Algerien – das Geld fragmentiert die Gesellschaft
Von LAKHDAR BENCHIBA und AKRAM B. ELLYAS *
FÜR fast acht Millionen algerischer Schüler waren am 16. September 2000 die Sommerferien zu Ende. An diesem Tag war aber auch exakt ein Jahr vergangen, seit Präsident Abdelaziz Bouteflika versucht hat, seine Legitimität durch eine Volksabstimmung über die nationale Versöhnung zu untermauern.
Kurz vor dem Beginn des neuen Schuljahrs entschloss sich das Kabinett zu einer spendablen Geste: Es bewilligte den als besonders bedürftig geltenden Schülern eine kleine Beihilfe in Höhe von 2200 Dinar, was den Staatshaushalt mit der Summe von 4,4 Milliarden Dinar (147 Millionen Mark) belastet. Das Geld soll an Waisen gezahlt werden, an Kinder aus Familien, deren Mitglieder dem Terrorismus zum Opfer gefallen sind, deren Eltern keine Arbeit haben oder nur ein Monatseinkommen von weniger als 8000 Dinar (etwa 270 Mark). Dass 2,2 Millionen Kinder, etwa ein Viertel aller Schüler, unter diese Kriterien fallen, lässt das Ausmaß einer Verelendung erahnen, die auch durch die traditionelle Scham, die eigene Armut zu zeigen, nicht mehr kaschiert wird.
„Man fühlt sich wieder wie in den Zeiten unmittelbar nach der Unabhängigkeit“, empört sich ein altgedienter Funktionär im staatlichen Bildungswesen. „Es ist einfach schrecklich, was sich in den Schulen abspielt. Wenn die Eltern nicht einmal das Geld haben, um ihren Kindern Bleistifte zu kaufen, so ist das der lebende Beweis für das Versagen des Systems und für die politische Stagnation, die wir seit zehn Jahren erleben.“
Vor allem auf dem Lande sind viele Familien nicht mehr bereit, ihre Kinder in die Schule zu schicken. Manche beschließen, die Mädchen aus der Schule zu nehmen, damit wenigstens die Jungen weiter lernen können. Tatsächlich bedeutet der Beginn des Schuljahrs selbst für Familien mit einem „durchschnittlichen“ Einkommen von etwa 10 000 Dinar (knapp 350 Mark) eine schwere Belastung. „Obwohl wir überhaupt keine schicken Sachen kaufen, kostet mich jedes meiner drei Kinder zwischen drei- und viertausend Dinar“ erklärt Ali, der an einer Mittelschule (CEM) in Algier unterrichtet. „Dafür geht das ganze Gehalt drauf.“ Den Hinweis, er gehöre doch zur Mittelschicht, kann er nur mit einem Lächeln quittieren: „Daran lässt sich eben sehen, dass es sich hier um eine sehr arme Mittelschicht handelt.“
Souheyla ist geschieden und arbeitet als Sekretärin. „Das ist wie in meiner Kindheit“, meint sie, „als die jüngeren Kinder immer die Sachen der älteren auftragen mussten. Ein Schulheft kostet heute so viel wie ein Liter Milch.“ Die Schulkosten ihrer Kinder haben ihr ganzes Septembergehalt aufgezehrt. „Ich musste um einen Gehaltsvorschuss bitten. Bei uns im Büro haben das alle gemacht.“
Die vielen Menschen, die unterhalb der Armutsgrenze leben, haben die Hilfen des Staates, der zum Beispiel die Schulkleidung stellt, bitter nötig. Aber das ist nur ein Teil des Problems. Obwohl die steigenden Rohölpreise dem Staat zusätzliche Einnahmen verschafft haben, weiß der algerische Bildungsminister Abubakr Benbouzid nicht, wo er das Geld hernehmen soll, um ausreichend neue Lehrer einzustellen – in den Zeitungen wird der Bedarf auf 21 000 bis 27 000 Stellen geschätzt.
„Die Haushaltsmittel sind knapp“, erklärt der Minister. „Ich verfüge nur über das Geld, das meinem Budget zugewiesen wurde.“ Und er muss zugeben, dass „in einigen Regionen der Unterricht nicht beginnen kann, wenn nicht sofort die Mittel für 4000 Planstellen freigegeben werden.“ Tatsächlich blieben in der Gegend von Boumerdès eine Reihe von Mittelschulen geschlossen, weil es an Lehrern fehlte.
