13.10.2000

Divergierende Interessen des Mercosur

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Divergierende Interessen des Mercosur

IM Juli 2000 hat Brasilien seinen Vertrag mit Argentinien über die Automobilindustrie außer Kraft gesetzt. Mit diesem Schritt protestierte Brasília gegen eine Anordnung des argentinischen Staatspräsidenten Fernando de la Rúa, die erlassen wurde, um argentinische Unternehmen zu schützen, die Einzelteile für in Argentinien hergestellte Autos produzieren. Seit de la Rúas Wahlsieg im Dezember 1999 fordern einflussreiche Vertreter der Industrie mehr Entschlossenheit in den Verhandlungen mit Brasilien sowie eine Besteuerung der privatisierten, von multinationalen Konzernen aufgekauften ehemaligen Staatsbetriebe. Der Vizepräsident der argentinischen Industrievereinigung fordert „eine deutliche Kursänderung in der Wirtschaftspolitik“, die der Entnationalisierungspolitik des ehemaligen Präsidenten Carlos Menem ein Ende setzen soll.

Zum ersten Mal seit Jahren stehen die ortsansässigen Unternehmer und die kleinen und mittleren Betriebe mit den Banken und Exportfirmen in Konflikt und fordern einen stärkeren Eingriff des Staates in die Wirtschaftspolitik sowie Schutzzölle und eine Senkung der Leitzinsen. Der Konflikt zwischen dem Finanzsektor, den privatisierten Staatsunternehmen – die sich heute im Besitz ausländischen Kapitals befinden –, sowie den Großgrundbesitzern auf der einen und den ortsansässigen Industriellen sowie dem kleinen und mittelständischen Handel auf der anderen Seite spitzt sich zu.

Die argentinische Regierung gibt zwar vor, „den Mercosur reaktivieren, gleichzeitig aber die nationale Industrie und Produktion schützen“ zu wollen (El País, 13. August 2000). In Wirklichkeit aber wollen der Wirtschaftsminister J. L. Machinea und der Staatssekretär der Finanzen – beide pflegen enge Beziehungen zum US-amerikanischen Finanzkapital – die Konvertibilität von Peso und Dollar erhalten. Der Weg für die großen US-Unternehmen in den Festnetz-Telefonmarkt ist bereits im Juni 2000 anlässlich der Reise von Präsident de la Rúa nach Washington geebnet worden.

Brasilien handelt seinen eigenen Interessen gemäß. Zwar spricht Fernando Henrique Cardoso vom Mercosur als „einer zweiten Natur“ Brasiliens, aber bezeichnenderweise wurde die Abwertung des Real von 1999, die die derzeitige Krise ausgelöst hat, nicht mit den Partnerländern abgesprochen. Der Mercosur ermöglicht es den Brasilianern, aus einer Position der Stärke mit den USA zu verhandeln und Zeit zu gewinnen. Für Brasilien sind die Risiken zu groß, die eine übereilte Einrichtung der gesamtamerikanischen Freihandelszone FTAA mit sich brächte. Gewisse Unternehmerkreise halten eine derartige Öffnung sogar für gefährlich: „Die FTAA würde eine weitergehende Liberalisierung bedeuten. Dabei hat schon die Liberalisierung im Rahmen der Welthandelsorganisation und in der Subregion den Interessen der Mercosur-Unternehmen geschadet“ (El País, 20. August 2000).

Auch der brasilianische Ökonom Roberto Macedo, ehemaliger Vorsitzender der nationalen Elektronikproduzentenvereinigung Eletros, warnt angesichts der sehr viel höheren Wettbewerbsfähigkeit der USA nicht nur in der Industrie, sondern auch in der Landwirtschaft vor übereilten Schritten. „Unsere Industrie würde von der US-Industrie hinweggefegt“, prophezeit er und nennt konkret die Automobilbranche, die Elektronik und die Agrarindustrie. Seiner Ansicht nach „wäre ein Fehler in Bezug auf die Vereinigten Staaten fatal“, während die Wirtschaftsbeziehungen mit der Europäischen Union weniger riskant sind, da „manche unserer industriellen Produkte billiger sind als die der EU“.

Der uruguayische Präsident Jorge Battle vertritt die entgegengesetzte Ansicht. Er hält eine Annäherung an den nordamerikanischen Freihandelssektor Nafta für den einzigen Ausweg, Bemühungen in Richtung eines Handelsvertrags mit Europa betrachtet er als zwecklos. „Wir brauchen von Europa nichts zu erwarten. Wir müssen uns in den großen Markt eingliedern, der von den USA, Kanada und Mexiko gebildet wird, denn nirgendwo auf der Welt gibt es sicherere Rahmenbedingungen.“

EBENFALLS im Zentrum der Debatte steht die Frage der Währung. Soll man dollarisieren oder eine gemeinsame Währung einführen? Aber welche? Den Peso oder den Real? Eine Dollarisierung würde das Ende des Mercosur bedeuten und der FTAA-Freihandelszone den Weg frei machen. Die brasilianische Regierung, die gegen eine Dollarisierung ist, hat aber noch keine Initiativen diesbezüglich erkennen lassen. Die Debatte zieht größere Kreise, allerdings sind Geschäftswelt und lateinamerikanische „Eliten“ gespalten. In Ecuador hat die Dollarisierung bereits stattgefunden, der Sucre – so hieß die nationale Währung – ist am 9. September vom Markt genommen worden.

Am 1. September haben die zwölf in Rio de Janeiro versammelten Regierungsvertreter über die Zukunft des Mercosur und die Frage der Währung debattiert. Der Chef der brasilianischen Zentralbank denkt mittlerweile laut über die bevorstehende Konvertibilität des Real nach, der sich als gemeinsame Währung im Mercosur durchsetzen würde. Werden der Einstieg Chiles in den gemeinsamen Markt, der im Dezember 2000 vollzogen sein wird, und die Erklärungen des chilenischen Präsidenten Ricardo Lagos über die strategische Allianz des südlichen Zipfels des Kontinents (ABC: Argentinien, Brasilien und Chile) eine Annäherung der Positionen ermöglichen? Und im Sinne welches Entwicklungsmodells?

J. H.

Le Monde diplomatique vom 13.10.2000, von J. H.