde, die sich um Leichen legt.

Welches Gebäude beherbergt Ihrer Meinung nach die meisten Träume, Monsieur? Die Schule? Das Theater? Das Kino? Die Bibliothek? Das Interconti? Die Diskothek? Und wenn es das Gefängnis wäre?

Zunächst einmal ist das moderne Gefängnis auf einer Reihe von Träumen errichtet – dem Traum von der bürgerlichen Gerechtigkeit, dem Traum von der Besserung, dem Traum vom tugendhaften Gemeinwesen. Und dann sind da die Träume, die jetzt dort geträumt werden, Nacht für Nacht. Zu ihnen gehören natürlich auch die Alpträume und die Schrecken der Schlaflosigkeit. Unter bestimmten Bedingungen kann der Schlaflose, genau wie der Träumende, jeden Sinn für Raum und Zeit verlieren.

Hinter den Mauern, jenseits der schmalen Rinnsteine, gibt es den großen, wiederkehrenden Traum vom Entkommen und bei den Aufsehern den wiederkehrenden Alptraum von der Gefangenenrevolte. Außerdem die endlose Folge kleiner Träume. Der Traum vom Meer – die Rhône ist nur eine Gartenlänge weit entfernt, und die Tauben, die die Drahtgitter vollscheißen, segeln über den Fluss hinaus. Der Traum, mit dem TGV nach Paris zu fahren: Jede Stunde fährt einer, und die Strecke führt noch näher am Gefängnis vorbei als die Rhône. Träume von einer Privatsphäre, von einer Zeit und einem Raum, die einem selbst gehören. Einen Tag aussuchen – zum Beispiel, Samstag, den 6. Mai –, um etwas zu tun, zu dem man sich selbst entschlossen hat! Samstag besuche ich den Schwager in Bapaume. Oder: Am Samstag gehe ich auf den Friedhof von Clamart, und dort werde ich unter den Blumen auf dem Grab meines Freundes die Wodkaflasche finden und einen Schluck auf ihn trinken. (Der lebte 27 Jahre in einer anderen Art von Gefängnis.)

Frauenträume. Träume von offenen Türen. Der Traum vom Ausgehen am Samstagabend. Ein wütender Traum vom Mit-allem-Schluss-Machen. Ein Traum davon, keine Fehler mehr zu machen. Und dann der vielleicht beständigste Traum von allen, so allgegenwärtig wie keiner sonst. In Saint Joseph, in den Isolationszellen, im prétoire, wo zweimal in der Woche die Strafen wegen Aufsässigkeit verabreicht werden, in den Duschen, im Hof mit dem Dach aus Drahtgeflecht, in dem sich Abfälle verfangen, wo eigentlich Sterne sein könnten, träumen Menschen, auf allen Vieren kriechend oder vor dem Fernseher sitzend, auf den Treppen, in der Arrestzelle, abwechselnd fluchend und schweigend, Tag und Nacht, jahrein, jahraus, plötzlich von ihren tausend Müttern: Viele von diesen Müttern sind verschwunden oder tot und bahnen sich nun um so leichter ihren Weg durch die Gefängnismauern.

Und wenn sie einmal im Inneren der Haftanstalt angelangt sind, dann erzählen manche von ihnen ihren Kindern Geschichten. Sehr viele Geschichten. Hier ist eine, Monsieur.

Es war einmal ein Mann, der nahm jeden Morgen ein Messer, schnitt von seinem Brot ein ungefähr zehn Zentimeter langes Stück ab, warf es weg und schnitt sich dann für sein Frühstück eine anderes Stück ab. Der Mann tat das, weil jede Nacht die Mäuse ein Loch in das weiche Innere seines Brotes fraßen. Jeden Morgen war das Loch ungefähr so tief, wie eine Maus lang ist. Die Katzen im Hause waren zwar große Maulwurfjäger, aber für die grauen Mäuse, die das Brot fraßen, interessierten sie sich sonderbarerweise nicht, als hätten die Mäuse sie bestochen.