Damit ist nun genau jener gesellschaftliche Bereich in eine tiefe Krise geschliddert, auf den sich seit 1962, also seit der Unabhängigkeit Algeriens, die größten Hoffnungen gerichtet haben. Bildung für alle, eines der wichtigsten Ziele der nationalen Bewegung, scheint heute nicht mehr realisierbar zu sein, weil es vor allem an Geld, aber auch am politischen Willen fehlt.
„Hier geht es um die Schulhefte“, betont der Leitartikler einer Tageszeitung, „aber andererseits eben auch um die Waffen.“ Es hat durchaus symbolischen Charakter, dass für das Jahr 2000 ein Haushalt beschlossen wurde, der Rüstungsausgaben vorsieht, die zum ersten Mal seit 1962 etwas höher liegen als der Bildungsetat.
Damit stellt sich auch zum ersten Mal prinzipiell die Frage, ob die Politik der gleichen Bildungschancen für alle Algerier noch fortgeführt werden kann. In der Praxis ist die entscheidende Frage die der finanziellen Ausstattung. Obwohl ihr rechtlicher Status noch nicht geklärt ist, werden immer neue Privatschulen eröffnet, denen vor allem leitende Funktionäre und Akademiker ihre Kinder in der Hoffnung anvertrauen, dass sie dort eine bessere Schulbildung erhalten.
Eine solche Schule leitet die Pädagogin Malika Greffou, die Ende der Achtzigerjahre durch eine Streitschrift über das Schulwesen bekannt wurde. Die Schüler, die ihr Bildungsinstitut besuchen, „kommen aus den Intellektuellenfamilien. Sogar unsere Lehrer, durchweg Akademiker, schicken ihre Kinder hierher. Die Familien zahlen 4000 Dinar im Monat, aber demnächst wird es 5000 Dinar kosten.“
Für die große Mehrheit der Algerier sind solche Ausbildungskosten völlig unerschwinglich. Sie sind auf die staatlichen Schulen angewiesen, an denen Malika Greffou in einem Interview mit der arabischsprachigen Zeitung Al-Bilad heftige Kritik geübt hat: „Hier hat man Leuten die Lehrbefugnis erteilt, die dafür keine Qualifikationen haben. Aus den algerischen Schulen gehen junge Menschen hervor, die keine Hoffnung und keine Persönlichkeit besitzen – Jugendliche voller Minderwertigkeitsgefühle, die weder Arabisch noch Französisch richtig beherrschen und den Koran nicht kennen ...“
Über die Notwendigkeit, den Ausbildungssektor zu reformieren, sind sich im Grundsatz alle einig. Doch wie das geschehen soll, darüber gehen die Meinungen stark auseinander. Bei den Entscheidungsträgern sind vor allem ideologisch geprägte Haltungen anzutreffen. Deshalb sorgte auch die Zusammensetzung der Kommission für die Reform des Bildungswesens, die im Mai 2000 von Präsident Bouteflika einberufen wurde, sogleich wieder dafür, dass wieder vornehmlich über die einschlägige Konfrontation zwischen „laizistischen Modernisten“ und „islamischen Konservativen“ diskutiert wurde. Wobei sich allerdings die konservative Kräfte innerhalb der Nationalen Befreiungsfront (FLN) mit den Islamisten darin einig waren, dass man die „westlichen“ Einflüsse zurückdrängen müsse.
Ein Funktionär, der früher einmal im Bereich der Erziehung politische Verantwortung trug, findet diese ideologischen Einstellungen empörend: „Abdallah Djaballah zum Beispiel [der Vorsitzende der Bewegung für nationale Reform, einer zugelassenen islamistischen Partei] stammt aus einer Bauernfamilie. Und nun tut er so, als wüsste er nicht, dass immer weniger Bauernkinder in die Schule gehen. Dafür zu sorgen, dass jeder Zugang zu einer Bildungseinrichtung hat, muss das vorrangige Ziel sein. Ob es sich dabei um weltliche Einrichtungen handelt oder nicht, ist nicht so wichtig. Das sind Scheindebatten, die nur dazu dienen sollen, bestimmte Politiker aufzuwerten, die eigentlich gar nichts mehr zu sagen haben.“
In diesem Zusammenhang geht es auch um die Zukunft des in arabischer Sprache unterrichtenden Lehrpersonals. Diese Lehrer sind meist schlecht ausgebildet und wenig kompetent in ihrem Fach – sie stellen sich also gegen Reformen, weil ihnen die Entlassung drohen könnte.
