Demokratie wagen
Von ALAIN GRESH
WÄHREND die beiden großen US-amerikanischen Parteien kürzlich auf ihren „Conventions“ die Präsidentschaftskandidaten nominierten – die Republikaner George W. Bush jr. und die Demokraten Albert Gore –, während also die üblichen Luftballons gen Himmel stiegen und die „Gattinnen“ präsentiert wurden, haben Wahlberechtigte im Bundesstaat Maryland ihre Stimmen zur Versteigerung angeboten. Warum sollten die Wähler, wenn schon ihre politischen Repräsentanten von den verschiedenen Lobbys „gekauft“ sind, nicht auch versuchen, sich ein Stück vom Kuchen zu sichern? Das US-Repräsentantenhaus hat unlängst in erster Lesung einen Gesetzentwurf verabschiedet, der für Privatvermögen von ein paar tausend Multimilliardären die Befreiung von der Erbschaftssteuer vorsieht. Die Entscheidung, die den Staat dreißig Milliarden Dollar kosten dürfte, verdeutlicht nach Ansicht eines amerikanischen Leitartiklers das „Gesetz der Macht: Wer das Geld hat, hat das Sagen“ (so Paul Krugman in der International Herald Tribune vom 15. Juni). In einem Land, in dem ein Viertel der Bevölkerung über 80 Prozent der Vermögen verfügt und die politischen Parteien weitgehend von dieser reichen Oberschicht finanziert werden, haben die Volksvertreter bereits ihre Wahl getroffen – gemäß der drastischen Formulierung von Léon Bloy: „Demokratie ist eine Frage des Kleingelds“.
In der mächtigsten Demokratie der Welt macht sich immer deutlicher eine Rückkehr zum Zensuswahlrecht bemerkbar. Dabei schien die Demokratie weltweit fast unmerklich auf den Sieg zuzusteuern: Zwischen 1974 und 1999 wurden in 113 Ländern autoritäre Regime durch ein Mehrparteiensystem abgelöst. Ein rätselhafter Widerspruch?
Solange sich die Sowjetunion und die Vereinigten Staaten feindlich gegenüberstanden, war eine sachliche Debatte nicht möglich, weil sich jeder für eines der Lager entscheiden musste: entweder für das der „bürgerlichen Freiheiten“ oder für das der „wirtschaftlichen und sozialen Rechte“. Doch mit dem Zerfall der Sowjetunion und dem tragischen Versagen des sozialistischen Experiments sind die Anhänger des zweiten Lagers verstummt.
Unbestritten ist heute, dass die bürgerlichen Freiheiten beim Aufbau von Gesellschaften eine wichtige Rolle spielen. In seinem jüngsten Buch „Ökonomie für den Menschen“ schreibt Nobelpreisträger Amartya Sen: „Nehmen wir einmal an, dass ein zentral gesteuertes System, in dem alle Entscheidungsträger in Produktion und Distribution direkt den Weisungen eines Alleinherrschers unterstellt sind, wirtschaftlich so erfolgreich ist wie ein marktwirtschaftliches System – würden wir dann den Erfolg eines solchen Systems begrüßen?“
Die USA haben ihren Sieg über den Kommunismus als Sieg ihres Demokratiemodells begriffen, das sich auf ein paar einfache Rezepte beschränkt. Was sie unter „Demokratie“ verstehen, zeigte vor kurzem eine Konferenz in Warschau, bei der unter der Schirmherrschaft Washingtons 107 „demokratische“ Staaten vertreten waren – darunter Ägypten, wo die Wahlen eine Farce sind, die Analphabetenrate hoch ist und Meinungs- und Versammlungsfreiheit nur auf dem Papier bestehen; außerdem Kuwait, wo die Frauen und Hunderttausende Bürger „zweiter Klasse“ nicht wählen dürfen. Im Übrigen: Wie demokratisch sind die Türkei, Aserbaidschan, Peru oder Kenia? Letztlich haben die „107 Demokratien“ nur eines gemeinsam: Washington sieht sie allesamt als „befreundete“ Nationen.
VON den anwesenden Staaten hat allein Frankreich die Abschlusserklärung nicht unterzeichnet. Der französische Außenminister Hubert Védrine erklärt dazu, es habe sich in den vergangenen zehn Jahren „eine Vorstellung von einer ,einheitlichen‘, überall sofort zu etablierenden Demokratie verfestigt, die nur zu oft an den Gegebenheiten und dem Entwicklungsstand der Gesellschaften scheitert. Gewisse Programme, Grundsatzerklärungen und Verlautbarungen sind so abgefasst, als ginge es künftig nur noch darum, alle Handlanger der Tyrannei auf einen Streich zur demokratischen Religion zu bekehren, und nicht mehr darum, gesellschaftliche Entwicklungsprozesse anzustoßen und zu konsolidieren. Wie können wir uns damit begnügen, überall für die Einführung der Demokratie allein auf politischer und rechtlicher Ebene einzutreten, während sich die Ungleichheiten so immens verschärfen, dass sie einer Zeitbombe gleichkommen?“
Es ist also an der Zeit, das Konzept der Demokratie zu überdenken, und zwar ohne die Scheuklappen des Kalten Krieges. Wollen wir uns mit mit einer nur halb bekleideten oder gar einer amputierten Demokratie abfinden? „Bis vor zehn Jahren“, heißt es im jüngsten Bericht des UN-Entwicklungsprogramms (UNDP), „verliefen die menschliche Entwicklung und die Entwicklung der Menschenrechte in Theorie und Praxis gewissermaßen parallel. (...) Heute jedoch konvergieren beide Bewegungen auf der Ebene des Denkens und des Handelns, während die Frage, was innerhalb beider Bereiche jeweils Vorrang haben soll, zunehmend strittiger wird.“
So kann einerseits die Armutsbekämpfung zur Stärkung der wirtschaftlichen und zivilen Rechte führen. Andererseits kann die Gewährung von Freiheiten den Armen die Möglichkeit bieten, sich zu organisieren, für ihre Rechte zu kämpfen und die Entscheidungsträger zur Rechenschaft zu ziehen. Die Verhaftung eines Gewerkschafters oder die Schließung einer Zeitung sind zwar inakzeptabel, aber Armut und Analphabetismus reduzieren eine Demokratie zur Fassade und sind der ideale Nährboden für Diktaturen. Das UNDP fragt sich daher, „warum die Folterung einer einzigen Person zu heftigen Protesten führt, während man keine Notiz davon nimmt, dass täglich mehr als 30 000 Kinder an vermeidbaren Krankheiten sterben“.
Demokratie ist eine nie enden wollende Herausforderung, ein Weg voller Fallgruben – wobei die Macht der Einzelinteressen und die Korrumpierung durch Geld sicher die größten Gefahren darstellen. Dass die meisten Alleinherrscher an Einfluss verloren haben, ist gewiss ein Schritt in die richtige Richtung, aber es ist weder das Ende des Weges noch das Ende der Geschichte.