So ging es monatelang. Oft hatte der Mann „Mausefalle“ auf seinen Einkaufszettel geschrieben. Und oft hatte er es vergessen, vielleicht weil das Geschäft, wo die Leute aus dem Dorf früher Mausefallen gekauft hatten, nicht mehr da war. Eines Nachmittags nun sucht dieser Mann im Schuppen neben dem Haus nach einer Metallfeile. Er findet zwar keine Feile, dafür aber eine stabile, offenbar selbst gebaute Mausefalle. Sie besteht aus einem 18 x 9 cm großen Brettchen, über dem sich ein Käfig aus starkem Draht wölbt. Nirgendwo ist der Abstand zwischen zwei parallelen Drähten größer als 5 mm – eine Maus kann die Nase hindurchschieben, aber die Ohren nicht. Der Käfig ist 8,5 cm hoch, so kann sich eine Maus im Inneren auf ihre starken Hinterbeine setzen, kann mit den vier Fingern ihrer Vorderpfoten das Gitter über sich ergreifen und die Schnauze zwischen den Drähten hindurchschieben, ohne doch je zu entkommen.

An einer Seite des Käfigs ist eine Tür, die sich nach oben aufklappen lässt. Eine Spiralfeder spannt sich, wenn man die Tür öffnet, und wenn die Feder zurückschnellt, reißt sie die Tür zu. Oben auf dem Käfig läuft ein Draht entlang, der die Tür offen hält. Dieser Draht ragt aber nur weniger als einen Millimeter über den Türrahmen hinaus. Der Draht, der in das Innere des Käfigs führt, endet in einem Haken, an dem ein Stück Käse oder rohe Leber befestigt wird. Die Maus tapert in den Käfig hinein, um sich einen Bissen zu holen. Kaum hat sie den Happen mit den Zähnen berührt, da löst der Mechanismus die Halterung, und die Tür schnappt zu, bevor sich die Maus auch nur umgesehen hat. Es dauert mehrere Stunden, bis die Maus begreift, dass sie zwar unversehrt, aber gefangen ist – in einem 18 x 9 cm großen Käfig. Danach hört etwas in ihr nicht mehr auf zu zittern.

Der Mann nimmt die Mausefalle mit ins Haus. Er probiert sie aus. Er befestigt ein Stück Käse an dem Haken und stellt die Mausefalle auf die Anrichte des Küchenschranks, in dem er sein Brot aufbewahrt.

Am nächsten Morgen findet der Mann eine graue Maus im Käfig. Den Käse im Käfig hat sie nicht angerührt. Seit sich das Türchen hinter ihr geschlossen hat, ist der Maus der Appetit vergangen. Als der Mann die Mausefalle in die Hand nimmt, versucht sich die Maus hinter der mit der Tür verbundenen Feder zu verstecken. Sie hat tiefschwarze Augen, die den Mann, ohne zu blinzeln, anstarren. Er stellt den Käfig auf den Küchentisch. Je länger er in den Käfig sieht, desto mehr scheint ihm die dort sitzende Maus einem Känguru zu ähneln. Stille tritt ein. Die Maus beruhigt sich ein wenig. Dann fängt sie an, in ihrem Käfig herumzulaufen, prüft unablässig mit den Fingern ihrer Vorderpfoten den Raum zwischen den Drähten, sucht eine Ausnahme. Sie versucht, die Drähte mit den Zähnen zu zerbeißen. Schließlich setzt sie sich auf ihr Hinterteil, die Vorderpfoten an der Schnauze. Es kommt selten vor, dass jemand einer Maus so lange zusieht, wie es der Mann jetzt tut. Und umgekehrt.

Stimmen von der Rue Delandine unterbrechen hier die Geschichte.

Sag Alex, er soll Geld schicken!

Hab ich schon gemacht.

Sag ihm, wenn er nichts schickt, geht er hoch!

Ich kann dich nicht verstehen.

Dann geht er eben hoch.

Der Mann nimmt den Käfig mit auf ein Feld außerhalb des Dorfes, stellt ihn ins Gras und öffnet die Tür. Es dauert eine Minute, bis die Maus begreift, dass die vierte Wand verschwunden ist. Mit der Schnauze prüft sie den freien Raum. Dann schießt sie hinaus und versteckt sich blitzschnell im erstbesten Grasbüschel.

Ich warte auf dich, Jacko. Ich liebe dich, Jacko. Ich liebe dich. Egal, wie lang es dauert, Jacko, ich warte auf dich.

Am nächsten Morgen findet der Mann eine andere Maus im Käfig. Sie ist größer und dicker als die erste, aber lebhafter. Vielleicht ist sie älter. Der Mann stellt den Käfig auf den Fußboden und setzt sich daneben, um die Maus zu beobachten. Sie klettert an den Eisendrähten nach oben und lässt sich von dort kopfüber herunterhängen.