Im Übrigen sind den meisten Algeriern ihre anderen Alltagssorgen viel wichtiger, als da sind: die hohen Lebenshaltungskosten, das Problem, eine Wohnung zu finden, die medizinische Versorgung und – nicht zu vergessen – die Angst um Leib und Leben.
Ein Jahr nach der Volksabstimmung kosten die Anschläge der bewaffneten Gruppen in den ländlichen Gebieten noch immer Menschenleben. Obwohl in den Städten das Leben wieder seinen normalen Gang geht, wurde das Notstandsrecht nicht außer Kraft gesetzt – was darauf hinweist, dass eine grundsätzliche Regelung des Bürgerkriegskonflikts nach wie vor aussteht. Seit Oktober 1997 ist die Frage ungeklärt, ob die Islamische Armee des Heils (AIS) wirklich zerschlagen ist. Gelegentlich erreicht die Zahl der Gewalttaten allerdings ein Ausmaß, das an die schlimmen Jahre 1993 und 1994 erinnert. „In den Städten sieht alles ganz friedlich aus. Aber rund um die Dörfer gibt es nach wie vor Tote, findet man Menschen mit durchschnittenen Kehlen.“
Lakhdar, ein Landwirt aus der Gegend von Reghaia, macht aus seinen Sorgen keinerlei Geheimnis. „Man redet nicht davon, aber ich habe den Eindruck, dass sich nichts geändert hat. Na ja, vielleicht doch – denn inzwischen machen sich die Mörder gar nicht mehr die Mühe, ihre Taten irgendwie politisch und religiös zu verbrämen. Es sind einfach nur noch Banditen.“
„Die gegenwärtige Lage ist irgendwie unbestimmt“, meint ein Hochschullehrer, der bereits beschlossen hat, das Land zu verlassen. „Wir befinden uns nicht mehr richtig im Krieg, aber auch die Nachkriegsphase haben wir noch nicht erreicht. Der nationale Versöhnungspakt von Präsident Bouteflika wird als Notlösung akzeptiert, aber die algerische Gesellschaft hat sich auf das, was geschehen ist, keinen Reim machen können. Wie es weitergehen soll, weiß man erst recht nicht. Und unsere Politiker, die nur mit sich selbst beschäftigt sind, werden uns den Weg bestimmt auch nicht weisen.“
Vor allem die jungen Algerier beschäftigt die Frage, wie man es schafft, ins Ausland zu kommen. In den Internetcafés, die in den letzten beiden Jahren vielerorts entstanden sind, widmen sich die Jugendlichen den Chats. Sie machen keinen Hehl daraus, dass das chatten vor allem dem Zweck dient, einen Internet-Gesprächspartner zu finden, der ihnen die begehrte Einladung oder Aufenthaltsbürgschaft schickt – nur so kann man sich ein Visum verschaffen.
Die diplomatischen Vertretungen des Auslands, allen voran das französische Konsulat, haben im Übrigen längst begriffen, wohin der Trend geht. Es gibt neue, noch strengere Maßstäbe für die Erteilung eines Visums an Ausreisewillige – lediglich für Informatiker, die derzeit in den westlichen Ländern dringend gesucht werden, stehen die Zeichen günstig. Alle übrigen, ob Ökonomen, Bankfachleute oder Hochschullehrer, müssen sich von Neuem langwierigen und aufwendigen Formalitäten unterziehen.
Deshalb setzen etliche Menschen, die auf keine besonderen intellektuellen Qualifikationen verweisen können, ihre ganze Hoffnung auf die harragua, den „eleganten“ Abgang – zum Beispiel als blinder Passagier im Frachtraum eines Handelsschiffes. Gleichwohl sind die zuständigen Behörden in den europäischen Ländern der einhelligen Ansicht, von einem Ausbluten der arbeitsfähigen Bevölkerung, das Tunesien oder Marokko seit einiger Zeit erleben, könne im Falle Algerien nicht die Rede sein.
Wer zurückbleibt, versucht sich irgendwie durchzuschlagen. Auf den städtischen Mülldeponien wie Oued Smar in Algier oder Al-Kerma in Oran sieht man inzwischen immer mehr „Abfallsammler“ am Werke. Sie sind ein Indiz dafür, dass es in einem Land, das über 30 Prozent seiner Erwerbsbevölkerung keine Arbeit bieten kann, zunehmend ums nackte Überleben geht.
