Die Gegenkräfte
DAS allmähliche Näherrücken eines Termins für den Beitritt zur Europäischen Union hat, fast unmerklich und im Ausland kaum registriert, Bewegung in die türkische Zivilgesellschaft gebracht. Innerhalb der politischen Klasse, in den Medien und unter Intellektuellen entwickelt sich eine Diskussion, die den Graben erkennen lässt, der die „Republikaner“, die Anhänger des jetzigen staatlichen Systems, von den „Demokraten“ trennt, die dieses System von Grund auf erneuern wollen. Beide Lager berufen sich auf den „Kemalismus“, mit dem sie freilich sehr unterschiedliche Vorstellungen verbinden. Für die Republikaner handelt es sich um ein Dogma, das unerschütterlich auf die politische Macht der Armee setzt, für die Demokraten ist der Kemalismus dagegen eine historische Größe, aus der heraus sich ein System politischer Herrschaft nach westeuropäischem Muster herausbilden müsse.
Auf den ersten Blick sind die Kräfteverhältnisse eindeutig: Eindeutig tonangebend sind die „Republikaner“, sie stellen die herrschende Elite dar, sie wachen über die kemalistische Orthodoxie und damit zugleich über das Erbe einer jahrhundertealten kulturellen Tradition, die von den „Paschas“, also den Spitzen der Armee, hoch gehalten wird. Die „Demokraten“ sind vorsichtig und in sich uneins, und sie legen, teils bewusst, teils unfreiwillig, eine gewisse Zurückhaltung an den Tag.
Aber sie sind geduldet und können ihre Positionen in den Medien vertreten, wenngleich nur in homöopathischer Dosierung. Jede Zeitung, jeder Radiosender, jede Fernsehstation hält sich ein oder zwei Journalisten mit abweichender Meinung, die durch ihre Fähigkeiten oder ihren Bekanntheitsgrad geschützt sind, oder auch durch den Wunsch ihrer Chefs, eine gewisse „Objektivität“ zu demonstrieren. Einige von ihnen haben sich gemeinsam mit Universitätsangehörigen und Freiberuflern zu einer Gruppe formiert, die im Januar 2000 eine „Initiative für eine zivile Verfassung“ gestartet hat. Das bescheidene Ziel: In der ganzen Türkei eine Diskussion über die Notwendigkeit eines neuen Grundgesetzes zu initiieren, einer Verfassung, die nicht „von oben“ verordnet ist (wie die bisherigen Verfassungen der Republik, die allesamt von Militärregierungen diktiert wurden). In verschiedenen Regionen des Landes haben sich inzwischen Unterstützergruppen gegründet; die Internet-Seite der Gruppierung wurde innerhalb von drei Monaten rund 40 000 Mal angewählt.
IN anderen Bereichen der Zivilgesellschaft entstehen Initiativen, mit anderen Mitteln und anderer Motivation, für ähnliche Ziele. Die „Stiftung der Verfassung von 1961“ – getragen von den Initiatoren des Staatsstreichs von 1961, der die demokratischste aller türkischen Verfassungen hervorbrachte – bemüht sich über zahlreiche Tagungen, Veröffentlichungen und parlamentarische Petitionen, eine Liberalisierung der Verfassung von 1980 durchzusetzen. Trotz ihrer Spaltung in Konservative und Reformer hat auch der Verband der weltlichen Unternehmer Tusiad ein mutiges Demokratisierungsprogramm vorgelegt, das von der Europäischen Union anerkennend gewürdigt wurde.
Dass die Menschenrechtsorganisationen und die prokurdischen Publikationen für die Demokratie eintreten, versteht sich von selbst. Überraschender ist, dass zu den überzeugten Anhängern des EU-Beitritts auch islamisch geprägte Institutionen und Bewegungen gehören, weil sie sich davon die Sicherung jener bürgerlichen Freiheiten versprechen, die ihnen heute versagt werden. Unzählige islamisch orientierte Organisationen, so vor allem der Unternehmerverband Musiad und seine islamische Konkurrenzorganisation „Löwen von Anatolien“, aber auch die Muslimbruderschaften (die innerhalb der „weltlichen“ Parteien großen Einfluss besitzen), und die Fazilet-Partei, die drittstärkste Kraft im Parlament, führen einen stillen und komplizierten Kampf unter repressiven Bedingungen. Auf schwierigem Terrain stehen sich damit zwei deutlich unterschiedene Vorstellungen von Türkei gegenüber.
E. R.