Verzeih mir, Toni, hörst du mich? Verzeih mir!

Als der Mann auf dem Feld das Türchen öffnet, ergreift die alte Maus im Nu die Flucht, schlägt ein paar Haken und ist verschwunden.

Eines Morgens findet der Mann zwei Mäuse im Käfig. Es ist schwer zu sagen, ob die eine Maus um die Anwesenheit der anderen weiß, und ob das ihrer beider Angst vermindert oder vermehrt. Die eine hat größere Ohren, und ihr Fell glänzt mehr. Mäuse ähneln Kängurus wegen der relativ großen Kraft ihrer Hinterbeine und wegen der Art, wie sie sich beim Springen mit ihrem kräftigen Schwanz vom Boden abdrücken.

Ich muss Jo-Jo eine Nachricht übermitteln. Jo-Jo fragt, wie es dir geht, Lenuta.

Sag ihm, wenn es nicht besser wird, arbeite ich nächsten Monat an der Fernfahrerstraße bei Warschau.

Keine gute Nachricht.

Sag ihm, er hat mir keine andere Wahl gelassen.

Steck dir eine Pistole in die Handtasche, Lenuta.

Sag ihm, an der gleichen Straße verkaufen alte Bäuerinnen Blaubeeren.

Den Russen darfst du nicht trauen. Er ist verrückt. Deshalb ist er da drin. Jo-Jo ist verrückt. Lenuta!

Als der Mann auf dem Feld die vierte Wand wegschiebt, zögern die beiden Mäuse nicht. Sie machen sich sofort aus dem Staub, Seite an Seite – und dann biegen sie in verschiedene Richtungen ab, die eine nach Osten, die andere nach Westen.

Hörst du mich, Gilles? Gilles, sag mir, ob du mich hörst. Gilles, ich habe dir heute ein Paket mit den Esssachen geschickt, die du haben wolltest. Und die Pfefferminzschokolade, die du so magst ...

Das Brot im Schrank ist kaum angerührt. Als der Mann den Käfig hochhebt, reagiert die Maus mit der üblichen Panik, bewegt sich aber schwerfälliger. Er geht hinaus, um die Post zu holen und kurz mit dem Briefträger zu plaudern. Als er zurückkommt, sind im Käfig neun neugeborene Mäuse. Wohlgeformt. Rosa. Jede doppelt so groß wie ein Langreiskorn.

Nein, Monsieur, wachen Sie nicht auf. Keine Sorge. Bedenken Sie, diese Geschichte wird von einer Mutter erzählt. Hören Sie ihr zu, während Sie träumen.

Nach zehn Tagen fragt sich der Mann, ob von den Mäusen, die er auf dem Feld freigelassen hat, einige womöglich wieder zu ihm ins Haus kommen. Er denkt darüber nach und gelangt zu dem Schluss, das sei unwahrscheinlich. Er beobachtet jede von ihnen so genau, dass er überzeugt ist, er würde sie, wenn sie zurückkäme, sofort erkennen.

Harry! Ich bin’s! Mittwoch konnte ich nicht, Harry. Aber heute abend bin ich da!

Harry hat mir gesagt, ich soll dir Bescheid sagen, falls du kommst. Er ist im Krankenhaus. Er wollte nicht. Aber sie haben ihn ins Krankenhaus mitgenommen, die Beine gefesselt und mitgenommen.

Die Maus im Käfig hält den Kopf schräg, als trüge sie eine Mütze. Ihre Vorderpfoten mit den Fingern liegen zu beiden Seiten ihrer Schnauze fest auf dem Boden, wie die Hände eines Pianisten auf den Tasten eines Klaviers. Die Hinterbeine hat sie dicht am Körper nach vorn gestreckt, so dass sie ihr fast bis unter die Ohren reichen. Die Ohren sind gespitzt, und ihren langen Schwanz drückt sie fest auf den Käfigboden. Ihr Herz klopft sehr schnell, und sie erschrickt, als der Mann den Käfig hochhebt. Aber sie versteckt sich nicht hinter der Feder; sie duckt sich nicht. Mit erhobenem Kopf starrt sie zurück. Zum erstenmal fällt dem Mann ein Name für die Maus ein. Er nennt sie Alfredo. Er stellt den Käfig auf den Küchentisch, neben seine Kaffeetasse.