Das Land gehört nur noch den Reichen
DASS die Jugend mit ihrem Leben nicht zufrieden ist, zeigt sich an den unterschiedlichsten Phänomenen. Nach wie vor sind die Moscheen gut besucht, aber die Massen strömen auch in die Stadien und zu den Musikveranstaltungen, wo man sich wenigstens hemmungslos austoben kann. Ein beunruhigendes Symptom, das für eine muslimisch geprägte Gesellschaft ganz ungewöhnlich ist, stellt die wachsende Zahl der Selbstmorde dar, die bei Jugendlichen wie bei alten Menschen zu verzeichnen sind. Einschlägige Statistiken gibt es zwar nicht, aber die Häufung von Presseberichten über solche Selbstmordfälle spricht eine eindeutige Sprache.
Noch gravierender für eine Gesellschaft, die ohnehin schwer an den Folgen eines jahrelangen Bruderkriegs zu tragen hat, ist eine andere Erscheinung: die unübersehbare Herausbildung einer „Gesellschaft der zwei Geschwindigkeiten“ – die allerdings auf der politischen Ebene noch keinen Ausdruck gefunden hat. Auf dieser Ebene dominieren die neu gruppierten politischen Parteien, deren buntes Spektrum von den Islamisten des Mouvement de la Société pour la Paix (MSP) und der An-Nahda bis zu den laizistischen Gruppierungen des Rassemblement pour la Culture et la Démocratie (RCD) reicht. Wobei allerdings die meisten algerischen Bürger für die politischen Ränkespiele dieser Gruppen und Cliquen keinerlei Interesse aufbringen.
Während somit das politische Leben durch die Einbindung von Oppositionskräften in die Regierung erstarrt ist, erweist sich die soziale Frage zunehmend als eine Zeitbombe, die in jedem Moment zur Explosion kommen kann. In zahlreichen Gemeinden kam es in diesem Sommer aus Anlass der umstrittenen Vergabe von öffentlich geförderten Sozialwohnungen zu kleinen Volksaufständen. Weil der Verdacht aufkam, dass die mehrheitlich dem Rassemblement pour la démocratie (RND) angehörenden Bürgermeister ihre eigene Klientel begünstigten, wurden die Vergabelisten regelmäßig von Bürgern angefochten, die keine politischen Druckmittel oder Beziehungen im Rahmen von Parteien und Verbänden hatten. In Sidi-Abbès, im Osten Algeriens, führte der angestaute Unmut am 24. Juli zum Aufruhr, nachdem die Behörden die Liste der 1500 erfolgreichen Bewerber ausgehängt hatten, die aus über 10 000 Antragstellern ausgewählt worden waren. Ein wenig erinnerte das Ganze an die Unruhen vom Oktober 1988, als es Angriffe auf das Bürgermeisteramt, die Polizeistation und sogar auf die Amtsräume des Wali (des Regierungspräsidenten) gegeben hatte.
„Die allgemeine Stimmung? Na ja, die Leute sind der Ansicht, wenn man jetzt keine Wohnung bekommt, dann wird nie mehr was daraus. Das Land gehört nur noch den Reichen.“ Dieser Ausspruch eines unzufriedenen Bürgers ist leider nur zu wahr. Allein um den aktuellen Wohnraumbedarf abzudecken, müssten fast zwei Millionen neue Wohnungen gebaut werden. Zugleich stehen allerdings knapp 60 000 staatlich geförderte Wohnungen leer, weil die Kaufpreise, die für sie verlangt werden, fast schon an die Preise auf dem freien Markt herankommen, die für die meisten Interessenten natürlich nicht bezahlbar sind. Um sich nicht in eine unmögliche Situation zu bringen, haben die Delegierten des Front des Forces Socialistes (FFS), die in den Gemeinderäten der Region Tizi-Ouzou die Mehrheit stellen, daher kurzerhand erklärt, dass sie es nicht mehr verantworten könnten, über die Vergabe von Sozialwohnungen zu entscheiden.