Später geht der Mann aufs Feld, kniet sich hin, stellt den Käfig ins Gras und hält die Tür offen, die die vierte Wand der Zelle ist. Die Maus nähert sich der offenen Wand, hebt den Kopf und springt. Sie schlüpft nicht davon, sie schießt nicht heraus, sie fliegt. Gemessen an ihrer Körpergröße, springt sie höher und weiter als ein Känguru. Sie springt wie eine Maus, die ihre Freiheit wiedererlangt hat. Mit drei Sprüngen bringt sie mehr als fünf Meter hinter sich. Und der Mann, immer noch auf den Knien, sieht zu, wie die Maus, die er Alfredo genannt hat, wieder und wieder in den Himmel springt.

Wir fangen noch mal von vorn an, Liebling, ganz von vorn.

Am nächsten Morgen ist das Brot unberührt. Und der Mann glaubt, die Maus im Käfig könnte die letzte sein. Er geht aus dem Dorf hinaus, aufs Feld, kniet sich hin, hält die Tür auf und wartet. Die Maus braucht lange, ehe sie begreift, dass sie hinaus kann. Als sie den Käfig schließlich verlässt, schlüpft sie in das dickste, nächstgelegene Grasbüchel, und den Mann überkommt eine leichte, aber doch deutlich spürbare Enttäuschung. Er hatte gehofft, noch einmal in seinem Leben einen Gefangenen fliegen zu sehen, noch einmal zu sehen, wie ein Häftling seinen Traum von der Freiheit verwirklicht.

Monsieur le Maire, Sie träumen noch, nicht wahr? Der erste Schritt in Ihrem großen Plan zur Umgestaltung des Zentrums von Lyon (in jenem Plan, dem sie den magischen Namen Confluence – Zusammenfluss – gegeben haben) soll, wenn ich richtig verstanden habe, darin bestehen, die Gefängnisse St. Joseph und St. Paul abzureißen.

Was soll an ihre Stelle treten? Ich würde Ihnen gern einen Vorschlag machen. Die Fläche, die die beiden Gefängnisse einnehmen, ist klein. Zwei Hektar vielleicht. Stellen Sie sich vor, man machte daraus einen Garten mit Apfelbäumen, den man zugleich als öffentlichen Park nutzen und genießen könnte. Es wäre der erste Apfelgarten der Welt, der im Zentrum einer Großstadt liegt! Die Blüten im Frühling und die Früchte Ende Oktober wären ein Andenken an all die Träume, die hier geträumt worden sind. Hier, Monsieur, wenn ich dieses Wörtchen unterstreichen darf – hier.

Vor kurzem, Monsieur, habe ich meinen Freund Zima Lewandowski in der Nähe von Zamosc besucht, nicht weit von der ukrainischen Grenze. Er ist einer der bedeutendsten Forstingenieure Polens; er hat eine neue Methode zur Altersbestimmung von Bäumen erfunden. Wälder bilden nämlich eine Art Skript, und Leute, die etwas davon verstehen, können sich da manchmal fast als Etymologen betätigen. Wenn Zima spricht, dann immer mit einer eigentümlichen Genauigkeit. Ich habe ihm von unserem Projekt erzählt – dem Projekt, von dem Sie träumen, Monsieur –, von dem Apfelgarten im Zentrum von Lyon, und ich habe ihn gefragt, welche Apfelsorte am besten geeignet sei dafür. Er überlegte eine Zeitlang, fragte mich nach dem Klima und den Witterungsverhältnissen in der Stadt und sagte dann: „Spartaner! Spartaner wären für dort am besten geeignet. Es sind späte Äpfel, man pflückt sie im Oktober, und richtig gelagert halten sie den ganzen Winter.“

Man könnte den Park Le Verger Delandine – Delandines Obstgarten – nennen, nicht wahr? Was die Spartaner angeht – wenn sie reif sind, bekommen sie so ein rauchiges Rot, wie ein Mineral, das man aus der Erde gebuddelt hat. Die Bäume, sagt Zima, sollten in Abständen von sechs bis acht Metern gepflanzt werden. Die jetzigen Zellen messen 3 Meter auf 3,60.

Aus dem Englischen von Reinhard Kaiser

* Schriftsteller; John Berger verfasste diesen offenen Brief als Antwort auf eine Anfrage des Parlamentsabgeordneten und stellvertretenden Bürgermeisters von Lyon, Henry Chabert.

Le Monde diplomatique vom 15.09.2000, von JOHN BERGER