Der Volkszorn nahm solche Ausmaße an, dass sich Präsident Bouteflika gezwungen sah, die Gemeinderatsmitglieder öffentlich zur Ordnung zu rufen. Tatsächlich stehen die Mitglieder dieser kommunalen Volksversammlungen, in denen der RND nach wie vor über die Mehrheit verfügt, nach allgemeiner Ansicht unter dem Einfluss lokaler Interessengruppen, deren Geschäft darin besteht, mit Baugrundstücken und Sozialwohnungen zu spekulieren. Dass man sich gegen diese Mafia und eine Verwaltung, die selbst der Präsident als „korrupt“ bezeichnet hat, im Grunde nicht wirksam zur Wehr setzen kann, hat zusätzlichen sozialen Zündstoff geschaffen. „Es ist immer dasselbe“, meint ein frustrierter Bürger. „Für jedes offizielle Schriftstück braucht man Beziehungen. So als ob jeder, der nur ein bisschen Macht hat, von der Annahme ausgeht, dass hier demnächst alles zusammenbricht und dass man sich deshalb mit allen Mitteln, also auch durch Ausbeutung aller möglichen Pfründen, bereichern muss.“
In einer Zeit, da der Beginn des neuen Schuljahres für viele bereits ein Geldproblem bedeutet und sich in manchen ländlichen Gebieten erneut Infektionskrankheiten ausbreiten, gibt es zugleich jenes andere Algerien, in dem der Reichtum schamlos zur Schau gestellt wird. Die Bühne, auf der sich die „alten“ und „neuen“ Reichen bewegen, sind die großen Hotels. So ist heute zum Beispiel das Hilton wieder ganz in der Hand der zwielichtigen Geschäftemacher. In den goldenen Tempeln der Geschäftswelt werden Verträge geschlossen und Heiraten vereinbart. Die Banken und die privaten Fluggesellschaften machen fette Gewinne, rund um Algier und an der Straße nach Ain-Allah haben zahlreiche Feinschmeckerrestaurants eröffnet. In Algier gibt es inzwischen Niederlassungen sämtlicher Automarken der Luxusklasse, und in den privaten Palästen der hochgestellten Persönlichkeiten trifft man heute wieder auf eine Dienerschaft aus Mali in weißen Uniformen.
Mitten in der Wirtschaftskrise sind die äußeren Zeichen des Reichtums also deutlicher zu sehen als je zuvor. In einem Land, das vom Import regiert wird, kommt es kaum überraschend, wenn man aus dem Munde des Handelsministers Mourad Medelci erfährt, dass auf eine algerische Exportfirma an die 40 000 Importfirmen kommen. Die entscheidenden Geschäfte gehen dabei auf dem grauen Markt vonstatten, und die Zahlenangaben über hinterzogene Steuern, die man aus nicht offiziellen Quellen hört, sind geradezu Schwindel erregend.
Unklar bleibt, wie es mit den Staatsbetrieben weitergehen soll. Sie werden entweder auf jede erdenkliche Weise ausgeplündert, oder sie werden zum Ziel von Bombenanschlägen, wie kürzlich die staatliche Firma für Haushaltselektrogeräte (Eniem) in Tizi-Ouzou. In der Presse hieß es, die „Mafia“ stecke hinter dem Anschlag, andere Beobachter verbuchten ihn eher auf das Konto der bewaffneten islamistischen Gruppen. Präsident Bouteflika ging sogar so weit, in einem Interview mit der BBC zu erklären, es handele sich „um einen Konflikt zwischen Herstellern und Importeuren im Rahmen der Marktwirtschaft. Wenn etwas produziert wird, ist das von Nachteil für den Importeur.“
Solch fieberhaftes Geschäftemachen steht im bizarren Kontrast zur Verarmung, die große Teile der Bevölkerung erleiden. Zur gleichen Zeit spielt auf der politischen Ebene erneut ein erbitterter Kampf um die Aufteilung der Macht, in dem Staatspräsident Bouteflika seinen Einfluss gegen die anderen Entscheidungszentren verteidigen muss. Ende August ist Ministerpräsident Ahmed Benbitour zurückgetreten und hat Bouteflika des Verfassungsbruchs beschuldigt.
Offiziell herrscht in Algerien nunmehr Frieden, aber das Land hat den Kriegszustand nicht völlig überwunden. Angesichts der Diskreditierung der Parteien und des tiefen Misstrauens zwischen der Bevölkerung und dem Staat könnte die soziale Krise sich noch weiter verschärfen. „Dass Schreckliche an dieser Krise ist, dass es unter uns keine Solidarität mehr gibt“, mahnt ein pensionierter hochrangiger Offizier. „Manche reichen Algerier haben keine Skrupel, über Leichen zu gehen und auch noch demonstrativ damit zu protzen. Man soll sich nicht wundern, wenn das Land eines Tages wieder in Flammen aufgeht.“
dt. Edgar Peinelt
* Journalisten in Algier bzw. Paris.